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Cassel
Deutsche Vierteljahrsschrift für
öffentliche Gesundheitspflege
Carl Heinrich Reclam, Georg Varrentrapp,
Alexander Spiess, Moritz Pistor, Emanuel Roth, ...
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Li 0.5
(o 4
Deutsche Vierteljahrsschrift
für
öffentliche Gesundheitspflege
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Deutsche Vierteljahrsschrift
für
öffentliche Gesundheitspflege
• •
Organ
des
„Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege“
Herausgegeben von
Oberbürgermeister Dr. F. Adickes (Frankfurt a. M.), Oberbürger¬
meister P. Fass (Kiel), Geh. Medizinalrat Professor Dr. G. Gaffky
(Gießen), Hofrat Professor Dr. Max Gräber (München), Geh. Ober-
Medizinalrat Dr. M. Pistor (Berlin), Medizinalrat Dr. J. J. Reineke
(Hamburg), Regierungs- und Geh. Medizinalrat Dr. Roth (Potsdam),
Ober- und Geh. Baurat Dr. J. Stfibben (Berlin), Regierungs- und
Geh. Medizinalrat Dr. R. Wehmer (Berlin)
Redigiert
von
Dr. A. Spiess und Dr. M. Pistor
Frankfurt a. M. (f 31. Jan. 1904) Berlin
Sechsunddrfcifsigster Band
Braunschweig
Druck und Verlag yon Friedrich Vieweg und Sohn
1904
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Alle Rechte, namentlich dasjenige der Übersetzung in fremde Sprachen,
Vorbehalten
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Inhalt des seohsunddreißigsten Bandes.
Erstes Heft.
Alexander Spless +. Nachruf.I — IV
Bericht des Ausschusses über die Achtundzwanzigste Versammlung des
„llentscheii Vereins für Öffentliche Gesundheitspflege 44 zu Dresden
am 16. t 17. und 18. September 1903. . 1
Erste Sitzung.
Eröffnung der Versammlung, Rechenschaftsbericht. 2
Nr. I. Nach welcher Rieh tung bedürfen unsere derzeitigen
Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose
der Ergänzung?. 11
Schlußsätze des Referenten Geheimen Medizinalrat Pro¬
fessor Dr. Gaffky (Gießen). 11
Referat von Geh. Medizinalrat Professor Dr. Gaffky . 12
Diskussion. 26
Nr. II. Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und
Scbank8tätten. 41
Leitsätze des Referenten Regierungs- und Medizinalrat
Dr. Bornträger (Düsseldorf). 41
Referat von Regierungs- und Medizinalrat Dr. Born-
träger. 41
Diskussion. 88
Zweite Sitzung.
Nr. III. Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs
mit Milch. 91
Leitsätze des Referenten Professor Dr. Dun bar (Ham¬
burg) . 91
Referat von Professor Dr. Dunbar. 92
Diskussion.113
Nr. IV. Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.132
Leitsätze des Referenten Geheimen Regierungsrat Dr.
Ohlmüller (Berlin).132
Referat von Geheimem Regierungsrat Dr. Ohlmüller 132
Diskussion.148
Dritte Sitzung.
Neuwahl des Ausschusses.151
NV. V. Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege .152
Leitsätze der Referenten Geheimen Regierungsrat Dr.
Rumpelt (Dresden) und Geh. Banrat Stübben
(Köln).152
Referat von Geh. Regierungsrat Dr. Rumpelt . . 156
Korreferat von Geh. Baurat Stübben.172
Diskussion.191
Schluß der Versammlung. ...211
383367
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VI
Inhalt des sechsunddreißigsten Bandes.
Beite
Kritiken und Besprechungen:
Das Gesundheitswesen des Preußischen Staates im Jahre 1901. (E. Pfeiffer,
Hamburg).216
Dr. med. A. Grotjahn und Dr. phil. F. Kriegei: Jahresbericht über
die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der sozialen Hy¬
giene und Demographie. (Altschul, Prag).216
Prof. Dr. Max Rubner: Lehrbuch der Hygiene. (F. A.).217
Prof. Dr. Ludwig Heim: Lehrbuch der Hygiene. (F. A.).218
Prof. Dr. II. Büchner: Acht Vorträge aus der Gesundheitslehre. (A. S.) 218
Hafenarzt Dr. Nocht: Der Dienst des Hafenarztes in Hamburg.
(F. Reiche, Hamburg)..219
Sanitätsrat Dr. G. Herzfeld: Handbuch der bahnärztlichen Praxis.
(Stich, Nürnberg).220
Dr. R. Wehmer: Enzyklopädisches Handbuch der Schulhygiene.
(Arthur Hartmann, Berlin).221
Paul Johannes Müller: Das Schulzimmer. (Altschal, Prag) . . . 222
Dr. Paul Ritter: Zahn- und Mundhygiene im Dienste der öffentlichen
Gesundheitspflege. (Roth, Potsdam).222
Dr. med. Sohwarz: Bau, Einrichtung und Betrieb öffentlicher Schlacht-
und Viehhöfe. (Landsberger, Charlottenburg).223
Professor Dr. Otto Busse: Das Obduktionsprotokoll. (F. Straßman n,
Berlin).224
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege (100. Ver¬
zeichnis) . . . 225
Zweites Heft.
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung. Von Th. Oehmcke (Groß-
Lichterfelde)..237
Schwefelwasserstoff. Seine Gefahren für Sielarbeiter. Von Dr. E. Pfeiffer
(Hamburg)...306
Hygiene und volkswirtschaftliche Bedeutung des Fleisches. Von Dr. med.
S. Oberndorfer (München).311
Das staatliche Aufsichtsrecht bei zentralen Wasserversorgungsanlagen. Von
Regierungsrat Krenzlin (Arnsberg).362
Kritiken und Besprechungen.
Prof. C. O. Jensen (Kopenhagen): Grundriß der Milchkunde und Milch¬
hygiene. (von Oh len, Hamburg).386
Leo Burgerstein (Wien): a) Gesundheitsregeln für Schüler und
Schülerinnen; b) Zur häuslichen Gesundheitspflege der Schuljugend.
(Altschul, Prag).387
Johannes Berninger: Ziele und Aufgaben der modernen Schul- und
Volkshygiene. (Altschul, Prag).389
Prof. Dr. Pannwitz: Zur Tuberkulosebekämpfung 1903. (Lands¬
berger, Charlottenburg).391
Dr. R. Doll: Die häusliche Pflege bei ansteckenden Krankheiten, ins¬
besondere bei ansteckenden Kinderkrankheiten. (Landsberger,
Charlottenburg).391
Geh. Reg.-Rat R. Hartmaun, Professor und Senats Vorsitzender im Reichs¬
versicherungsamt: Unfallversicherung für Industrie und Landwirt¬
schaft. (Landsberger, Charlottenburg).392
Dr. Gustav Wolzendorff: Gesundheitspflege und Medizin der Bibel.
(Christus als Arzt.) (Landsberger, Charlottenburg).392
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Inhalt des sechsunddreißigsten Bandes,
VII
Seite
Pinkenburg, G.: Der Lärm in den Städten und seine Verhinderung.
Leymann, H.: Die Verunreinigung der Luft durch gewerbliche
Betriebe. Tschorn, Os.: Die Rauchplage. (E. Roth, Potsdam) . 392
Prof. Dr. K. B. Lehmann und Dr. R. 0. Neu mann: Bakteriologische
Diagnostik. (W. Ko Ile, Berlin).395
Neu erschienene Schriften über öffentl. Gesundheitspflege. (101. Verzeichnis) 396
Drittes Heft. »
Womit sind die ansteckenden Geschlechtskrankheiten als Volksseuche im
Deutschen Reiche wirksam zu bekämpfen? Von Dr. Kühn (Hoyaa. W.) 405
Der Schulunterricht jn der allgemeinen Naturkunde als Grundlage zur Er¬
lernung sachkundiger Gesundheits- und Krankenpflege. Von Dr. Oscar
Schwartz (Köln a. Rh.).435
Die neueren Erfahrungen über die Entstehung von Abdom in altyphus in der
Armee und in der Zivilbevölkerung sowohl infolge von Verunreinigung
von Trinkwasser, als infolge von Ansteckung vom sanitätspolizeilichen
Standpunkte aus. Von Dr. Albert Deutsch (Halle a. S.).439
Die Wohnung in ihrer Beziehung zur Tuberkulose. Von Dr. Julian Mar-
cuse (Mannheim).493
Die Milch Versorgung unserer Großstädte unter Anlehnung an die Hamburger
Milchausstellung 1903. Von Dr. Pro 11s (Scheeßel).508
Gesundheitsstörungen durch Geräusche und ihre sanitatspolizeiliche Be¬
handlung. Von Dr. med. W. Hanauer (Frankfurt a. M.).535
Über Caissonkrankheiten und Caissoneinrichtungen. Von R. v. Mouillard
(Kölu a. Rh.).549
Kritiken and Besprechungen.
Dr. Gerloff: Die öffentliche Gesundheitspflege. (E. Pfeiffer) .... 553
Die Lüftung und Heizung der Schulen. (Ingenieur Schumacher, Berlin) 553
A. Pfeiffer: Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf
dem Gebiete der Hgiene usw. (E. Roth, Potsdam).564
H. Weicker: Beiträge zur Frage der Volksheilstätten. (E. Roth, Potsdam) 555
H. Weicker: Tuberkulose.— Heilstätten. — Dauererfolge. (E. Roth,
Potsdam).555
Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. XX. Band. (W. Kiß-
kalt, Gießen).567
Tuberkulose-Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte. I. Heft.
Die Hühnertuberkulose. (W. Kißkalt, Gießen).561
Prof. Gruber (München): Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse?
(Landsberger, Charlottenburg).502
Prof. Dr. phil. Bloch mann (Tübingen): Ist die Schutzpockenimpfung
mit allen notwendigen Kautelen umgeben? (Landsberger, Char¬
lottenburg) .563
Krankheiten und Ehe. (Landsberger, Charlottenburg).564
Gustav Paul: Lehrbuch der Somatologie und Hygiene für Lyzeen und
verwandte Institute. (Landsberger, Charlottenburg).565
Das Goldene Buch der Gesundheit. (Landsberger, Charlottenburg) . 666
Czaplewski: Kurzes Lehrbuch der Desinfektion.' (Landsberger,
Charlottenburg).567
Dr. med. W. Pfaff: Die Alkoholfrage. (Dr. A. Baer, Berlin) .... 567
Das Schulzimmer. (Altschul, Prag).568
Prof. Carl Hinträger: Die Volksschulhäuser in den verschiedenen
Ländern. UI. Volksschulhäuser in Frankreich. (Altschul, Prag) 569
Luftverunreinigung und Ventilation, mit besonderer Rücksicht auf In¬
dustrie und Gewerbe. (H. Schumacher, Berlin).570
Neu erschienene Schriften über öffentl. Gesundheitspflege (102. Verzeichnis) 572
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VIII
Inhalt des sechsunddreißigsten Bandes.
Seite
Viertes Heft: Erste Hälfte.
Über Versuche mit einer hygienischen Geschirrspülmaschine. Von Dr.
Czaplewski (Köln).679
Die hygienischen Fortschritte der Stadt Beuthen (Oberschlesien) innerhalb
des letzten Dezenniums. Von Dr. Bloch (Beuthen) .696
Die Verbreitung des Typhus in Preußen während des Jahrzehntes 1892
bis 1901 nebst Bemerkungen über Entstehung, Verbreitung und Be¬
kämpfung der Krankheit. Von M. Pistor.617
Über den Wert ärztlicher Todesbescheinigungen für die Todesursachen-
statistik. Von Dr. J. J. Reineke (Hamburg).650
Eine neue Methode zur Bestimmung des Luftstaubes und ihre Verwendung
zur Prüfung eines neuen Wassersprengapparates. Von Dr. Konrad
Stich (Leipzig).655
Kritiken nnd Besprechungen:
Dr. Max Seiffert: Die Versorgung der großen Städte mit Kindermilch.
(Dr. von Oh len, Hamburg).667
E. Neißer und K. Pollack: Tuberkulosebüchlein. (E. Roth, Potsdam) 670
Der Kampf gegen die Tuberkulose in Bremen. (E. Roth, Potsdam) . 671
Pannwitz: Bericht über die I. Versammlung der Tuberkuloseärzte.
(E. Roth, Potsdam) . . . ..672
Wese ne r: Über Säuglingssterblichkeit und Säuglingsfürsorge mit beson¬
derer Berücksichtigung Aachens. (Landsberger, Charlottenburg) 672
Schumburg: Die Tuberkulose. (Landsberger, Charlottenburg) . . 673
Medizinalrat Räuber: Die Bestimmungen über den Verkehr mit Giften.
(Landsberger, Charlottenburg).674
Aus Natur- und Geisteswelt. (M. P.).674
Dr. Fridolin Schüler: Erinnerungen eines Sieben zigjährigen. (M. P.) 674
Symptome, Wesen und Behandlung der Malaria (Wechselfieber). (M. P.) 675
Schroeter: Das Fleischbeschaugesetz. (M. P.). 676
Das Gesundheitswesen des Preußischen Staates im Jahre 1902. (M. P.) 676
Bericht über die IX. Versammlung des Deutschen Vereins für Volkshygiene
zu Frankfurt a. Main am 4. Juni 1904. (Dr. Julian Marcuse, Mann¬
heim) . 679
Vereine and Versammlungen:
Deutscher Verein für öffentliche Gesundheitspflege. Neunundzwanzigste
Versammlung zu Danzig am 14. bis 17. September 1904 684
Neu erschienene Schriften über öffentliche Gesundheitspflege. (103. Ver¬
zeichnis) .685
Viertes Heft: Zweite Hälfte.
Der Unterleibstyphus und seine Bekämpfung. Von Dr. Schlegtendal und
Dr. Peren.691
Über den ersten internationalen Kongreß für Schulhygiene zu Nürnberg vom
4. bis 9. April 1904. Von R. Wehm er (Berlin). .... 742
Repertorium der im Laufe des Jahres 1903 in deutschen und ausländischen
Zeitschriften erschienenen Aufsätze über öffentliche Gesundheitspflege.
Zusammengestellt von Geh. San.-Rat Dr. Spiess. + 31. Januar 1904, und
Frau ClotildeSpiess.765
Generalregister zum XXXV. und XXXVI. Rande .996
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Bericht des Ausschusses
über die
Achtundzwanzigste Versammlung
des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege
zu Dresden
am 16., 17. und 18. September 1903.
Tagesordnung;:
Mittwoch, den 16. September.
9 Uhr vormittags:
Erste Sitzung
im großen Saale des Gewerbehanses (Ostraallee 13).
Eröffnung der Versammlung; Rechenschaftsbericht und geschäftliche
Mitteilungen.
Hach welcher Richtung bedürfen unsere derzeitigen Maßnahmen zur Be¬
kämpfung der Tuberkulose der Ergänzung?
Referent: Geh. Medizinalrat Professor Dr. Gaffky (Gießen).
Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten.
Referent: Reg.- und Medizinalrat Dr. Borntr&ger (Düsseldorf).
Donnerstag, den 17. September.
9 Uhr vormittags:
Zweite Sitzung.
Die gesundheitliche Überwachung des Yerkehrs mit Milch.
Referent: Professor Dr. Dun bar (Hamburg).
Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
Referent: Geh. Regierungsrat Dr. Ohlmüller (Berlin).
Freitag, den 18. September.
9 Uhr vormittags:
Dritte Sitzung.
Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
Referenten: Geh. Regierungsrat Dr. Rumpelt (Dresden).
Geh. Banrat Stübben (Köln).
Vierteljahruchrift ffLr GMondhsitepflege, 1904.
1
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2
XXVIII. Versammlung des Deutschen Vereins
Erste Sitzung.
Mittwoch, den 16. September, vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender, Geh. Baurat Stubben (Köln):
„Hochverehrte Versammlung! Es sind 25 Jahre her, daß der Deutsche
Verein für öffentliche Gesundheitspflege hier in Dresden getagt hat. Das
allein ist schon eine Veranlassung für uns gewesen, unsere Schritte wieder
nach der sächsischen Hauptstadt zu lenken, in diese Stadt, die, wie jeder
bei dem Eintritt in dieselbe bemerkt, auf so vielen Gebieten des kulturellen
Fortschrittes lebhaft tätig ist und in mannigfacher Hinsicht ein Vorbild ge¬
worden ist, in die Hauptstadt des Landes, das durch industriellen Fleiß,
durch eine außerordentlich glückliche Entwickelung sich auszeichnet vor
anderen Teilen des Vaterlandes.
„Eine zweite Veranlassung war es, die uns den Rat erteilte, gerade
Dresden als diesjährigen Versammlungsort zu wählen. Das war die glänzende
Veranstaltung der deutschen Städteausstellung, die Sie ja in diesen Tagen
Gelegenheit haben werden, eingehend zu betrachten, die uns viel Stoff zur
Belehrung darbietet und die uns Einblick gewährt in die hygienische Tätig¬
keit so vieler deutscher Städte.
„Wir freuen uns darüber, von neuem in dieser Stadt versammelt zu
sein. Namens des Ausschusses begrüße ich Sie hier, in der Hoffnung, daß
uns gute Tage beschieden sein werden und daß die Versammlung von Er¬
folg begleitet sein möge.
„Bevor wir aber in die Tagesordnung eintreten, habe ich einen kurzen
Rückblick zu werfen auf die Geschichte unseres Vereins.
„Meine Herren! Es sind in diesem Jahre gerade 30 Jahre her, daß in
Bingen einige Herren, die sich für die Fragen der öffentlichen Gesundheits¬
pflege besonders interessierten, zusammengetreten sind, um den Deutschen
Verein für öffentliche Gesundheitspflege ins Leben zu rufen. Es waren dies die
Herren Börner, Varrentrapp, Graf, Lent, Sander, Baurat Hobrecht
und Spieß sen. und jun. Sie haben damals den Grund gelegt zu dem in¬
zwischen so herrlich aufgeblühten Verein, zu diesem Baume, der so viele
Früchte für uns und für das Vaterland getragen hat. Bald nachher fand
dann die konstituierende Sitzung des Vereins und die erste Versammlung
desselben in Frankfurt a. M. unter dem Vorsitze des damaligen Ober¬
bürgermeisters von Berlin, späteren Staatsministers Hobrecht statt.
„Seit jener Zeit, meine Herren, hat Dr. Alexander Spieß als ständiger
Sekretär unseres Vereins dessen Geschäfte geführt. Unermüdlich, mit
eisernem Fleiß und mit großer Umsicht hat er alles das vorbereitet, geplant,
geordnet und nachher zur Ausführung gebracht, was der Verein zu be¬
schließen hatte, was er für gut befand, in die Öffentlichkeit zu bringen, den
Behörden zu unterbreiten, für die weitere Ausführung den Staaten und
den Städten darzulegen. In welcher Weise Herr Spieß diese Aufgabe er¬
füllt hat, das ist allen denen bekannt, die seit jener Zeit — deren sind aber
wenige — oder doch wenigstens seit langer Zeit die Tätigkeit des Herrn
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für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden.
3
Spieß beobachtet haben. Nur einer ist unter uns, der seit jener Zeit mit
Herrn Spieß hier in dem Verein gearbeitet hat, das ist der Geh. Sanitätsrat
Prof. Dr. Lent aus Köln, den ich als Mitbegründer des Vereins hierdurch
herzlich begrüße.
„Spieß selbst ist, wie gesagt, ununterbrochen tätig gewesen. Wer im
Ausschuß war, der weiß, wie viel dazu gehört, einen so großen Verein be¬
ständig, wenn ich so sagen soll, in Ordnung zu halten. Unser Verein ohne
Herrn Spieß, das wäre eine Stadt ohne Bürgermeister, das wäre ein Haus¬
halt ohne Hausfrau. Er hat vorzubereiten, er hat für die Vorträge zu
sorgen, mit den Referenten zu verkehren — und das ist häufig recht
schwer — die Thesen für die Versammlung zusammenzustellen, die ganzen
Verhandlungen zu ordnen, die Ausführung der Beschlüsse ins Werk zu
setzen. Er hat auch die Redaktion des Organs unseres Vereins, der Deut¬
schen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege, seither ununter¬
brochen geführt.
„In Anerkennung der außerordentlich großen Verdienste, die Herr
Geheimrat Dr. Spieß sich im Laufe dieser 30 Jahre erworben hat, hat nun
Ihr Ausschuß die Empfindung, daß es geboten sei, Herrn Dr. Spieß eine
besondere Ehrung zuteil werden zu lassen. (Bravo!) Selbst hat der Aus¬
schuß bereits in einer Adresse seine Glückwünsche dem Herrn Dr. Spieß
dargebracht, um so mehr, als er auch in diesem Jahre sein 70. Lebensjahr
vollendet hat. Das ist ja im allgemeinen minder erfreulich, als wenn man
in ein jüngeres Lebensalter eintritt, aber bei dieser außerordentlichen geistigen
und körperlichen Frische, die Herr Spieß sich bisher bewahrt hat und
hoffentlich noch lange bewahren wird, ist dieser Tag für Herrn Spieß ein
außerordentlich erfreulicher gewesen. Von vielen Seiten sind ihm Ehrungen
zuteil geworden. Die staatswirtschaftliche Fakultät der Universität München
hat ihn ehrenhalber zum Doktor der Staatswissenschaften promoviert. Auch
dazu, glaube ich, dürfen wir nicht unterlassen, Herrn Spieß unsere Glück¬
wünsche darzubringen.
„Was aber der Ausschuß Ihnen vorschlägt, das ist das, daß Sie Herrn
Spieß die größte Ehrung zuteil werden lassen, die ein Verein
überhaupt zu vergeben hat, daß Sie ihn zum Ehronmitgllode des
Vereins ernennen.
„Ich bitte diejenigen Herren, die zu diesem Vorschläge, den ich namens
des Ausschusses lebhaft befürworte, das Wort zu ergreifen wünschen, sich
zu melden.“
Geh. Hofrat Prof. Dr. Gärtner (Jena):
„Meine Damen und Herren! Wir haben eben schon gehört, was alles
unserem Vorstande obliegt; wir haben ferner gehört, daß als die Mutter des
Vereins der ständige Sekretär gilt, der die Arbeiten des Vereins leitet. Wir
wissen aber als Familienväter, meine Herren, daß die Mutter jederzeit das
Regiment im Hause hat und daß nach ihrer Pfeife das ganze Haus tanzt.
Es sind ja keine Damen hier, deshalb darf ich das so offen bekennen.
„Nun, meine Herren, in der Tat, was die Mutter zu Hause ist, das ist
Spieß für uns gewesen durch lange lange Jahre hindurch.
„Aber ich möchte noch einen anderen Vergleich ziehen. Das Wesen
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XXVIII. Versammlung des Deutschen Vereins
der Hausfrau ist es, still zu arbeiten, und nach dieser Richtung hin ist die
Hausfrau auch vergleichbar mit dem städtischen Tiefbauingenieur, und so,
meine Herren, wie der Tiefbauingenieur gewöhnlich unten herumbuddelt und
nur selten einmal eine Blüte nach oben treibt, so ist es bei unserem ständigen
Sekretär Spieß gewesen. Die ganze ruhige Arbeit das ganze Jahr hindurch
hat auf seinen Schultern geruht, und wenn dann die Vereinstage kamen, dann
ist Spieß bescheiden auf die Seite getreten.
„Aber noch nach einer anderen Richtung hin ist er mit dem Leiter
des Tiefbaues zu vergleichen. Wir merken das Wesen des Tiefbaues meistens
daran, daß — ich will einmal sagen — die Verdauung der Stadt ganz glatt
vor sich geht, und daß zu gleicher Zeit die Steuern, die eingezogen werden
müssen — und zwar nicht gerade selten — durch den Tiefbau erhöht
werden. Nun, meine Herren, daß die Vereins Verhandlungen stets glatt ab¬
laufen, haben wir Spieß zu verdanken. Es ist nicht immer leicht, die
Referenten für die einzelnen Themen zu gewinnen und sie nachher auch zur
Stelle zu bringen; es ist nicht leicht, die Manuskripte, besonders wenn sie
nicht da sind, aus den einzelnen Referenten herauszuholen und sie zu publi¬
zieren, und es ist auch nicht immer leicht, mit den geringen Geldern, die
zur Verfügung stehen — unser Sekretär ist auch unser Schatzmeister —
auszukommen. Spieß ist auch unser Steuerdirektor gewesen, und in dieser
Beziehung ist er allerdings seinem früheren Chef und unserem verstorbenen
Mitgliede Miquel nicht ganz gefolgt. Der war in der Ausnutzung der
Steuerkraft besser veranlagt, als unser ständiger Sekretär und Bankier es
jemals gewesen ist. Das wollen wir ihm aber nicht übel nehmen.
„Wir können unseren verdienten Freund in der Tat kaum anders ehren,
als wie vom Ausschuß vorgeschlagen ist; wir können ihm keinen Orden
geben, wir können ihn nicht einmal zum Geheimsekretär ernennen, aber
die größte Anerkennung, die wir ihm gewähren können und wollen, ist die,
daß wir ihn zum Ehrenmitgliede machen. Für die stille, ruhige Arbeit der
30 Jahre, die er für den Verein gewirkt hat, müssen wir ihm dankbar sein;
wir ehren ihn und uns, meine Herren, und wir Ärzte — in deren Namen
ich hier sprechen möchte — fühlen es als eine Ehrung unseres ganzen
Standes, wenn wir Spieß zum Ehrenmitgliede machen, und ich glaube in
Ihrer aller Namen sagen zu können: Wir begrüßen freudig und von ganzem
Herzen das, was uns unser Vorstand soeben vorgeschlagen hat.“
Oberbürgermeister Fuß (Kiel):
„Meine Herren! Gestatten Sie nur noch ganz wenige Worte dem
hinzuzufügen, was soeben einer der ersten Vertreterder wissenschaftlichen
Hygiene zu Gunsten des Vorschlages unseres Ausschusses ausgeführt hat.
Ihm werden alle zustimmen, die Spieß’ außerordentlich tiefgründige wissen¬
schaftliche Arbeit schätzen gelernt haben. Ich glaube aber auch, aus dem
Herzen aller derer hinaus, die vom praktischen Standpunkt der Verwaltung
in diesem Vereine tätig gewesen sind, erklären zu sollen, daß wir die Arbeits¬
kraft, die selbstverleugnende Bescheidenheit, die Unermüdlichkeit unseres
Spieß, sowie sein Verdienst um die praktischen Erfolge unseres Vereins
gar nicht hoch genug anschlagen können.
»Sie haben gehört, daß Geheimrat Spieß sein siebzigstes Lebensjahr
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für öffentliche Gesundheitspflege zn Dresden.
5
vollendet hat. Im Interesse unseres Vereins wünsche ich, daß ihm die Ge¬
sundheit und Kraft, die ihm bis jetzt unvermindert innewohnen, noch lange
erhalten bleiben mögen; denn es wird schwer für uns sein, ohne einen
solchen Mann wie Spieß unsere Aufgaben in gleicher Weise wie bisher zu
erfüllen. (Sehr richtig!)
„Meine Herren, ich glaube, es hieße Eulen nach Athen tragen, mehr
zur Unterstützung des Vorschlages des Ausschusses auszuführen. Ich er¬
laube mir nur noch, Sie zu bitten, durch die Einmütigkeit, mit der Sie, wie
ich nicht zweifle, den Vorschlag des Ausschusses annehmen werden, auch
implizite unseren Dank für diesen ausgezeichneten Vorschlag zum Ausdruck
zu bringen, einen der besten, die der Ausschuß uns je unterbreitet hat.“
Vorsitzender Geheimrat Stübben:
„Meine hochverehrten Anwesenden! Darf ich feststellen, daß der
Verein einstimmig beschließt, Herrn Geh. Sanitätsrat Dr. Spieß
in Frankfurt zu seinem Ehrenmitglieds zu ernennen? (Lebhafte
Zustimmung.) Dann bitte ich die Versammlung, sich zu Ehren unseres
Ehrenmitgliedes von ihren Sitzen zu erheben. (Geschieht.) Ich danke
Ihnen, meine Herren.
(Geheimrat Dr. Spieß erscheint im Saal und wird mit lebhaftem Bei¬
fall begrüßt.)
„Hochgeehrter Herr Geheimrat! Sie hören an dem Beifallklatschen bei
Ihrem Erscheinen, daß etwas besonderes vorgekommen ist. Der Verein hat
einstimmig, wie ich mich freue,Ihnen mitteilen zu können, Ihnen die Ehren¬
mitgliedschaft unseres Vereins übertragen. Es ist die allerhöchste Ehre,
welche ein Verein einem Mitglieds erweisen kann. Er hat sie Ihnen er¬
wiesen, Herr Geheimrat, weil keiner vorhanden ist, der in einer solchen
Weise für den Verein während 30 Jahre, während eines ganzen
Menschenalters gesorgt hat, der uns als Vater und Mutter geführt und
Überall uns den richtigen Weg geleitet hat. Wir sind Ihnen von ganzem
Herzen dankbar für alles, was Sie für den Verein, was Sie für die Deutsche
Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege, was Sie für unsere
Versammlungen geleistet haben, und was Sie geleistet haben für die
Zwecke der öffentlichen Gesundheitspflege und dadurch für das Wohl unseres
Vaterlandes.
„Gestatten Sie mir, sehr geehrter Herr Geheimrat, daß ich Ihnen
namens dieser hochansehnlichen Versammlung ferner unsere herzlichsten
Glückwünsche zur Vollendung Ihres 70. Lebensjahres, aber namentlich
dazu ausspreche, dass Sie in so voller Frische des Körpers und des Geistes
dieses Alter angetreten haben, und daß Sie nunmehr unser einziges und
verehrtes Ehrenmitglied sind. Möge das noch lange Jahre Ihnen Freude
bereiten, möge noch lange Jahre Ihnen Kraft und Gesundheit des Geistes
und des Körpers verliehen sein, um, wie bisher, für uns alle tätig zu sein.
Ad multos annos! tt
Geh. S&nit&tsr&t Dr. Spiel! (Frankfurt a. M.):
„Herr Präsident! Ich sagen Ihnen und damit der ganzen Versamm¬
lung meinen allerherzlichsten Dank für die Auszeichnung, für die hohe Ehre,
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6 XXVIII. Versammlung des Deutschen Vereins
die Sie mir in wirklich ganz unverdienter Weise haben zuteil werden
lassen.
„Ich bin allerdings seit 30 Jahren ständiger Sekretär dieses Vereins,
und ich darf sagen, daß mir von den mannigfachen Tätigkeiten, die ich in
meinem Leben gehabt habe, keine größere Freude und keine größere Genug¬
tuung bereitet hat, als diese Stelle, das Amt des ständigen Sekretärs des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege.
„Wenn Sie davon sprechen, daß ich das noch eine Reihe von Jahren
fortsetzen‘möge, so, glaube ich, gehen Sie über das menschliche hinaus.
Wer bereits 70 Jahre hinter sich hat, für den ist die Spanne, die vor ihm
liegt, keine große mehr. Ich habe schon wiederholt in Ausschußsitzungen
in Anregung gebracht, einen Ersatzmann für mich zu wählen. Die Kündi¬
gung ist aber bis jetzt vom Ausschuß noch nicht angenommen worden. In
der nächsten Zeit wird sie freilich kommen müssen. Ich werde mit schwerem
Herzen das Amt niederlegen, ich werde mit schwerem Herzen mich trennen
von dem Verein, der mir so lieb geworden ist.
„Die außerordentliche Ehrung, die Sie mir aber heute hier zuteil
werden lassen, macht mir eine ganz besondere Freude, und ich spreche
Ihnen allen dafür nochmals meinen allerherzlichsten Dank aus. u
Vorsitzender Gehoimrat Stütohen:
„Noch ist die Zeit zu scheiden nicht gekommen. Ich denke, wir werden
noch lange uns der Gegenwart und der Mitarbeit unseres verehrten Herrn
Dr. Spieß zu erfreuen haben.
„Meine Herren! Ich habe nunmehr im Aufträge des Ausschusses Sie
zu bitten, das Bureau dieser Versammlung zu besetzen, und zwar bitte ich
zunächst Herrn Oberbürgermeister Geh. Finanzrat Dr. Beutler aus Dresden,
die Freundlichkeit zu haben, das Amt als erster stellvertretender Vorsitzender
zu übernehmen. Dann habe ich die Ehre, Herrn Geh. Medizinalrat Prof.
Dr. Löffler zu bitten, als zweiter stellvertretender Vorsitzender hier an
dem Tische Platz zu nehmen. Als stellvertretenden Schriftführer bitte ich
Herrn Stadtbaurat Pauly aus Kiel, hier Platz zu nehmen.
„Dann habe ich Ihnen die Mitteilung zu machen, daß ein Vertreter
der königlich sächsischen Staatsregierung, Herr Geh. Regierungsrat Kunze
aus dem Ministerium des Innern, die Liebenswürdigkeit haben will, die Ver¬
sammlung zu begrüßen. Darf ich den Herrn Geheimrat bitten.“
Geh. Regierungsrat Kunze (Dresden):
„Hochgeehrte Anwesende! Ich schätze es als besondere Ehre, namens
des königlichen Ministeriums des Inneren den Deutschen Verein für öffent¬
liche Gesundheitspflege bei seiner diesmaligen Zusammenkunft im Sachsen¬
lande herzlich willkommen zu heißen.
„Seine Excellenz der Herr Staatsminister von Metzsch bedauert leb¬
haft, daß er verhindert ist, Sie persönlich zu begrüßen und seine vollen,
warmen Sympathien ebenso wie die des Ministeriums auszusprechen. Ich
erlaube mir in seinem Aufträge und Namen und zugleich auch in meinem
Namen dies hiermit zu tun, in dem vollen Bewußtsein der großen Wichtig-
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für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden.
keit und Bedeutung, welche ein so hervorragender Verein wie der Ihre für
die ärztliche Wissenschaft und Praxis und damit für die Allgemeinheit hat.
„Nochmals den Ausdruck herzlichen Willkommens und bester Wünsche
in jeder Richtung/
Oberbürgermeister Geh. Finanzrat Dr. Beutler (Dresden):
„Meine hochgeehrten Herren! Auch namens der Stadt Dresden erlaube
ich mir, Sie herzlich zu begrüßen und nach einer Zeitspanne von 25 Jahren
hier in Dresden willkommen zu heißen.
„Meine hochgeehrten Herren! Diejenigen von Ihnen — es werden
wohl nicht mehr sehr viele sein — die vor 25 Jahren schon in Dresden
waren, und die sonst einmal unsere Stadt kennen gelernt haben, werden
gewiß bestätigen, daß sie in diesem Zeiträume sich wesentlich verändert hat
— ob zu ihrem Vorteil, das steht bei Ihnen, zu beurteilen. Der Verein
selbst aber, der heute wiederkehrt, hat sich nur in einer Richtung ver¬
ändert: er hat sich vergrößert und erweitert über das ganze Gebiet unseres
Reiches und hat an Mitgliederzahl sehr bedeutend gewonnen. Im übrigen,
in seiner Tätigkeit, in seiner ganzen Tendenz ist er der alte geblieben, und
das, meine Herren, ist dem Verein ganz besonders hoch anzurechnen; dafür
sind wir ihm von ganzem Herzen dankbar.
„Wenn vorhin der Herr Vorsitzende die Freundlichkeit hatte, an die
deutsche Städteausstellung zu erinnern, so sind wir, die Veranstalter dieser
Ausstellung, in erster Linie auch dem Verein für öffentliche Gesundheits¬
pflege dafür dankbar, daß das, was dort das Aufsehen in Deutschland, ja in
der ganzen Welt erregt hat, vorgeführt werden konnte; denn die Fortschritte
in der Gesundung unserer großen Städte, in der gesamten Volkshygiene
verdanken wir nicht zu einem kleinen Teil Ihren Anregungen, Ihren Be¬
strebungen, die dann als allgemein gültiges und fruchtbares Fluidum in die
Verwaltungskörper der Städte hineingekommen sind und von dort aus als
selbständige momentan von dort ausgegangene Anregungen wieder in die
Wirklichkeit übersetzt worden sind. Ich darf das um so mehr aussprechen,
als ich selbst die Erfahrung gemacht habe, daß, wenn man in den Annalen
des Vereins zurückgeblättert, man dort Anregungen findet, die in neuester
Zeit erst wieder als etwas Neues aufgestellt wurden.
„So sind wir Ihnen denn ganz besonders dankbar, daß Sie nach einigen
Jahren wieder hierher nach Dresden gekommen sind, und ich darf aus¬
sprechen, daß die Bestrebungen Ihres Vereins, wie sie auch auf der dies¬
jährigen Tagesordnung ausgedrückt sind, die größte Aufmerksamkeit unserer
städtischen Verwaltung für sich beanspruchen.
„Es sind in den letzten Jahren ja noch Konkurrenten, möchte ich sdgen,
von diesem Verein gebildet worden, Vereine, die ähnlichen Bestrebungen
nachgehen. Ich glaube, der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheits¬
pflege braucht diese Konkurrenten nicht zu scheuen. Zum Teil decken
sich die Bestrebungen derselben mit den Ihrigen, und dann schadet es
ja nichts, wenn zwei dasselbe tun oder wenigstens an demselben Strange
ziehen. Zum Teil sind kleine Verschiedenheiten, vorhanden, und wir
können abwarten, wie diese jüngeren Korporationen etwa mit uns zu¬
sammen arbeiten.
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XXVm. Versammlung des Deutschen Vereins
„Jedenfalls freut es mich, Sie hier ganz herzlich willkommen zu heißen
und Ihren diesjährigen Arbeiten den besten Erfolg zu wünschen. . Noch¬
mals willkommen in Dresden. u
Vorsitzender Geheimrat Stübben:
„Im Namen der Versammlung danke ich dem Herrn Vertreter der
Staatsregierung und dem Herrn Vertreter der Stadt Dresden auf das herz¬
lichste für die freundlichen Willkommensgrüße. Ich danke um so mehr
dafür, als wir uns bewußt sind, daß wir unsere Absichten nur dann in die
Wirklichkeit übersetzen können, wenn die Staaten und Städte uns unter¬
stützen, denn das sind diejenigen, die die Mittel dazu in der Hand haben.
Das sind wir nicht. Wir können eben nur anregen und freuen uns, wenn
unsere Anregungen auf guten Boden fallen. Daß die sächsische Staats¬
regierung auf diesem Gebiete großes geleistet hat in Gesetzgebung und
Verwaltung, ist bekannt; man braucht nur die Blätter der Gesetzgebung
aufzuschlagen, um zu sehen, wie gerade hier auf unserem Gebiete besonders
fruchtbar gearbeitet worden ist. Und was die Stadt Dresden betrifft, so kann
ich die Frage, die der Herr Oberbürgermeister vorhin gestellt hat, ob
Dresden sich in den letzten 25 Jahren — ich kann allerdings nicht gerade
von 25 Jahren reden, aber von nahezu 25 Jahren — zu seinem Besseren
entwickelt hat, ich glaube mit Ihrer aller Zustimmung mit einem lebhaften
Ja beantworten, und dieses Ja werden Sie um so mehr bestätigen, wenn Sie
die Ausstellung besuchen und auf der Ausstellung alles das sehen werden,
was Dresden in so ausführlicher und eingehender Weise auf dem Bau- und
Gesundheitsgebiete ausgestellt hat.
„Ich danke den verehrten Herren nochmals für ihre liebenswürdige
Begrüßung und schlage vor, daß wir nunmehr in die Arbeiten unserer
Tagesordnung eintreten. Zu diesem Zwecke erteile ich das Wort unserem
Herrn ständigen Sekretär zur Verlesung des Rechenschaftsberichts/
Der ständige Sekretär Dr. Spieß verliest hierauf den
Rechenschafts-Bericht
des Ausschusses des Deutschen Vereins für öffentliche Gesund¬
heitspflege für das Rechnungsjahr 1902 bis 1903.
Durch Beschluß der Vereinsversammlung in München wurde der Aus¬
schuß für das Rechnungsjahr 1902/1903, wie folgt, zusammengesetzt:
Professor Dr. Albrecht (Groß-Lichterfelde),
Oberbürgermeister Beck (Chejpnitz),
Erster rechtskundiger Bürgermeister v. Bor seht (München),
Geh. Medizinalrat*Professor Dr. Karl Fränkel (Halle a. S.),
Reg.- u. Geh. Medizinalrat Dr. Roth (Potsdam),
Geh. Baurat Stübben (Köln) und
Dr. Spieß (Frankfurt a. M.), ständiger Sekretär.
Nach Schluß der Versammlung trat der Ausschuß zu einer Sitzung
zusammen und wählte gemäß § 7 der Satzungen Herrn Geh, Baurat
Stübben zum Vorsitzenden für das Geschäftsjahr 1902/1903.
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für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden.
Auf der Münchener Versammlung hat der Ausschuß beschlossen, für
das zu errichtende Pettenkoferdenkmal aus der Kasse des Vereins
500 Mk. beizusteuern; auch hat er bei jener Gelegenheit einen Kranz am
Grabe Pettenkofers niedergelegt, wofür dem Ausschuß dann ein Dank¬
schreiben der Tochter Pettenkofers zuging.
Das Referat des Herrn Oberbürgermeister Dr. Ebel in g auf der
Münchener Versammlung, betr. Fürsorge für bestehende und Beschaf¬
fung neuer kleiner Wohnungen wurde nebst der dazu erfolgten Dis¬
kussion an die sämtlichen Stadtgemeinden übersandt, an welche seinerzeit
die Fragebogen geschickt worden waren.
Der Ausschuß trat satzungsgemäß am 7. und 8. Februar d. J. zu einer
vollzähligen Sitzung in Frankfurt a. M. zusammen.
Einem Gesuch des Vorstandes der Hamburger Ausstellung für hygie¬
nische Milchversorgung entsprechend wurde beschlossen, eine Preisauf¬
gabe zu stellen, und zwar für eine „hervorragende Leistung auf dem
Gebiete derKindermilchversorgung für die ärmere Bevölkerung“,
und wurde seitens des Ausschusses dafür die Summe von 500 Mk. aus¬
gesetzt. Der Preis konnte aber keinem der Aussteller zuerteilt werden,
so daß derselbe nun wieder dem Verein zur Verfügung steht
Die Rechnung s ab läge für das Jahr 1902 wurde von dem Ausschuß
geprüft und richtig befunden.
Es betrug danach:
Kassenbestand am 1. Januar 1902 . 3140*26 M.
Einnahmen durch Mitgliederbeiträge und Zinsen . . 10427*50 „
Mithin zusammen Einnahmen 13 567*76 M.
Dagegen an Ausgaben. 10 502*77 „
Bleibt ein Kassenbestand für 1903 von . . 3064*99 M.
Ferner bestimmte der Ausschuß Dresden als Ort der nächsten Ver¬
sammlung, als Zeit die Tage vom 16. bis 20. September und stellte die
Tagesordnung in der den Mitgliedern seinerzeit zugegangenen Fassung
auf. Eine Änderung erfuhr dieselbe nachträglich, indem Herr Geh. Medi¬
zinalrat Professor Dr. Fränkel aus Gesundheitsrücksichten sich genötigt sah,
von dem Referat zu dem ersten Punkt der Tagesordnung zurückzutreten,
und an seiner Statt Herr Geh. Medizinalrat Professor Dr. Gaffky die große
Güte hatte, das Referat zum gleichen Thema zu übernehmen.
Die Mitgliederzahl des Vereins betrug zu Ende des Jahres 1902: 1700.
Von diesen sind im laufenden Jahre ausgetreten 154, davon 27 durch Tod.
Es sind dies die Herren:
Mechaniker Karl Behn (Hamburg),
Geheimerat Professor Dr. Bockend ah 1 (Kiel),
Hofrat Professor Dr. Böhm (Wien),
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10 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Stadtbaurat Dörich (Bunzlau),
Medizinalrat Dr. Dornblüth (Rostock),
Geheimerat Dr. Ehrenhaus (Berlin),
Geheimerat Dr. Frömmelt (Altenburg),
Sanitätsrat Dr. Glaser (Danzig),
Polizeipräsident v. Hergenhahn (Frankfurt a. M.),
Fabrikant Otto Herz (Frankfurt a. M.),
Präsident Hinrichsen (Hamburg),
Geheimerat Professor Dr. Käst (Breslau),
Medizinalrat Dr. Kellermann (Schopfheim),
Obermedizinalrat Dr. Krauser (Darmstadt),
Generalarzt Dr. Lieber (Neubabelsberg),
Chemiker Dr. Lucius (Frankfurt a. M.),
Dr. med. Ludwig Mayer (Mainz),
Rentner Friedrich Modera (Frankfurt a. M.),
Redakteur Ralph Neste (München),
Geheimerat Dr. Osswald (Arnstadt),
Landrat v. Richter (Weißenfels),
Reichstags abgeordneter Dr. Rick er t (Danzig),
Geheimerat Professor Dr. Schede (Bonn),
Hofrat Dr. Schöner (München),
Bürgermeister Steinberg (Culm),
Generalarzt Dr. Struck (Blankenburg i. Harz) und
Professor Dr. Julius Ziegler (Frankfurt a. M.).
Neu eingetreten sind 190 Mitglieder, so daß der Verein zurzeit 1 )
1736 Mitglieder zählt, von denen 579 als in Dresden anwesend gemeldet sind.
Vorsitzender, Geh. Baurat Stübben: „Verehrte Anwesende!
Sie werden mit Schmerz vernommen haben, daß der Tod wieder eine reich¬
liche Ernte unter unseren Mitgliedern gehalten hat. Es befinden sich
darunter eine große Anzahl von Kollegen, die wir sehr oft in unseren Ver¬
sammlungen begrüßt haben. Um so schmerzlicher ist dieser Verlust. Ich
nenne namentlich Herrn Medizinalrat Dr. Dornblüth aus Rostock, der ein
ständiger Besucher unserer Versammlungen gewesen ist und der durch seine
populären Schriften die Gesundheitspflege in der verdienstlichsten Weise
gefördert hat.
„Ich bitte Sie, zu Ehren der Verstorbenen und zu ihrem treuen An¬
denken sich von Ihren Sitzen zu erheben.“ (Geschieht.)
Der Vorsitzende stellt hierauf den ersten Gegenstand der Tagesordnung
zur Verhandlung:
l ) Die Zahlen sind die nach Schluß der Versammlung festgestellten.
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
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Nach, welcher Kichtung bedürfen unsere der¬
zeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der
Tuberkulose der Ergänzung?
Es lauten die von dem Referenten, Geh. Medizinalrat Professor
Dr. GafTky (Gießen), aufgestellten
Schlußsätze:
I. Die unverkennbare Abnahme der Sterblichkeit an Lungenschwindsucht
zeigt, daß wir mit unseren derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung der
Tuberkulose auf dem richtigen Wege uns befinden.
II. Einer Ergänzung bedürfen die Maßnahmen nach folgenden Richtungen:
1. Es sipd in hinreichender Zahl öffentliche Unter Buchungsstellen zu
schaffen, durch welche den Ärzten in Stadt und Land die Möglichkeit
geboten wird, die Absonderungen tuberkuloseverdächtiger Kranker
unentgeltlich auf das Vorhandensein von Tuberkelbazillen untersuchen
zu lassen. Die Einsendung der Proben an die Untersuchungsstellen ist
den Ärzten tunlichst zu erleichtern.
2. Den Ärzten ist eine beschränkte Anzeigepflicht aufzuerlegen, welche
sich zum mindesten zu erstrecken hat:
a) auf jeden Todesfall an Lungen- oder Kehlkopfschwindsucht;
b) auf jeden Fall, in welchem ein an vorgeschrittener Lungen- oder
KehlkopfBchwindsucht Erkrankter aus seiner Wohmjng verzieht oder
in eine Heilanstalt gebracht wird;
c) auf jeden Fall, in welchem ein an vorgeschrittener Lungen- oder
Kehlkopfschwindsucht Erkrankter in Rücksicht auf seine Wohnungs¬
verhältnisse oder unsauberen Lebensgewohnheiten seine Umgebung
hochgradig gefährdet.
3. Für die Fälle unter 2 a und 2 b ist die Desinfektionspflicht einzuführen.
Die Kosten der Desinfektion sind, zum mindesten soweit es sich um
wenig bemittelte Personen handelt, aus öffentlichen Mitteln zu be¬
etreiten.
4. In den Fällen unter 2 c hat die Behörde tunlichst im Einvernehmen
mit dem behandelnden Arzte diejenigen Anordnungen zu treffen, welche
zur Verhütung der Krankheitsübertragung geeignet erscheinen.
5. Das wirksamste Mittel, unter ungünstigen Wohnungsverhältnissen und
bei unsauberen Lebensgewohnheiten der Kranken die Krankheitsüber¬
tragung zu verhüten, besteht in der Verbringung der Kranken in ein
Krankenhaus. Eine besonders dringende Aufgabe ist daher die weitere
Schaffung von Heimstätten und Asylen, sowie von besonderen Abtei¬
lungen in den allgemeinen Krankenhäusern, in welchen unbemittelte,
für die Heilstätten nicht geeignete Schwindsüchtige unentgeltlich oder
gegen geringes Entgelt Aufnahme finden können.
6. Sofern in den Fällen unter 2 c die Entfernung des Kranken aus der
Wohnung sich nicht erreichen läßt, ist die Entfernung der Gesunden,
soweit sie nicht zur Pflege nötig sind, namentlich aber der Kinder
anzustreben. Durch Errichtung von Säuglingsheimen und Kinderasylen
ist in weiterem Umfange als bisher die Möglichkeit zu schaffen, der in
früher Jugend besonders großen Gefahr einer tuberkulösen Infektion
vorzubeugen.
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12 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
7. Es ist darauf hinzuwirken, daß tuberkulöse Personen solchen Berufen
und Beschäftigungen ferngehalten werden, welche die Gefahr einer
Übertragung der Krankheit besonders naheliegend erscheinen lassen,
z. B. dem Seemannsberufe, der Beschäftigung in stauberzeugenden Be¬
trieben, der Beschäftigung in Verkaufsstellen von Nahrungsmitteln u. dgl.
Referent, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Gaffky:
„Hochgeehrte Damen und Herren! Sie alle werden mit mir auf das
lebhafteste bedauern, daß unser vorjähriger Vorsitzender Herr Geheimrat
Frankel, dessen ausgezeichnete Geschäftsführung und hervorragende Be¬
redsamkeit so wesentlich zu dem überaus glücklichen Verlaufe unserer
Münchener Versammlung beigetragen hat, den zugesagten Bericht über den
ersten Gegenstand unserer diesjährigen Verhandlungen zu erstatten ver¬
hindert ist. Wenn ich es übernommen habe, an Stelle meines Kollegen und
Freundes hier vor Ihnen zu sprechen, so bin ich mir der Schwierigkeit einer
solchen Stellvertretung wohl bewußt, darf aber wohl um so mehr auf Ihre
Nachsicht rechnen, als die mir zur Verfügung stehende Zeit sehr knapp
bemessen war.
„Um die großartigen Fortschritte richtig zu würdigen, welche auf einem
der wichtigsten Gebiete der öffentlichen Gesundheitspflege, in der Bekämp¬
fung der sogenannten Infektionskrankheiten, im Laufe der letzten drei
Jahrzehnte gemacht worden sind, genügt es, einige wenige Tatsachen sich
zu vergegenwärtigen: Eine der größten Plagen des Menschengeschlechtes,
welche noch in nicht weit hinter uns liegenden Zeiten unzählige blühende
Leben dahinraffte, die Pockenkrankheit, ist in Deutschland so selten ge¬
worden, daß viele Ärzte sie aus eigener Erfahrung überhaupt nicht mehr
kennen. Große Gemeinwesen, die früher als sogenannte Typhusnester ver¬
rufen waren, sind dank den zielbewußt durchgeführten sanitären Verbesse¬
rungen von der Seuche so gut wie völlig befreit. Dem unheimlichen in¬
dischen Gaste, der asiatischen Cholera, sieht man heute im Vertrauen auf
die im Kampfe mit ihr bewährten Waffen verhältnismäßig ruhig entgegen.
Und auch gegenüber der Pest, einer Seuche, die an sich im Laufe der Jahr¬
hunderte von ihrer verderblichen Macht nichts verloren hat, wie die Heka¬
tomben ihrer jüngsten asiatischen Opfer beweisen, stehen wir — zuversicht¬
lich dürfen wir es hoffen — wohlgerüstet da.
„So hocherfreulich diese und viele andere zum Segen der Menschheit
errungenen Fortschritte aber auch sind, wir können uns nicht verhehlen,
daß uns der größte Teil der Aufgabe noch zu lösen bleibt. Es geht uns
hier wie dem Bergsteiger, der nach dem glücklichen Überwinden der ersten
Höhen erst recht zu erkennen vermag, welche Arbeit seiner noch harrt bis
zur Gewinnung des ersehnten Zieles.
„Ich möchte Sie nur daran erinnern, welche Verheerungen in den
jüngeren Altersklassen übertragbare und daher mehr oder weniger vermeid¬
bare Krankheiten wie Keuchhusten, Scharlach, Masern, Diphtherie und
Croup — letztere trotz der Löfflers und v. Behrings Entdeckungen
zu dankenden unverkennbaren Abnahme — noch immer verursachen. Nach
der neuesten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte bekannt gegebenen
Zusammenstellung, in welcher überdies einige kleinere Bundesstaaten noch
nicht mit berücksichtigt werden konnten, sind im Jahre 1900 im Deutschen
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
Reiche nicht weniger als 66 000 Todesfälle durch die genannten Krankheiten
zusammen verursacht.
„Noch nachdrücklicher werden wir durch die Ergebnisse der Statistik
hingewiesen auf die Dringlichkeit der uns heute beschäftigenden besonderen
Aufgabe. Denn wir erfahren, daß die Tuberkulose der Lungen auch im
Jahre 1900 wieder nahezu 112 000, die Tuberkulose anderer Organe mehr
als 10000 Todesfälle, die Tuberkulose überhaupt mehr als 122000 Todes¬
fälle im Deutschen Reiche herbeigeführt hat.
„Daß diese Zahlen hinter der Wirklichkeit noch Zurückbleiben, daß sie
nicht unbeträchtlich sich erhöhen würden, wenn man alle, tatsächlich der
Tuberkulose zur Last zu legenden Todesfälle statistisch zu erfassen ver¬
möchte, wer wollte das bezweifeln ? Aber auch so, wie sie sind, bedeuten die
Zahlen bereits, daß nahezu jeder zehnte Todesfall auf Rechnung der Tuber¬
kulose kommt.
„Die Statistik lehrt uns bekanntlich ferner, daß bei weitem am schwer¬
sten von der Tuberkulose das erwerbsfähige Alter betroffen wird.
„Mehr als zwei Drittel jener 122 000 Todesfälle an Tuberkulose ent¬
fallen auf die Altersklasse von 15 bis 60 Jahren. Betrachtet man diese
Altersklasse für sich, so ergibt sich, daß nahezu der dritte Teil aller in ihr
überhaupt Verstorbenen der Tuberkulose erlegen ist.
„Die wirtschaftliche Bedeutung dieser Zahlen und das in ihnen zum
Ausdruck kommende Elend erscheinen in noch schärferer Beleuchtung, wenn
man sich vergegenwärtigt, daß in der Regel dem Tode an Tuberkulose ein
langes, schweres Siechtum voran geht.
„So düster das durch die Registrierung der Todesfälle gewonnene
Bild aber auch ist, von dem Umfange, in welchem überhaupt tuberkulöse
Infektionen erfolgen, gibt es uns doch nur eine sehr unvollkommene Vor¬
stellung. Denn überaus häufig bleibt infolge mangelnder Disposition die
Wirkung der Infektion so gering oder die Ausheilung des Krankheits-
prozesses erfolgt so frühzeitig und so vollständig, daß das Leiden während
des Lebens überhaupt nicht als tuberkulöses erkannt wird. Erst wenn der
Tod infolge irgend einer anderen Krankheit eingetreten ist, finden sich in
solchen Fällen bei der Obduktion die Überreste einer tuberkulösen Infek¬
tion, von der vorher niemand etwas geahnt hatte. Mit der Zunahme des
Lebensalters der Verstorbenen steigt die Häufigkeit der in den Leichen ge¬
fundenen tuberkulösen Prozesse. So hat Dr. Naegeli mitgeteilt, daß die
im Züricher pathologisch-anatomischen Institut zur Obduktion gekommenen
Leichen, soweit sie über 30 Jahre alten Personen angehörten, ausnahmslos
tuberkulöse Veränderungen zeigten, welche nur zum kleineren Teile frisch,
zum größeren ausgeheilt waren. Im Dresdener Stadtkrankenhause bat
Dr. Bnrckhardt auf Grund der Obduktionsbefunde bei 1400 Verstorbenen
feststellen können, daß bei 91 Proz. aller Erwachsenen Veränderungen vor¬
handen waren, welche auf frische oder alte Tuberkulose bezogen werden
mußten.
„Diese und ähnliche Beobachtungen scheinen auf den ersten Blick
geeignet, denen recht zu geben, welche alle gegen den Krankheitserreger
selbst gerichteten Maßnahmen für wenig aussichtsvoll halten, das Heil viel¬
mehr ausschließlich in der Stärkung der Widerstandsfähigkeit des Körpers
Digitized by Google
14 XXVIIL Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
erblicken. Einer derartigen Auffassung würde man in der Tat eine gewisse
Berechtigung nicht absprechen können, wenn es keinen Unterschied be¬
deuten würde, ob jemand häufig oder selten der Infektion ausgesetzt wird,
ob zahlreiche oder nur vereinzelte Krankheitskeime in den Körper eingeführt
werden. Wissenschaft und Praxis lehren aber, daß dem nicht so ist, daß
vielmehr mit der Häufigkeit und der Intensität der Infektion die Gefahr
erheblich steigt.
„Da, wo Menschen eng und unreinlich zusammen hausen, findet be¬
kanntlich die Tuberkulose die bei weitem größte Zahl ihrer Opfer, und es
stehen daher unter den allgemeinen Maßnahmen zur Bekämpfung der
Krankheit die Besserung der Wohnverhältnisse und die Erziehung der Be¬
völkerung zur Reinlichkeit ohne Zweifel in erster Linie. Diese Erkenntnis
darf uns aber nicht abhalten, mit allem Nachdrucke auch den Kampf gegen
den Krankheitserreger selbst zu führen, unbeirrt durch die Stimmen derer,
welche unter Hinweis auf die allgemeine Verbreitung der Tuberkelbazillen,
ihre sogenannte Ubiquität, über Bazillenfurcht und Bazillenjäger spötteln.
Übrigens macht man sich von dieser Ubiquität auch vielfach übertriebene
Vorstellungen. Beispielsweise ist es gar nicht so leicht, in dem leider
immer noch die Bürgersteige unserer Straßen verunreinigenden Auswurf
Tuberkelbazillen nachzuweisen. In Gießen hat sich auf meinen Wunsch Herr
Kreisassistenzarzt Dr. Bötticher der freilich nicht gerade angenehmen
Aufgabe unterzogen, nach dieser Richtung Untersuchungen anzustellen. Es
zeigte sich dabei, daß unter 243 in den verschiedensten Straßen der Stadt
gesammelten Proben auch nicht eine einzige war, in welcher dürch die mikro¬
skopische Untersuchung Tuberkelbazillen hätten festgestellt werden können.
Freilich ist dies Ergebnis offenbar ein ungewöhnlich günstiges; denn in
Liverpool sind bei ähnlichen Untersuchungen — allerdings unter Be¬
nutzung der empfindlicheren Untersuchungsmethode des Tierversuchs, —
etwa 5 Proz. der gesammelten Sputa tuberkulös gefunden. Die Straßen¬
schleppen unserer Damen und der ihnen nacheifernden Frauen aus dem Volke
bleiben also nach wie vor gefährlich.
„Rationelle besondere Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose
wurden erst möglich, als durch Robert Kochs geniale Untersuchungen
das Dunkel gelichtet war, welches bis dahin die Krankheitsentstehung ver¬
hüllte. Naturgemäß mußten alle jene Maßnahmen darauf abzielen, die Ge¬
sunden tunlichst vor der Berührung mit den spezifischen Krankheitskeimen,
den Tuberkelbazillen, zu bewahren. Vor allem sorgte man dafür, daß die
Belehrung über die Verbreitungsweise der Krankheit und die Mittel, sich
gegen die Ansteckung zu schützen, in die weitesten Volkskreise getragen
wurde. Die von tuberkulösen Tieren dem Menschen drohenden Gefahren
bekämpfte man durch geeignete veterinär-polizeiliche Maßnahmen und durch
Warnungen vor dem Genuß roher Milch und rohen Fleisches. Der un¬
schädlichen Beseitigung des gefährlichsten Krankheitsvermittlers, des Lungen-
auswurfs, wandte man besondere Aufmerksamkeit auch insofern zu, als in
öffentlichen Gebäuden, Schulen, Fabriken, Werkstätten, Gefängnissen usw.
Speigefäße aufgestellt und Verunreinigungen des Bodens tunlichst ver¬
hindert wurden. Neuerdings haben ohne Zweifel auch die Lungenheil¬
stätten sehr viel dazu beigetragen, die Kenntnis der zur Verhütung von
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose. 15
tuberkulösen Infektionen erforderlichen Maßnahmen der Bevölkerung zu
eigen zu machen. Selbst diejenigen, welche auch heute noch gegen eine
Überschätzung der Heilerfolge dieser Anstalten ihre warnende Stimme er¬
heben, werden den großen Wert der hygienischen Schulung anerkennen
müssen, welche in den Anstalten erworben und jetzt schon alljährlich durch
etwa 30000 Lungenkranke weiten Kreisen vermittelt wird. Allein von
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet bedeutet jede neue Lungenheilstätte
einen Fortschritt.
„Daß im Kampfe mit der Tuberkulose Erfolge nur langsam zu erzielen
sein würden, lag bei der Indolenz breiter Volksschichten, bei den auf dem
Gebiete des Wohnungswesens vorhandenen, nur langsam zu bessernden
schweren Mißständen, welche eine persönliche Prophylaxe vielfach aufs
äußerste erschweren, klar zu Tage. Auch war zu berücksichtigen, daß
überaus häufig der tuberkulöse Keim im Körper zunächst nur geringe Ver¬
änderungen hervormft und erst nach Ablauf von Jahren, ja Jahrzehnten
zu schwerer Erkrankung und zum Tode Veranlassung gibt. So gemessen
erscheint in der Tat der seit dem Bekanntwerden der Koch sehen Ent¬
deckung verflossene, etwa 20jährige Zeitraum als ein verhältnismäßig noch
kurzer. Und doch läßt sich die höchst erfreuliche Tatsache feststellen, daß
in allen Kulturländern (von örtlichen Verschiedenheiten und zeitlichen
Schwankungen abgesehen) die Tuberkulosesterblichkeit in unverkennbarer
Abnahme begriffen ist. Wer sich für die Ergebnisse der einschlägigen
Statistik näher interessiert, findet in der Städteausstellung, und zwar in
dem Pavillon für Volkskrankheiten und ihre Bekämpfung, in dem auch
sonst hinsichtlich der Tuberkulose reiche Belehrung geboten ist, anschau¬
liche Darstellungen. Hier sei es mir gestattet, auf ein mir besonders nahe
liegendes Beispiel hinzuweisen, das Großherzogtum Hessen, einen Bundes¬
staat, in dem bereits im Jahre 1841 die obligatorische Leichenschau ein¬
geführt ist und zu einem erheblichen Teile in den Händen von Ärzten liegt.
In Hessen starben von je 100000 Einwohnern durchschnittlich jährlich an
Lungenschwindsucht in dem fünfjährigen Zeiträume von 1885/89 285 Per¬
sonen, in den beiden folgenden fünfjährigen Zeiträumen 269 und 239 Per¬
sonen. Noch stärker tritt die Abnahme in den größeren Städten hervor. So
ist in Mainz in jenen drei Jahrfünften die Sterblichkeit an Lungenschwind¬
sucht, auf 100000 Einwohner umgerechnet, von 351 auf 261, in Darmstadt
von 278 auf 198, in Offenbach von 365 auf 240, in Worms von 305 auf
236 und in Gießen von 378 auf 263 gesunken. Faßt man die Bevölkerung
der genannten fünf größten hessischen Städte zusammen, so ergibt sich, daß
in den drei Jahrfünften die jährliche Sterblichkeit an Lungenschwindsucht,
auf je 100000 Einwohner berechnet, von 335 auf 240 sich vermindert hat
und damit auf die für das ganze Großherzogtum ermittelte Durchschnitts-
ziffer gesunken ist. Dabei sind die in den städtischen Krankenhäusern und
Kliniken verstorbenen Ortsfremden noch nicht einmal in Abzug gebracht.
„Es muß jedem überlassen bleiben, inwieweit er die Ursachen einer
solchen erfreulichen Verminderung der Schwindsuchtssterblichkeit der Ver¬
besserung der Lebensbedingungen überhaupt und der Wohnungsverhältnisse
im besonderen zuschreiben will, inwieweit er sie andererseits auf Rechnung
der in der Bevölkerung mehr und mehr sich verbreitenden Erkenntnis zu
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16 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
setzen geneigt ist, daß die Tuberkulose eine übertragbare Krankheit ist,
gegen welche man sich durch geeignete Vorsichtsmaßregeln in erheblichem
Maße schützen kann. Jedenfalls ist die Annahme wohl berechtigt, daß jene
Erkenntnis in der Bevölkerung der Städte schneller Boden gefaßt hat als
in der ländlichen Bevölkerung.
„Die Anfang dieses Jahres erschienene, im Kaiserlichen Gesundheits-
amte bearbeitete Denkschrift über die Tuberkulose und ihre Bekämpfung
weist die Abnahme der Sterblichkeit an Tuberkulose in allen Staaten des
Deutschen Reiches überzeugend nach. Die in der Denkschrift mitgeteilten
Zahlen berechtigen zu der Annahme, daß im Deutschen Reiche während
der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts etwa 38 000 Menschen weniger
an Tuberkulose gestorben sind als während der ersten Hälfte, wahrlich eine
höchst erfreuliche Tatsache. Angesichts einer solchen Abnahme der Tuber¬
kulosesterblichkeit dürfen wir überzeugt sein, daß wir mit unseren derzeitigen
Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheit auf dem richtigen Wege uns
tbefinden. Auch die Maßnahmen zur Verhütung einer von tuberkulösen
Tieren ausgehenden Krankheitsübertragung werden wir wenigstens zurzeit
nicht aufgeben dürfen, obwohl kein geringerer alsRobertKoch vor kurzem
bekanntlich dahin sich ausgesprochen hat, daß er den Menschen einer Infektion
mit sogenannten Perlsuchtbazillen für zu wenig zugänglich halte, um irgend
welche Maßregeln gegen eine Krankheitsübertragung durch Milch, Butter
und Fleisch von perlsüchtigen Tieren zu ergreifen. Die Frage ist inzwischen
auch im Kaiserlichen Gesundheitsamte unter Mitwirkung eines Unteraus¬
schusses des Reichsgesundheitsrats einer eingehenden Prüfung unterzogen,
Über welche vor kurzem Regierungsrat Professor Dr. Kos sei einen aus¬
gezeichneten Bericht erstattet hat. Aber auch nach dieser Prüfung stehen
wir vor einem: „Non liquet tt . Es werden ohne Zweifel noch umfangreiche
Untersuchungen ausgeführt und zahlreiche Beobachtungen gesammelt werden
müssen, bevor in eine Revision unserer bezüglichen praktischen Maßnahmen
eingetreten werden kann.
„Wenn ich mich nunmehr der uns beschäftigenden Frage zuwende,
nach welchen Richtungen unsere derzeitigen Maßnahmen zur Bekämpfung
der Tuberkulose der Ergänzung bedürfen, so möchte ich vorweg hervor¬
heben, daß es sich bei meinen Vorschlägen überall nur um den weiteren
Ausbau und die allgemeinere Durchführung in ihren Anfängen bereits vor¬
handener Einrichtungen handelt. Auch erhebe ich keineswegs den An¬
spruch, die umfangreiche Materie hier erschöpfend behandeln zu wollen,
möchte mich vielmehr darauf beschränken, diejenigen Aufgaben hervor¬
zuheben, welche mir für die nächste Zeit als die wichtigsten erscheinen.
„Unerläßlich für eine erfolgreiche Kriegführung ist ein gut organisierter
Aufklärungsdienst. Auf die Bekämpfung der Tuberkulose angewandt be¬
deutet dieser Satz, daß in tunlichst weitem Umfange und so frühzeitig wie
möglich bei verdächtigen Erkrankungen die Diagnose gesichert wird. Erst
wenn der Kranke und seine Umgebung über die Natur des Leidens auf¬
geklärt sind, wird erwartet werden können, daß den zur Verhütung der
Weiterverbreitung erforderlichen Maßnahmen die nötige Aufmerksamkeit
zugewandt wird. Auch im Interesse des Kranken selbst liegt es, daß die
Krankheitsdiagnose ihm nicht verheimlicht wird, da sonst nur allzu leicht
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
die ärztlichen Ratschläge gerade in einer Zeit vernachlässigt werden, in
welcher ihre Befolgung für den weiteren Verlauf entscheidend ist. Der
Vorwurf der Inhumanität, den man früher einer solchen Offenheit machen
durfte, hat heute, wo die Überzeugung von der Heilbarkeit der Tuberkulose
in alle Volksschichten eingedrungen ist, keine Berechtigung mehr.
„Auch auf diesem wichtigen Gebiete der Krankheitsermittelung hat die
großartige unter dem Protektorate Ihrer Majestät der Kaiserin und der ziel¬
bewußten Leitung des 1895 begründeten Zentralkomitees stehende Heil¬
stättenbewegung im Deutschen Reiche bereits Vortreffliches geleistet. Ist
sie doch darauf angewiesen, ihre Fürsorge gerade den im Anfangsstadium
befindlichen Kranken zuzuwenden.
„Die in einer Anzahl von Städten bereits geschaffenen Auskunfts-,
Untersuchung»- und Beobachtungsstationen bieten die Möglichkeit, in
zweifelhaften Fällen frühzeitig die erforderliche Klärung herbeizuführen.
Nicht zu unterschätzen ist auch, daß die Vertrauenspersonen der Heilstätten¬
vereine und Lande8ver8icherungsan8talten, sowie die als Gemeindeschwestern
tätigen Mitglieder der Frauenvereine vom Roten Kreuz bemüht sind, gerade
die im Anfangsstadium befindlichen Kranken ausfindig zu machen, um sie
einer geeigneten Behandlung zuzuführen. So sehr aber auch zu wünschen
ist, daß die hier eingeschlagqnen Wege immer weiter ausgebaut werden,
in erster Linie wird es doch immer Aufgabe der praktischen Ärzte und
namentlich der Krankenkassenärzte bleiben, die für ihre Umgebung gefähr¬
lichen Kranken, d. h. solche, welche mit ihren Ausscheidungen Tuberkel¬
bazillen verbreiten, zu ermitteln. Dieser wichtigen Aufgabe können die
Ärzte aber nur dann in vollem Umfange gerecht werden, wenn ihnen die
Arbeit der bakteriologischen Untersuchung abgenommen wird. Abgesehen
davon, daß sie selbst vielfach nicht die nötigen Instrumente und Einrich¬
tungen besitzen, steht ihnen in der Regel bei der Art ihrer Beschäftigung
nicht die zur Ausführung der Untersuchungen erforderliche Zeit und Ruhe
zur Verfügung. Hier müssen Staat und Kommunalverbände eintreten; denn
ohne Zweifel handelt es sich um ein wichtiges öffentliches Interesse und
dies um so mehr, als die zu schaffenden Untersuchungsstellen naturgemäß
auch bei der Ermittelung anderer übertragbarer Krankheiten wertvolle
Dienste zu leisten berufen sind. Unerläßliche Voraussetzung für eine leb¬
hafte Inanspruchnahme der bakteriologischen Stationen ist, daß die Unter¬
suchung unentgeltlich geschieht, und daß die Einsendung der Proben den
Ärzten tunlichst erleichtert wird.
„Vortrefflich hat man nach jener Richtung bereits in Belgien gesorgt,
angeregt durch die während der letzten Cholerainvasion gemachten Erfah¬
rungen. Es bestehen dort zur Zeit sechs Provinziallaboratorien, die bei
den günstigen Verkehrsverhältnissen in der Lage sind, jedem praktischen
Arzte auch in den abgelegensten Orten des Landes über die Natur des von
seinen Kranken herrührenden Materials in kürzester Frist unentgeltlich
Aufschluß zu geben. Die Aufklärung des Terrains durch die bakteriologische
Untersuchung aller verdächtigen Fälle gilt dementsprechend in Belgien
beute für eins der wesentlichsten Mittel im Kampfe mit der Tuberkulose.
„In Deutschland bleibt auf diesem Gebiete noch sehr viel zu tun, wenn
auch in den letzten Jahren der Wirkungskreis der vorhandenen öffentlichen
Vlerteljikhrsechrift für Gesundheitspflege, 1904. 2
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18 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Anstalten in erfreulicher Weise sich erweitert hat. So ist dem städtischen
Untersuchungsamte in Halle, das im Jahre 1900 im Anschluß an das
hygienische Institut der Universität errichtet ist, vom 1. April des laufenden
Jahres an ein ebensolches staatliches Amt für den ganzen etwa 1190000 Ein¬
wohner zählenden Regierungsbezirk Merseburg angegliedert. In Gießen, wo
ebenfalls in Verbindung mit dem hygienischen Institut eine Untersuchungs-
stelle geschaffen worden ist, erstreckt sich deren Tätigkeit zurzeit auf die
ganze Provinz Oberhessen; noch im Laufe dieses Jahres soll sie auf die
Provinz Starkenburg und im nächsten Jahre auf die Provinz Rheinhessen
und damit auf das ganze Großherzogtum ausgedehnt werden. Zurzeit
werden in der Gießener Stelle im Durchschnitt etwa 60 Sputa monatlich
untersucht. Die Organisation ist so, daß die Transportgefaße in den Apo¬
theken niedergelegt sind, und daß dem Arzte oder dem Kranken außer dem
Porto für die Einsendung der Proben keinerlei Kosten durch die Unter¬
suchung erwachsen. Werden Tuberkelbazillen nicht gefunden, so wird den
Ärzten empfohlen, bei Fortbestehen des Krankheitsverdachtes wiederholt
Proben einzusenden.
„Die Inanspruchnahme der bestehenden öffentlichen Untersuchungs-
ämter seitens der praktischen Ärzte ist in stetiger Zunahme begriffen. Auch
wird bei der Auswahl der Kranken anscheinend von den Ärzten immer
sorgfältiger verfahren. Bemerkenswert ist in dieser Beziehung, daß bei den
in Gießen untersuchten Sputumproben die Verhältniszahl der Fälle, in
welchen Tuberkelbazillen nachweisbar waren, ständig abgenommen hat. Im
ersten Jahre hatten wir in 40 Proz. der Proben einen positiven Befund, im
nächsten Jahre bei 33, dann bei 30 und im laufenden Jahre nur bei
29 Proz.
„Im Königreich Sachsen hat seit Oktober vorigen Jahres jeder prak¬
tische Arzt die Möglichkeit, infektionsverdächtiges Material in der Zentral¬
stelle für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden bakteriologisch unter¬
suchen zu lassen. Auch hier geschieht die Untersuchung, um — wie es in
der Ministerialbekanntmachung heißt — ihre Unterlassung aus Scheu vor
den entstehenden Kosten zu verhüten, unentgeltlich. Die Transportgeffiße
werden seitens der Zentralstelle den Ärzten auf Antrag zur Verfügung
gestellt.
„Handelt es sich bei der Schaffung derartiger bakteriologischer Unter¬
suchungsstationen um eine Maßnahme, die höchstens in den Finanzministerien
ein gewisses, bei der geringen Höhe der erforderlichen Mittel aber selbst in
unseren geldknappen Zeiten wohl überwindbares Bedenken erregen kann,
so wird die Forderung einer weiteren, zur Ermittelung gewisser Tuberkulose¬
fälle nicht mehr zu entbehrenden Einrichtung vielleicht hier und da noch
grundsätzlichem Widerspruch begegnen; ich meine die Forderung einer
wenn auch beschränkten Anzeigepflicht. Die Anzeigen sollen nicht etwa
statistischen Zwecken dienen, sondern der Krankheitsbekämpfung. Es ge¬
nügt daher, wenn sie sich vorerst nur auf solche Tuberkulosefälle erstrecken,
in welchen die Anordnung oder doch die Überwachung bestimmter Schutz¬
maßregeln seitens der Behörde im öffentlichen Interesse unbedingt geboten
ist. In erster Linie sind dies: Todesfälle an Lungen- oder Kehlkopfschwind¬
sucht, ferner die Fälle, in welchen an vorgeschrittener Lungen- oder Kehl-
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
kopfsch windsucht Erkrankte aus ihren Wohnungen verziehen oder in eine
Heilanstalt gebracht werden, und endlich die Fälle , in welchen an vor¬
geschrittener Lungen- oder Eehlkopfschwindsucht Erkrankte in Rücksicht
auf ihre Wohnungsverhältnisse oder unsauberen Lebensgewohnheiten ihre
Umgebung hochgradig gefährden. Es wird meines Erachtens genügen, die
Anzeigepflicht den behandelnden Ärzten aufzuerlegen, deren pflichtmäßigem
Ermessen es anheimgestellt bleiben muß, welche Krankheitsfälle als vor¬
geschritten anzusehen sind, und wo eine hochgradige Gefährdung als vor¬
handen zu erachten ist. Ferner möchte ich empfehlen, in den zu erlassenden
Verordnungen von jeder Strafbestimmung abzusehen , da die erhofften Er¬
folge doch nur zu erreichen sind, wenn die Ärzte ihre Mitwirkung bereit¬
willig und aus eigener Überzeugung gewähren. Den Wert der Verordnungen
sehe ich zu einem nicht geringen Teile darin, daß den Ärzten gegenüber
ihren Kranken und deren Angehörigen der nötige Rückhalt geschaffen wird.
Nur allmählich werden wir auf diesem schwierigen Gebiete vorwärts kommen
können, und wir werden es in den Kauf nehmen müssen, wenn den Ver¬
ordnungen von einem Teil der Ärzte zunächst nicht Rechnung getragen
wird. Wo eine allgemeine Leichenschau bereits eingeführt ist, wird auch
den Leichen8chauern die Anzeigepflicht für Tuberkulosetodesfälle aufzuer¬
legen sein.
„Mit der Einführung der Anzeigepflicht für Tuberkulose machen wir
heute keinen Sprung ins Dunkle mehr. Außerhalb und innerhalb des
Deutschen Reiches verfügt man bereits über Erfahrungen, welche hinreichen,
ihre Durchführbarkeit außer Zweifel zu stellen. Am frühesten und im
weitesten Umfange hat man in New York von ihr Gebrauch gemacht, wo
der Vorsteher des Gesundheitsamtes Dr. Biggs den Kampf gegen die
Seuche energisch und mit so vorzüglichem Erfolge in die Wege geleitet hat,
daß seit Mitte der 80er Jahre die Sterblichkeit an Tuberkulose um mehr
als 35 Proz. verringert worden ist. In Norwegen sind nach den Bestim¬
mungen eines im Jahre 1900 erlassenen, sehr beachtenswerten besonderen
Tuberkulosegesetzes nicht nur alle Todesfälle an Tuberkulose, sondern auch
die Erkrankungsfälle und zwar insoweit anzeigepflichtig, als sie mit Ab¬
scheidungen verbunden sind, welche eine Gefahr für die Ausbreitung der
Krankheit als naheliegend erscheinen lassen. Auch in Italien ist durch die
im Jahre 1901 erlassenen Ausführungsbestimmungen zu dem bestehenden
Gesundheitspflegegesetz eine beschränkte Anzeigepflicht für Tuberkulose
eingeführt. Was Deutschland betrifft, so hat im Jahre 1897 der preußische
Minister der Medizinalangelegenheiten die oberen Verwaltungsbehörden auf
die Notwendigkeit hingewiesen, die Einführung der Anzeigepflicht wenig¬
stens für die Todesfälle an Tuberkulose anzustreben. Dementsprechend ist
denn auch in dem vor wenigen Monaten im preußischen Abgeordnetenhause
verhandelten, leider nicht zur Verabschiedung gekommenen Entwürfe eines
Ausführungsgesetzes zum Reichsseuchengesetze die Anzeigepflicht für Todes¬
fälle an Lungen- und Kehlkopfschwindsucht allgemein vorgesehen, für
Krankheitsfälle zunächst aber nur insoweit, als ein an vorgeschrittener
Lungen- und Kehlkopftuberkulose Leidender seine Wohnung wechselt.
Übrigens soll das Staatsministerium nach dem Entwürfe die Berechtigung
haben, die Anzeigepflicht bei Lungen- und Kehlkopfschwindsucht über den
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20 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
bezeichneten Umfang hinaus zu erweitern. Für das Königreich Sachsen ist
bereits im Jahre 1900 eine beschränkte Anzeigepflicht eingeführt, und das
Großherzogtum Baden ist diesem Vorgänge im Jahre 1902 gefolgt. In
beiden Bundesstaaten ist durch MinisterialVerordnung den Ärzten die Ver¬
pflichtung auferlegt, vorgeschrittene Fälle von Lungen- oder Kehlkopf¬
schwindsucht nicht nur beim Wohnungswechsel, sondern auch bei hoch¬
gradiger Gefährdung der Umgebung zur Anzeige zu bringen. Außerdem
sind in Sachsen noch alle Fälle von Lungen- oder Kehlkopfschwindsucht
anzeigepflichtig, welche in Privatkrankenanstalten, in Waisen-, Armen- und
Siechenhäusern, sowie in Gast- und Logierhäusern, Herbergen, Schlafstellen,
Internaten und Pensionaten Vorkommen. In Baden hat man von diesen
Zusatzbestimmungen abgesehen, dagegen die in Schulen und Erziehungs¬
anstalten, sowie in den zu ihnen gehörigen Räumen vorkommenden Erkran¬
kungen anzeigepflichtig gemacht.* Erwähnen will ich noch, daß in einer
Anzahl von preußischen Städten und VerwaltungBgebieten auf Grund von
Polizeiverordnungen eine beschränkte Anzeigepflicht eingeführt ist, und daß
das Großherzogtum Hessen voraussichtlich dem von Sachsen und Baden
gegebenen Beispiele bald folgen wird.
„So sehen wir denn immer mehr die Erkenntnis sich Bahn brechen,
daß der Staat auch der Tuberkulose gegenüber auf eine Maßnahme nicht
verzichten kann, deren Anwendung bei der Bekämpfung anderer gefährlicher
Infektionskrankheiten sich bewährt hat und als selbstverständlich gilt.
„Die Frage, welche Anordnungen von den Behörden auf die erfolgten
Anzeigen hin getroffen werden sollen, läßt sich für die Todesfälle, sowie für
die Fälle, in welchen ein an vorgeschrittener Schwindsucht Erkrankter aus
seiner Wohnung verzieht oder in eine Heilanstalt gebracht wird, leicht be¬
antworten. Für alle diese Fälle ist, wie es beispielsweise in Sachsen und
Baden geschehen ist, die obligatorische Desinfektion einzuführen. Die
Wiederbenutzung der infizierten Räume darf nicht eher gestattet werden,
als bis die Desinfektion beendet ist. Bei Todesfällen hat die Desinfektion
auch auf die von den Kranken benutzten Gegenstände, soweit sie nicht als
wertlos vernichtet werden können, sich zu erstrecken. Die Durchführung
dieser Maßnahmen macht in den größeren und mittleren Städten, in welchen
besondere mit Dampfapparaten ausgestattete Desinfektionsanstalten und ge¬
schulte Desinfektionskolonnen zur Verfügung stehen, keine Schwierigkeiten.
Um so mehr ist das der Fall in den kleinen Städten und auf dem flachen
Lande. Hier gilt es zunächst dafür zu sorgen, daß in genügender Zahl
zuverlässige und intelligente Leute zu Desinfektoren ausgebildet werden,
deren Tätigkeit der Überwachung durch die beamteten Ärzte zu unterstellen
ist. Übrigens werden Desinfektionen aus Anlaß des Wohnungswechsels bei
weitem am häufigsten in städtischen Gemeinwesen auszuführen sein, wo die
hauptsächlich von der Tuberkulose heimgesuchten unteren Bevölkerungs-
Schichten bei der Geringfügigkeit ihres Hausrats überaus beweglich zu sein
pflegen. Die aus der Häufung der Desinfektionen an den Umzugsterminen
sich etwa ergebenden Schwierigkeiten werden durch Heranziehung geschulten
ReBervepersonals zu überwinden sein.
„Nicht zu bestreiten ist, daß unsere Desinfektionstechnik, auch nach
Einführung des Formaldehydverfahrens, noch an manchen Mängeln leidet
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
und der völligen Zuverlässigkeit entbehrt. Um so notwendiger ist es, der
Wohnongsdesinfektion eine gründliche Wohnungsreinigung anzuschließen,
dem Desinfektor die Scheuerfrau folgen zu lassen, wie das hier in Dresden
ganz regelmäßig geschieht.
„ Schon vor 13 Jahren habe ich als Berichterstatter unseres Vereins
gelegentlich der in Braunschweig abgehaltenen Versammlung den Satz ver¬
treten, daß die Kosten, welche durch die obligatorische Wohnungsdesinfek-
tion erwachsen, aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten seien. Auf diesem
Standpunkte stehe ich nooh heute. Zum mindesten aber sollte für wenig
bemittelte Personen die Desinfektion unentgeltlich sein.
„Hervorheben möchte ich, daß in Hamburg schon seit dem Jahre 1894
für alle Fälle, in welchen eine Desinfektion auf behördliche Anordnung oder
auf Grund gesetzlicher Vorschriften erfolgen muß, Gebührenfreiheit gewähr¬
leistet ist.
„Auch da, wo ein Desinfektionszwang für die Krankheit noch nicht
besteht, pflegt heute bereits ein erheblicher Teil, wenn nicht die Mehrzahl
der überhaupt ausgeführten Wohnungsdesinfektionen durch Tuberkulose
veranlaßt zu sein, ein Beweis, wie sehr die Überzeugung von ihrer An-
steckungsfähigkeit in den einsichtigen Kreisen der Bevölkerung sich be¬
festigt hat, und wie gut der Boden für Einführung der obligatorischen Des¬
infektion vorbereitet ist.
„Daß die überfüllten Wohnungen der Armen die eigentlichen Brut¬
stätten der Tuberkulose sind, liegt heute klar zutage. Aus eigener reicher
Erfahrung hat Robert Koch auf dem vor zwei Jahren abgehaltenen bri¬
tischen Tuberkulosekongreß diese Verhältnisse anschaulich mit folgenden
Worten geschildert: „Die ganze Familie ist auf einen oder zwei enge,
schlecht ventilierte Räume angewiesen. Der hilfsbedürftige Schwindsüchtige
ist ohne Pflege, weil die leistungsfähigen Mitglieder der Familie auf Arbeit
gehen müssen. Wie kann unter solchen Verhältnissen für die notwendige
Reinlichkeit gesorgt werden? Wie soll ein solcher hilfloser Kranker seinen
Auswurf so beseitigen, daß er keinen Schaden mehr anrichtet? Nun male
man sich aber noch weiter aus, wie sich die Zustände in der Wohnung des
unbemittelten Schwindsüchtigen des Nachts gestalten. Da schläft die ganze
Familie zusammengedrängt in einem engen Raum. Der Schwindsüchtige
verstreut beim Husten, auch wenn er noch so vorsichtig ist, den von seiner
kranken Lunge abgesonderten Krankheitsstoff, und seine in nächster Nähe
befindlichen Angehörigen müssen dieses Gift einatmen. In solcher Weise
werden ganze Familien infiziert. Sie verfallen dem Schicksal des Aus¬
sterbens und erweckten bei denen, welche die Ansteckungsfähigkeit der
Tuberkulose noch nicht kannten, den Anschein, als sei die Tuberkulose ver¬
erbbar, während es sich dabei doch nur um die einfachsten Ansteckungs¬
vorgänge handelt, welche deswegen nicht so in die Augen springend sind,
weil die Folgen der Ansteckung nicht sofort, sondern gewöhnlich erst nach
Jahren zum Vorschein kommen.“
„Klarer und nachdrücklicher, als es mit diesen Worten geschehen ist,
kann wohl nicht darauf hingewiesen werden, nach welcher Richtung unsere
Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose heute besonders der Er¬
gänzung bedürfen. Fälle wie die geschilderten sollten nicht länger sich
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22 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
selbst überlassen bleiben; auf die erstattete Anzeige hin wird vielmehr
seitens der Behörde und ihres berufenen Vertreters, des beamteteten Arztes,
zu erwägen sein, und zwar tunlichst im Einvernehmen mit dem behandelnden
Arzte, wie nach Lage des Falles Abhilfe geschaffen werden kann. Das
wirksamste Mittel, unter ungünstigen WohnungsVerhältnissen und bei un¬
sauberen Lebensgewohnheiten der Kranken weitere Infektionen zu ver¬
hindern, besteht, darüber herrscht wohl völlige Übereinstimmung, in der
Verbringung der Kranken in ein Krankenhaus. Hier ist überdies für sie
selbst am besten gesorgt, und es lassen sich leicht die erforderlichen Vor¬
sichtsmaßregeln durchführen, auch ohne daß eine schwer empfundene Ab¬
sonderung erforderlich ist. Die Zustimmung der Kranken und ihrer
Angehörigen zu erlangen, bietet nach den bisherigen Erfahrungen im all¬
gemeinen keine großen Schwierigkeiten. Auf der einen Seite wird die
Überredung durch die von den meisten Schwindsüchtigen auch im vor¬
geschrittenen Krankheitsstadium zähe festgehaltene Hoffnung auf Genesung
erleichtert, auf der anderen Seite durch den Umstand, daß der Familie eine
schwere Last abgenommen wird. Einen Zwang auszuüben, wie er z. B. in
dem norwegischen Tuberkulosegesetz als letztes Mittel vorgesehen ist,
erscheint bei der derzeitigen Verbreitung der Krankheit für uns weder Tät¬
lich, noch erforderlich. Nicht die Abneigung gegen die Unterbringung in
Hospitälern oder Invalidenheimen ist es, welche heute noch der allgemeineren
Durchführung der Maßnahme hinderlich ist, sondern der Mangel an den
erforderlichen Anstalten und die Schwierigkeit, die zur Unterhaltung der
Kranken nötigen, sehr erheblichen Geldmittel aufzubringen. Die hier zu
lösende Aufgabe ist eine so gewaltige, daß wir auch dann, wenn alle ver¬
fügbaren Kräfte, Staat, Gemeinden und Gemeindeverbände, Vereine und
Private mitwirken, nur sehr langsam dem Ziele uns werden nähern können.
Andererseits dürfen wir uns aber auch angesichts der im Kampfe mit der
Tuberkulose schon jetzt gewonnenen Erfolge der berechtigten Hoffnung
hingeben, daß die Aufgabe von Jahrzehnt zu Jahrzehnt leichter werden
wird.
„Es ist verständlich, daß diejenigen, welche in der Unterbringung
der ihre Umgebung gefährdenden Schwindsüchtigen in Heimstätten und
Asylen oder in besonderen Abteilungen bestehender Krankenhäuser eine
der wichtigsten Maßnahmen gegen die Tuberkulose erblicken, ihre Hoff¬
nungen in erster Linie auf die Landesversicherungsanstalten setzen, durch
deren Mitwirkung ja auch die Anstaltsfürsorge für die heilungsfähigen
Kranken ihre großartigen Erfolge hauptsächlich erreicht hat. In der Tat
gibt bekanntlich der §25 des Invalidenversicherungsgesetzes die Möglichkeit,
an vorgeschrittener Lungenschwindsucht leidenden Rentenempfängern auf
ihren Antrag an Stelle der Rente die Aufnahme in ein Invalidenhaus oder
ähnliche von Dritten unterhaltene Anstalten auf Kosten der Versicherungs¬
anstalt zu gewähren. Der so eröffnete Weg ist auch hier und da schon
beschritten worden. So haben die Landesversicherungsanstalten Berlin,
Braunschweig und Thüringen bereits je ein Invalidenheim für Lungenkranke
in Betrieb, und vor wenigen Monaten ist das von der hanseatischen Landes¬
versicherungsanstalt zu Großhansdorf bei Hamburg errichtete, dem gleichen
Zwecke dienende Invalidenheim eingeweiht worden. Einige andere Ver-
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
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8icherang8&n8talten weisen schon jetzt an Lungenschwindsucht leidende
Rentenempfänger Krankenhäusern zu, wobei sich, wie besonders von der
Versicherungsanstalt Oldenburg hervorgehoben wird, der Vorteil ergibt, daß
die Kranken von ihren Angehörigen nicht durch allzu große Entfernungen
getrennt werden.
„Es ist zu hoffen, daß die Versicherungsanstalten in immer weiterem
Umfange von der durch den § 25 des Gesetzes gegebenen Befugnis Gebrauch
machen werden, obwohl die Kosten für die Unterbringung in einem Inva¬
lidenheim oder Krankenbause den Betrag der Rente erheblich übersteigen
und mit den verhältnismäßig geringen Kosten der Heilstättenfürsorge nicht
in eine Linie zu stellen sind. Klar und überzeugend hat die hier zu über¬
windenden finanziellen Schwierigkeiten gelegentlich der im vorigen Jahre
in Berlin abgehaltenen ersten internationalen Tuberkulosekonferenz der um
die Bekämpfung der Krankheit hochverdiente Direktor der hanseatischen
Versicherungsanstalt dargelegt, dessen 1895 in Stuttgart erstatteter Bericht
über die Erbauung von Heilstätten für Lungenkranke in den Annalen unseres
Vereins stets eine hervorragende Stelle einnehmen wird. Mit vollem Rechte
hat Herr Direktor Gebhard gelegentlich jener Konferenz die Notwendig¬
keit betont, die zu errichtenden Invalidenheime so zu gestalten und zu
betreiben, daß die Gefahr der Krankheitsverbreitung in ihnen selbst und in
ihrer Umgebung nach Möglichkeit ausgeschlossen ist, daß andererseits aber
auch ihren Insassen das Gefühl zu weit gehender Abgeschlossenheit erspart
bleibt. Auch darin kann man ihm nur zustimmen, daß kleinere Gebäude
den Vorzug vor größeren verdienen, daß vor allem größere gemeinschaft¬
liche Schlafsäle zu vermeiden sind, und daß beim Bau und im Betriebe der
Anstalten von jedem unnützen Luxus abzusehen ist. Je niedriger die Kosten
für ein Bett sich stellen, um so zahlreicheren Bedürftigen wird die Wohl¬
tat der Unterbringung zuteil werden können; je vollkommener es gelingt,
den Aufenthalt den Verhältnissen der Familie entsprechend zu gestalten,
um so leichter werden die Kranken zum Eintritt und zum Verbleiben geneigt
sein. Möge allen Schwierigkeiten zum Trotz die von Herrn Direktor
Gebhard ausgesprochene Hoffnung sich erfüllen, „daß durch das Vorgehen
der Versicherungsanstalten auch andere Kräfte wachgerufen werden, an
dem großen Werke mitzuarbeiten, und daß wir durch das hingebungsvolle
Zusammenwirken aller Beteiligten in Deutschland bald eine dem Bedürf¬
nisse wenigstens einigermaßen genügende Zahl von Isolieranstalten für
solche Lungenkranke, die ihre Umgebung gefährden, werden entstehen
sehen tf .
„Ist die Verbringung des seine Umgebung hochgradig gefährdenden
Schwindsüchtigen in ein Krankenhaus oder eine Heimstätte das wirksamste
Mittel, weitere Infektionen zu verhüten, so dürfen wir in den Fällen, in
welchen sich der Durchführung jener Maßnahme unüberwindliche Hinder¬
nisse entgegenstellen, die Hände doch nicht in den Schoß legen. Schon
durch Belehrung, durch Schaffung von Speigefaßen und Desinfektionsmitteln,
sowie durch eine ständige Überwachung ist erfahrungsgemäß manches zu
erreichen. Sehr bemerkenswert ist auf diesem Gebiete unter anderem die
Tätigkeit der neuerdings in Frankreich und in Belgien ins Leben gerufenen
Dispensaires antüuberctäeux , die in erster Linie hygienische Erziehung und
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24 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Verhütung von Infektionen in den Familien sich zur Aufgabe gemacht
haben. Ganz besonders nachahmenswert aber sind die neuerdings hier und
da hervorgetretenen Bestrebungen, die Isolierung des Schwindsüchtigen in
seiner eigenen Familie durch die Verbesserung der Wohnungs Verhältnisse
nach Möglichkeit zu fördern.
„Als vorbildlich kann hier das Vorgehen des Zweigvereins zur Be¬
kämpfung der Schwindsucht in der Stadt Halle gelten, über das vor kurzem
der Vereins Vorsitzende Herr Stadtrat Pütt er in der Zeitschrift für Tuber¬
kulose und Heilstättenwesen einen in mehrfacher Beziehung sehr beachtens¬
werten Bericht erstattet hat.
„Der Verein sucht die Isolierung innerhalb der Familie nicht nur da¬
durch zu erreichen, daß dem Kranken besonderes, von ihm allein zu
benutzendes Eß*, Trink- und Waschgeschirr gesichert wird; er sorgt auch
dafür, daß der Kranke weder mit Angehörigen in einem Bette schläft, noch
mit ihnen ein Zimmer teilt. Erforderlichenfalls werden der Familie die
Mittel gewährt, entweder ein geeignetes Zimmer zuzumieten oder eine neue
passende Wohnung zu entsprechend höherem Preise zu nehmen. Bei der
fortlaufenden Überwachung solcher Wohnungen wird besonderes Gewicht
auf gute Lüftung und größte Sauberkeit gelegt. Dem Vereine, dessen Vor¬
sitzender auch den Vorsitz in der städtischen Armen Verwaltung und im Ge¬
meindewaisenrat innehat, stehen neun besoldete städtische Waisenpflege¬
rinnen, den gebildeten Ständen angehörend, zur Verfügung. Seine Mittel
belaufen sich auf jährlich 8000 bis 10000 Mk., von denen die Stadtver¬
waltung 3000 Mk. beisteuert.
„In ganz ähnlicher Weise, wie es in Halle geschieht, sorgt im Kreise
Altena i. W. ein Großindustrieller, der Geheime Kommerzienrat Selve, auf
seinen Werken für die Arbeiterfamilien, in denen sich tuberkulöse Mitglieder
befinden. Ich entnehme das neben manchem anderen dem ausgezeich¬
neten Berichte, welchen der unermüdliche Generalsekretär des Zentral¬
komitees zur Errichtung von Heilstätten, Prof. Dr. Pannwitz, über den
Stand der Tuberkulosebekämpfung im Frühjahr 1903 veröffentlicht hat.
„Wo die Entfernung eines an vorgeschrittener Schwindsucht leidenden,
seine Umgebung hochgradig gefährdenden Kranken aus seiner Wohnung
sich nicht erreichen läßt, da werden unter Umständen die gesunden Familien¬
angehörigen, soweit sie nicht zur Pflege des Kranken erforderlich sind,
anderweitig untergebracht und so vor der Infektion geschützt werden
können. Ich denke hier hauptsächlich an die im Kindesalter stehenden
Familienmitglieder, welche an sich schon der Ansteckung in hervorragendem
Maße zugänglich sind und zudem über keinerlei Mittel verfügen, sich vor
ihr zu schützen. In unmittelbarer Umgebung des Kranken, auf seinem
Bette und auf dem häufig mit dem Luugenauswnrf unmittelbar verun¬
reinigten Fußboden spielend, jeden Gegenstand und ihre mit dem An¬
steckungsstoff verunreinigten Finger fortwährend in den Mund führend,
dazu schlecht ernährt und ohne die nötigste Pflege sind sie der Infektion
so gut wie sicher verfallen. Wie erst die Verhältnisse sich gestalten,
wenn das erkrankte Mitglied der Familie die Mutter ist, wenn unter den
Kindern auch noch ein Säugling sich befindet , das brauche ich Ihnen nicht
weiter auszumalen.
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
25
„Hier bleibt der öffentlichen und privaten Wohlfahrtspflege noch ein
weites Feld fflr segensreiche Arbeit. Vor allem gilt es, Säuglingsasyle and
Kinderheime za schaffen, in denen die Kinder nicht nar vor weiterer An¬
steckungsgefahr bewahrt, sondern auch durch sorgsamste Pflege und Er¬
nährung zur Überwindung etwa schon erfolgter Infektionen befähigt werden.
Was solche Anstalten selbst unter schwierigen äußeren Verhältnissen in der
Hand erfahrener Kinderärzte zur Rettung elender und erkrankter Säug¬
linge zu leisten vermögen, dafür bietet das unter der Leitung des Herrn
Prof. Dr. Schloßmann stehende Säuglingsheim hier in Dresden einen
schlagenden Beweis.
„Der Bekämpfung der Tuberkulose im Kindesalter wird erfreulicher¬
weise auch seitens der Heilstättenbewegung mehr und mehr Rechnung ge¬
tragen. Es sei hier auf zwei neueröffnete Anstalten, die Kinderheilstätte
in Belzig und die vom Vaterländischen Frauenverein zu Halle errichtete
Kinderheilstätte hingewiesen. Nach einem von Herrn Prof. Pannwitz
mitgeteilten Berichte entstammen die Insassen der Hallenser Anstalt zu
mehr als einem Drittel tuberkulösen Familien. Die gemachten Erfahrungen
sind auch hier fast durchweg gute; Lungenkatarrhe erblich belasteter Kinder
geben zurück, Drüsenpakete verschwinden, skrofulöse Hautausschläge heilen
aus, Blutarme und Eßunlustige erhalten rote Backen und Appetit.
„Schon reichlich lange habe ich, meine hochgeehrten Damen und Herren,
Ihre Geduld in Anspruch genommen. Gestatten Sie mir, bevor ich schließe,
nur noch auf einen Punkt hinzuweisen, in dem meines Erachtens unsere
Maßnahmen noch sehr unzureichend sind, ich meine die Fernhaltung tuber¬
kulöser Personen von solchen Berufen und Beschäftigungen, welche die
Gefahr einer Übertragung der Krankheit besonders naheliegend erscheinen
lassen. Es gilt, hier denselben Grundsatz anzuwenden, dessen Beachtung
wohl in erster Linie die im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte in der
deutschen Armee erzielte außerordentliche Abnahme der Tuberkulose zu
danken ist. Nach einer von Herrn Hafenarzt Dr. Nocht veröffentlichten
Statistik sind von den in Hamburger und Bremer Krankenhäusern während
der Jahre 1888 bis 1895 gestorbenen Seeleuten nicht weniger als 38 Proz.,
also mehr als der dritte Teil, der Tuberkulose erlegen. Gewiß ist an¬
zuerkennen, daß in vielen Fällen die mit dem Seemannsberufe verbundenen
Schädlichkeiten den vielleicht schon in früher Jugend in den Körper auf¬
genommenen Krankheitskeim zu verderblicher Entwickelung angeregt
haben mögen; andererseits läßt sich doch aber auch nicht bestreiten, daß
durch das Zusammenleben in den engen und dunkeln Mannschaftsräumen
der Schiffe die Ansteckung von Person zu Person besonders begünstigt
wird. Die Fernhaltung tuberkulöser Personen vom Seemannsberufe liegt also
ebensosehr in ihrem eigenen Interesse, wie in dem der gesunden Schiffs¬
bevölkerung.
„Noch weit größere Verheerungen als unter den Seeleuten richtet die
Tuberkulose unter den Arbeitern mancher stauberzeugenden Betriebe an.
So sind bei den Steinhauern und Metallschleifern nach den angestellten
Erhebungen 50 Proz. aller Todesfälle und mehr auf Rechnung der Tuber¬
kulose zu setzen. Erfreulicherweise wird neuerdings den nachteiligen
Einwirkungen des Staubes auf die gewerblichen Arbeiter seitens der Behörden
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26 xxvni. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
und vor allem seitens des Bundesrats nachdrücklich entgegengewirkt und
dabei namentlich auf den Schutz der jugendlichen Arbeiter gebührende
Rücksicht genommen; es sollte aber auch der hier besonders großen An¬
steckungefahr dadurch vorgebeugt werden, daß Arbeiter, die mit ihrem
Auswurf Tuberkelbazillen entleeren, nach Möglichkeit von der Beschäftigung
in diesen Betrieben ausgeschlossen werden.
„An offener Tuberkulose leidende Personen gehören ohne Zweifel auch
nicht in solche Betriebe, in welchen Nahrungs- und Genußmittel hergestellt
oder feilgehalten werden, z. B. Molkereien, Bäckereien, Zigarrenfabriken
und die zugehörigen Verkaufsstätten. Noch vor kurzem ist ein für diese
Frage sehr bezeichnender Fall zu meiner Kenntnis gekommen. Ein an
vorgeschrittener Schwindsucht leidender Mann verkaufte bis zu seinem auf
der Straße an Blutsturz erfolgten Tode in einer Selterswasserbude Mineral¬
wasser, Gebäck, Süßigkeiten, Obst, Zigarren u. dgl. m. Die Gefahr einer
Krankheitsübertragung durch infizierte Nahrungs- und Genußmittel mußte
unter diesen Umständen um so näher liegen, als zu den Kunden des Mannes
begreiflicherweise auch vielfach Kinder gehörten.
„So dringend zu wünschen nun aber auch der grundsätzliche Ausschluß
Schwindsüchtiger aus manchen Betrieben ist, so schwer wird er bei der
heutigen Verbreitung der Tuberkulose aus Gründen, die ich hier wohl nicht
zu erörtern brauche, sich erreichen lassen. Wir werden vorerst zufrieden
sein müssen, wenn die Erkenntnis von der Notwendigkeit der Maßnahmen
immer allgemeiner wird und ihre Anwendung überall da angestrebt wird,
wo sie ohne Härte möglich erscheint.
„Wenn ich nunmehr meine Ausführungen schließe, so tue ich es in der
zuversichtlichen Hoffnung, daß bis dahin, wo unser Deutscher Verein für
öffentliche Gesundheitspflege wiederum, und dann zum fünften Male, mit
der Tuberkulose sich beschäftigen wird, im Kampfe mit der Krankheit neue
unverkennbare Fortschritte erzielt sein werden. Wie sollte das auch anders
sein in einer Zeit, in der unablässig an der Milderung des Wohnungselends
gearbeitet, der Sinn für Reinlichkeit durch überall entstehende Volks- und
Schulbäder gefördert, dem verderblichen Alkoholmißbrauch nachdrücklich
entgegengewirkt, für die Herstellung der heilungsfähigen Lungenkranken
in großartigster Weise gesorgt wird, und die besonderen Maßnahmen zur
Verhütung der Krankheit unablässig vervollkommnet und ausgebaut werden.
„Möge man da, wo die Meinungen über die im Kampfe einzuschlagen¬
den Wege auseinandergehen, der Losung folgen: „Getrennt marschieren,
vereint schlagen!“
Der Vorsitzende eröffnet hierauf die Diskussion.
Stadtarzt Direktor Dr. Petruschky (Danzig) begrüßt es mit
Freuden, daß nach dem Vorschlag des Herrn Referenten die sanitätspolizei¬
liche Bekämpfung der Tuberkulose etwas schärfer in die Hand genommen
werden solle, daß die Untersuchungsstationen für tuberkulösen Auswurf
vermehrt werden sollen, daß auch die in Braunschweig vor etwa sechs
Jahren von ihm gewagte Anregung zur Begründung besonderer „Heim-
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
27
statten“ für nicht mehr heilbare, invalide Tuberkulöse auf fruchtbaren
Boden gefallen sei.
Aber alles dies erscheine ihm doch noch nicht genügend für den
gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Kenntnisse und Erfahrungen.
Die wissenschaftliche Grundlage der heutigen Tuberkulosebekämpfung reiche
etwa 20 Jahre zurück, als Robert Koch den Tuberkelbazillus entdeckt
und Brehmer seine Erfahrungen über die Heilbarkeit der Tuberkulose in
Sanatorien der Öffentlichkeit übergeben habe. Inzwischen aber sei die
Wissenschaft nicht stehen geblieben. Man habe in der Zeit viel gelernt
auf dem Gebiete der Tuberkulose, und so habe man auch gelernt, daß man
durch die Untersuchung des Auswurfs auf Tuberkelbazillen immer nur
späte Diagnosen stellen könne, nur das Stadium, in welchem die Tuber¬
kulose kaum noch heilbar sei, und der. Tuberkulöse ein außerordentlich ge¬
fährliches Objekt für seine Mitmenschen geworden sei. Diesem Stadium
gehe aber bekanntermaßen ein jahrelanges Frühstadium voraus, in welchem
die Diagnose schwer zu stellen sei. Zur Erkennung der Tuberkulose in
diesem Frühstadium gewähre das Koch sehe Tuberkulin ein ausgezeichnetes
Mittel, das es ermögliche, die Tuberkulose mit exakter wissenschaftlicher
Sicherheit zu einer Zeit zu erkennen, in der sie noch keine ansteckende
Krankheit sei, und sie auch durch die spezifische Erhöhung der Wider¬
standsfähigkeit des Kranken zu beseitigen.
Wenn man also eine Vermehrung der wissenschaftlichen Stationen zur
Untersuchung auf Tuberkulose erwirken wolle, dürfe man sich nicht damit
begnügen, Stationen zur Untersuchung des Auswurfs zu empfehlen, sondern
man ltifese Sachen, Untersuchungsstationen zu schaffen, die imstande seien,
auch die Frühdiagnose mittels Tuberkulin in sachgemäßer Weise zu
handhaben.
Dieselben Stationen seien dann auch in der Lage, die Nachunter¬
suchung der anscheinend Geheilten, z. B. der aus den Heilstätten Ent¬
lassenen, in die Hand zu nehmen, die Nichtgeheilten in weitere Beobachtung,
ev. Behandlung mit Tuberkulin zu nehmen, oder sie zu geeigneter Weiter¬
behandlung an andere Ärzte zu überweisen, solange bis wirklich exakte
Tuberkuloseheilung erzielt sei, bis der Betreffende dauernd nicht mehr
auf Tuberkulin reagiere.
Dieser Vorschlag enthalte nicht etwas ganz Neues und Unerhörtes, da
bereits manche Stadt eine solche Station besitze, wie Danzig und Stettin,
wo sie aus der freien Initiative der Ärzte hervorgegangen sei, oder Breslau,
wo sie vor mehr als Jahresfrist durch die dortige Landes versicherungs •
anstalt ins Leben gerufen worden sei, und wo innerhalb eines Jahres mehr
als S00 Frühdiagnosen mittels Tuberkulin gestellt worden seien.
Er erlaube sich deshalb, den Leitsätzen des Herrn Referenten noch
zwei weitere hinzuzufügen, etwa folgenden Wortlauts:
„Zu einer wirksamen Bekämpfung der Tuberkulose
bedürfen wir wissenschaftlicher Untersuchungsstationen,
welche nicht nur die Untersuchung des Auswurfs, sondern
auch die Frühdiagnose mittels Tuberkulin sachverständig
zu handhaben verstehen.“
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28 XXVIU. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Und der zweite Leitsatz möchte so lauten:
„Den Stadtgemeinden ist zu empfehlen, die armen¬
ärztliche Fürsorge für die Tuberkulösen im Sinne der
französischen Dispensaires zu zentralisieren.“
Vielleicht lasse sich eine Vereinigung dieser beiden Arten von Stationen
bewerkstelligen. Die Zentralisation habe vor allem den Zweck, tuberkulösen
Seuchenherden, deren jede größere Stadt welche habe, energischer zu
Leibe zu gehen als bisher, sie in ihren Schlupfwinkeln aufzusuchen und sie
so weit als möglich allmählich zu beseitigen.
Beigeordneter Lehwald (Duisburg) betont, daß das auch für den
Laien so überaus klar und verständlich erstattete Referat des Herrn Geheim¬
rat Gaffky für den Verwaltungsbeamten eine große Fülle von Anregungen
enthalte. Wie der Referent bemerkt habe, sei ein Teil der von ihm hier
vorgeschlagenen Maßnahmen bereits in einer Anzahl von Städten durch¬
geführt, und zwar treffe dies besonders zu für die unter 2, 3 und 4 der
Schlußsätze geforderten Maßnahmen. Man könne freilich darüber streiten,
ob es richtig sei, in diesem Falle einen polizeilichen Zwang auszuüben, ob
es nötig sei, für die Ärzte die Anzeigepflicht festzusetzen und insbesondere
gegenüber den Inhabern der gefährdeten Wohnungen einen Desinfektions¬
zwang auszuüben, oder ob nicht vielmehr der gewollte Zweck ebensogut
dadurch erreicht werde, daß die Menschheit mehr und mehr zur Selbsthilfe
erzogen werde. Durch eine geeignete Erziehung lasse sich auch auf diesem
Gebiete recht viel erreichen. Diesen Versuch habe er in Duisburg gemacht,
indem er sowohl die Ärzte als auch die Krankenhäuser ersucht habe, ihm
freiwillig von allen hier in Frage kommenden Fällen Anzeige zu erstatten,
und indem er den Inhabern der als verseucht bezeiehneten Wohnungen an¬
heimstellte, ihre Wohnung bzw. sich selbst der Desinfektion zu unter¬
werfen, — und er habe hiermit bis jetzt recht gute Erfolge zu verzeichnen
gehabt. Wenn überall darauf hingearbeitet werde, daß die Einsicht und
das Verständnis für den guten Zweck dieser Sache weitere Verbreitung
finde, dann werde auch jedermann ohne Zwang diese Maßnahme gern bei
sich anwenden.
In seinen Schlußsätzen wie in seinem Vortrag habe der Herr Referent
die Forderung betont, unter ungünstigen Wohnungsverhältnissen und bei
unsauberen Lebensgewohnheiten die Tuberkulösen zur Verhütung der Krank-
heitsübertragung einem Krankenhause zuzuführen und sie möglichst lange
dort zu halten. Dem könne er nicht unbedingt zustimmen, er halte es für
richtiger, daß man zunächst die Wurzel des Übels zu beseitigen suche, indem
man die Wohnungsverhältnisse günstiger gestalte und die Lebensgewohn¬
heiten verbessere, als daß man das Familienleben der minder bemittelten
Stände immer mehr zerstöre, indem man die einzelnen Familienglieder
möglichst lange voneinander trenne. Da Krankheiten Vorbeugen immer
noch besser sei, als Krankheiten heilen, so solle man vor allem darauf be¬
dacht sein , daß der schlimmsten aller Krankheiten schon von vornherein
der Boden der Weiterverbreitung nach Möglichkeit abgegraben werde, und
das lasse sich am zweckmäßigsten durch eine geeignete Wohnungspflege
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
29
erreichen. Eine solche Wohnungspflege könne mit der Wohnungsaufsicht,
wie sie z. B. im Regierungsbezirk Düsseldorf eingeführt sei, verbunden
werden; für richtiger und auch erfolgreicher aber halte er es, wenn sich
besondere freiwillige Vereine bilden, um eine geeignete Wohnungspflege in
den minder bemittelten Kreisen auszuüben.
Sanitätsrat Dr* Altschul (Prag) gibt zu, daß die Ausführungen des
Referenten nach der wissenschaftlich theoretischen Seite hin unanfechtbar
seien, hält sich aber für verpflichtet, einige gegensätzliche Bemerkungen
Ton einem mehr praktischen Standpunkt zuzufügen.
Wenn es im ersten der Schlußsätze heiße, die unverkennbare Abnahme
der Sterblichkeit an Lungenschwindsucht zeige, daß man mit den derzeitigen
Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose sich auf dem richtigen Wege
befinde, so könne man die Tatsache zugeben, wenn auch dieser Weg noch
immer nicht der kürzeste und auch nicht der einzig richtige Weg sein
müsse. Daraus folge aber noch nicht, daß die Tuberkulose deshalb ab¬
genommen, weil man sich auf dem richtigen Wege befinde, sondern es sei
statistisch nachweisbar, daß die Tuberkulosesterblichkeit schon abgenommen
habe, bevor man sich auf diesem Wege befunden habe. Andererseits aber
müsse er auch daraufhinweisen, daß man auf Grund der statistischen Ergeb¬
nisse, wie heute die Medizinalstatistik getrieben werde, zu weitgehenden
Schlüssen absolut nicht berechtigt sei, daß eine Reform der Medizinal¬
statistik die Grundbedingung für jede prophylaktische Maßnahme in epi¬
demiologischer Beziehung sein müsse. Wie die Statistik als Grundlage für
epidemiologische Schlüsse nur mit großer Vorsicht anzuwenden sei, dafür
könne er ein klassisches Beispiel aus seiner engeren Heimat Böhmen an-
führen. In Böhmen habe man vor Jahren sehr viel Blattern gehabt, seit
fünf Jahren seien sie fast ganz verschwunden. Da liege es nun nahe zu
sagen, hiervon sei die Impfung die Ursache. Aber in Österreich existiere
kein Impfzwang, und in der Tat habe die Impfung in den letzten Jahren
ganz erheblich abgenommen, und dennoch seien die Blattern verschwunden.
Wenn man nun einen Schluß auf diese Tatsache hin wage und sage, die
Blattern seien deshalb verschwunden, weil man eine bessere Impfung habe,
so entspreche das nicht den Tatsachen. Auch die Tuberkulose sei in
Böhmen zurückgegangen, aber diesen Rückgang bezeichne die offizielle
Medizinalstatistik selbst nur als einen scheinbaren, weil jetzt eine andere
Bearbeitung der Tuberkulosesterblichkeit stattfinde, als dies früher der
Fall gewesen sei.
Was nun ferner die Anzeigepflicbt bei Tuberkulose betreffe, so müsse
die gewiß von jedem gewünscht werden. Aber die Verpflichtungen der
Arzte seien in stetem Wachsen, man habe lauter Pflichten und wenig Rechte.
In England werde die Anzeige von Infektionskrankheiten honoriert, und
wenn man dazu bei uns noch nicht so bald kommen werde, so solle man
wenigstens vom Arzt die Anzeige nur in allerkürzester Form verlangen,
es dem Sanitätsbeamten überlassend, die Sache weiter zu verfolgen.
In bezug auf die Desinfektion scheine es ihm zu genügen, wenn man
nach dem Vorschlag von Teleky in Wien die Desinfektion nur bei Todes¬
fällen an Tuberkulose obligatorisch mache.
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30 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Was nun die Unterbringung der Tuberkulösen in einem Erankenbanse
betreffe, so sei dies gewiß eins der wirksamsten Mittel zur Verhütung der Weiter¬
verbreitung der Tuberkulose, in der Praxis sei dies aber oft schwer durch¬
zuführen. Es sei sehr leicht möglich, einem hoffnungsfreudigen Tuberkulösen,
der sich in einem unheilbaren Stadium befinde, zu sagen, er sei lungenkrank,
er werde geheilt werden, aber sehr schwer sei es, einem Menschen, der anfange
zu hüsteln, zu sagen, in seinem Auswurf seien Tuberkelbazillen gefunden
worden, er sei tuberkulös, er müsse isoliert werden, dürfe mit seiner Familie
nicht Zusammenkommen u. dgl. Darum werde es häufig Vorkommen, daß
man dem Kranken seine Krankheit verheimlichen müsse. Dann brauche
man aber nicht die Waffen zu strecken, man werde ihm sagen, er müsse
sich schonen, er dürfe seinen Auswurf nicht hier- und dorthin deponieren
u. dgl. Aber allgemein jemand zu sagen, er sei tuberkulös, das halte er
nach dem heutigen Stande der sozialen Zustände für undurchführbar; denn
die heutige Generation, trotzdem man sie versichere, die Tuberkulose sei
heilbar, fürchte sich vor der Schwindsucht.
Die Bekämpfung der Tuberkulose müsse, wie auch bereits der Herr
Referent betont habe, in der Schule beginnen, es müsse schon hier den
Kindern beigebracbt werden, nicht auf die Straße oder den Boden auszu¬
speien, und zwar nicht weil der Betreffende tuberkulös sei, sondern weil es
eine Unart sei, auf den Boden zu spucken.
Zum Schluß wolle er noch einen Punkt berühren, es sei dies die Ent¬
fernung der Gesunden von den Kranken. Auf diesem Wege lasse sich aller¬
dings sehr viel erreichen, und da sei vor allem zu denken an die Kinder¬
asyle. Wenn die Kinder hier auch nur am Tage von Hause entfernt seien,
so liege der Segen solcher Anstalten doch auch darin, daß die Eltern er¬
fahrungsgemäß durch derartige Asyle hygienisch erzogen werden, indem
man ihnen zeige, wie die Kinder auch im Hause zu behandeln seien. Neben
all den hier vorgeschlagenen Maßregeln sei ein Weg, der nicht nur zur
Bekämpfung der Tuberkulose, sondern sämtlicher Seuchen führe, die Erzie¬
hung zur Reinlichkeit Reinlichkeit im Leben, Reinlichkeit in der Wohnung,
das sei das beste prophylaktische Mittel gegen die Tuberkulose wie gegen
alle Seuchen.
Oberbürgermeister Schmidt (Erfurt) ist der Ansicht, daß die in
These 2 geforderte Untersuchung des Auswurfs gewiß am besten durch
hygienische und bakteriologische Institute vorgenommen werde. Aber auch
eine Stadt, die nicht so glücklich sei, ein solches Institut zu besitzen,
brauche darum auf diesem Gebiet nicht müßig zu sein. In Erfurt, einer
Stadt von jetzt gegen 90000 Einwohnern, die ein derartiges Institut nicht
habe, sei eine unentgeltliche Untersuchung des Auswurfs von Kranken
auf Tuberkulose schon seit dem Jahr 1897 eingeführt, und zwar werde
diese Untersuchung im Krankenhause vorgenommen, dem die von den Be¬
treffenden auf den Polizeirevieren eingelieferten Fläschchen mit Sputum
vom Revier, wo auch die numerierten Fläschchen mit Gebrauchsanweisung
zu haben seien, zugeführt werden, und wo dann einige Zeit nachher der
Betreffende das Resultat erfahren könne. Seien Tuberkelbazillen gefunden
worden, dann werde mit diesem Ergebnis eine kurze Anweisung mitgeteilt,
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
wie der Kranke sich zunächst zu verhalten habe, namentlich werde er
darauf hingewiesen, daß er, wenn es noch nicht geschehen sei, ärztliche
Hilfe in Anspruch nehmen möge; auch werde ihm das vom Reichsgesund-
heitsamt ausgearbeitete „Merkblatt“ ebenfalls mitgegeben. Von dieser Ein¬
richtung werde im Jahr durchschnittlich von 150 Personen, steigend von
anfangs 100 auf 200, Gebrauch gemacht, und in etwa 20 Proz. seien Tu¬
berkelbazillen gefunden worden.
Auch eine zwangsweise Desinfektion bei Tuberkulose sei in Erfurt
schon Beit einer Reihe von Jahren eingeführt, allerdings beschränkt auf die
Todesfälle. Den Ärzten sei eine Anzeigepflicht für Todesfälle an Tuber¬
kulose auferlegt worden, und diese Anzeige, die man allerdings den Ärzten
so viel als möglich erleichtere, werde von diesen im ganzen sehr gewissen¬
haft ausgeübt. Diese Desinfektion auch in allen Fällen von Wohnungs¬
wechsel Tuberkulöser eintreten zu lassen, habe man erstrebt, aber man
habe noch keinen praktischen Weg Anden können, um hier die Anzeige zu
sichern. Sie den Ärzten aufzuerlegen, führe wohl kaum zum Ziel, weil die
an chronischer Tuberkulose Leidenden vielfach gar nicht in ständiger ärzt¬
licher Behandlung seien. Man versuche jetzt die Leute zu veranlassen,
selbst die Desinfektion zu verlangen, die ihnen unentgeltlich gewährt werde,
sobald von einem Arzt die Bescheinigung gegeben werde, daß Tuberkulose
vorliege. Letzteres müsse allerdings verlangt werden, weil dies sonst mi߬
bräuchlich ausgenutzt werden könnte, und die Leute sich auf städtische
Kosten ihre Wohnung reinigen ließen.
Hofrat Dr. med. Wolff (Raiboldsgrün) ist, wie auch andere Heil¬
stättenbesitzer, seiner Ansicht treu geblieben, daß die Gefahr der direkten
Übertragung der Tuberkulose überschätzt werde; in diesem Punkt seien
sehr wichtige Vorfragen noch durchaus ungelöst. Wenn er auch in den
meisten Punkten den Ausführungen des Herrn Referenten beistimmen
könne, so glaube er doch nicht verschweigen zu sollen, wie in dem Kopf
eines Heilstättenarztes sich die Frage, welche Maßregeln zur Bekämpfung
der Tuberkulose der Ergänzung bedürfen, beantworten würde, nämlich
wesentlich anders, als es durch den Referenten geschehen sei.
Es sei von dem Herrn Referenten betont worden, daß ein Hauptteil
der Heilstättentätigkeit in der Erziehung liege, daß der Kranke erzogen
werde. Dem stimme er durchaus bei. Indessen sei es für die Prophylaxe
zu spät, den Kranken zu erziehen. Die Hauptsache sei, daß mit der Erzie¬
hung zur Hygiene im allgemeinen und speziell zur Hygiene gegen die
Tuberkulose in der Jugend begonnen werde, daß der Schüler schon unter¬
wiesen werde, daß es abscheulich sei, den Boden zu beschmutzen, sich
gegenseitig anzuspucken u. dgl. Aber man müsse weiter gehen, man müsse
in den Seminaren der Lehrer, der Prediger die Hygiene als Unterrichts¬
gegenstand einführen, man müsse namentlich auch durch die Schulärzte
nach dieser Richtung auf die Kinder einwirken.
Weiter sei er der Ansicht, daß, wie auch Herr Altschul schon be¬
merkt habe, Sauberkeit die Hauptsache sei, und daß in diesem Sinn nament¬
lich auch der Verein für Volksbäder ein mächtiger Bundesgenosse im Kampf
gegen die Tuberkulose sei.
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32 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Die Hauptsache aber sei und bleibe die Hygiene der Wohnungen, denn
alle Unterweisung in den Heilstätten helfe nichts, wenn der Kranke wieder
in die unhygienischen Verhältnisse der Wohnung, der Werkstatt zuruck-
kehre. Die Heilstätte werde erst voll ihren Wert haben, wenn der hygie¬
nisch wohlerzogene Mensch in ein Heim zurückkehre, das wenigstens
einigermaßen dem Sanatorium gleiche. Das seien keine Utopien. Luft,
Licht und Wasser könne man jedem verschaffen, und man sei ja auf dem
besten Wege dazu, den Leuten ein gesundes Heim zu schaffen, wie dies
seitens des Halleschen und anderer Vereine in lobenswerter Weise bereits
geschehen sei.
Nach der hier angedeuteten Richtung hin seien die Schlußsätze seines
Erachtens noch einer Ergänzung bedürftig.
Geh. Obermedizinalrat Prof. Dr. Kirchner (Berlin) begrüßt
zunächst die Versammlung namens des preußischen Herrn Kultusministers,
in dessen Vertretung er beauftragt sei, den Verhandlungen beizuwohnen.
Wie der Referent bereits mitgeteilt habe, sei in Preußen ein Ausfüh¬
rungsgesetz zum Reichsseuchengesetz ausgearbeitet worden. Dieser Gesetz¬
entwurf sei aber mehr, er sei ein Seuchengesetz für alle diejenigen Krank¬
heiten, welche in dem Reichsgesetz nicht berührt worden seien. Bei der
ihm übertragenen Bearbeitung dieses Gesetzentwurfs habe er zunächst die
Tuberkulose unberücksichtigt gelassen, bis ihn die Statistik dann eines
besseren belehrt habe. In Preußen seien bis nach dem Jahr 1880 jährlich
320 von je 100000 der Bevölkerung an Tuberkulose gestorben. Nach der
Entdeckung des Tuberkelbazillus jedoch, als die Maßregeln, welche vom
bakteriologischen Standpunkt aus zur Bekämpfung der Tuberkulose empfohlen
worden seien, sich mehr und mehr einzubürgern begonnen haben, habe
sich eine deutliche Abnahme der Tuberkulose in Preußen bemerklich zu
machen begonnen. Von Jahr zu Jahr sei die Zahl der Tuberkulösen ge¬
sunken, im Jahre 1898 habe sie 200*8 betragen gegen 320 auf 100000 der
Bevölkerung zu Anfang der achtziger Jahre, oder mit anderen Worten,
1898 seien in Preußen über 17 000 Menschen weniger an Tuberkulose ge¬
storben als in einem Jahr der vorbakteriologischen Zeit. Seit dem Jahr,
1899 sei dann die Zahl der Tuberkulosetodesfälle wieder etwas gestiegen,
trotzdem schon eine Reihe vorzüglicher Heilstätten bestehe, die Kranken-
Alters- und Invaliditätspflicht eingeführt sei, sich die öffentliche Wohltätig¬
keit eifrig an dem Kampf gegen die Tuberkulose beteilige, kurz alles zu¬
sammenwirke, um die Tuberkulose einzudämmen.
Woran das liege, sei nicht schwer zu erkennen. Die mit Recht betonte
Erziehung der Tuberkulösen zur Reinlichkeit und zu einer gesundheits¬
gemäßen Lebensweise sei gewiß ein trefflich Ding, aber eie allein sei auf
die Dauer doch nicht imstande, das, was sonst fehle, zu ersetzen; und das
liege in erster Linie an den ungünstigen Wohnungsverhältnissen. In
Preußen sei man jetzt dabei, dem schönen Beispiel von Sachsen und Bayern
folgend, ein Wohnungsgesetz auszuarbeiten, von dem zu hoffen sei, daß es
einen Markstein in der Geschichte der Hygiene in Preußen bilden werde.
Aber auch dieses Gesetz werde nicht imstande sein, dem oft grauenhaften
Wohnungselend ausreichend zu steuern. Und selbst wenn man es könnte,
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose. 33
käme man damit doch nicht zum Ziel, denn die Tuberkulose sei nicht nur
eine Wohnungskrankheit, sie sei in viel stärkerem Maße eine Familien¬
krankheit, welche von einem Familienmitglied zum andern übertragen
werde.
Die nenerdings so viel ventilierte Frage, ob Tuberkulose und Perlsucht
identisch seien, ob die Übertragung der Tuberkulose vorwiegend durch die
Milch perlsücbtiger Kühe erfolge, diese und ähnliche Fragen seien zurzeit
noch gänzlich unentschieden. Aber wie auch, die Entscheidung fallen möge,
das stehe schon heute fest, daß nicht das Kind, sondern der tuberkulöse
Mensch es sei, welcher die Menschen gefährde, und hier müsse man an¬
setzen, wenn man hoffen wolle, der Tuberkulose Herr zu werden.
Von dieser Voraussetzung ausgehend, habe er in Übereinstimmung mit
Koch, Flügge und Gerhardt und unter Zustimmung der wissenschaft¬
lichen Deputation in das neue Gesetz auch die Tuberkulose aufgenommen,
und zwar ganz in der Weise, wie dies in den Schlußsätzen des Referenten
&u8gedrückt sei. Die Basis alles Vorgehens müsse die Anzeigepflicht
werden, um den Kranken zu fassen und ihm und seinen Angehörigen das
▼orschreiben zu können, was zur Verhütung der Weiterverbreitung der
Krankheit erforderlich sei.
Die Frage der Anzeige der Tuberkulose stoße, wie begreiflich, auf leb¬
haften Widerspruch; man befürchte, der Kranke, der an Tuberkulose leide,
werde sozusagen an den Pranger gestellt, er werde zum Gegenstand des
öffentlichen Abscheus gemacht und in seinem Erwerb empfindlich geschädigt,
wenn man die Tuberkulose anzeigepflichtig mache. Darum sei es erfreulich,
daß auch der Referent und die bis jetzt gepflogene Verhandlung die An¬
zeigepflicht für erforderlich halte, also denselben Standpunkt einnehme wie der
zehnte internationale Hygienekongreß in Paris 1900 und der internationale
Tuberkulosekongreß in London 1901. In Frankreich trage man zurzeit
noch Bedenken, die Anzeigepflicht für Tuberkulose einzuführen, in England
wolle man die fakultative Anzeigepflicht einführen, in Belgien bestehe über¬
haupt keine Anzeigepflicht, während Norwegen, Italien, die Schweiz, Öster¬
reich und von deutschen Staaten Sachsen, Baden und andere für Einführung
der Anzeigepflicht seien, ebenso wie Preußen.
Dagegen aber habe er Bedenken, daß nach dem Vorschlag des Refe¬
renten die Anzeigepflicht allein den Ärzten auferlegt werden solle, und zwar
weil, wenn man die Anzeigepflicht bei Infektionskrankheiten ausschließlich
für Ärzte eipführe, diese vielfach nicht zugezogen würden, und der Kranke
sich lieber an einen Kurpfuscher wenden würde, der zur Anzeige nicht ver¬
pflichtet sei. Wenn aber eine ganze Reihe von Leuten aus Furcht, tuber¬
kulös zu sein, keinen Arzt konsultiere, müsse die Sicherheit der Erkennung
und Bekämpfung der Krankheit in hohem Grade beeinträchtigt werden.
Deswegen sei er dafür, daß die Anzeigepflicht generell eingeführt werden
müsse für jedermann, der mit dem betreffenden Kranken zu tun habe, also
in Familien, die keinen Arzt haben, für die etwa sonst mit der Behandlung
beauftragten Personen, ev. müsse der Haushaltungsvorstand die Pflicht
übernehmen.
Was die Desinfektionspflicht betreffe, so solle man diese nicht be¬
schränken auf Wohnungswechsel und Todesfälle, sondern man solle, wenn
Vfertejjahnschrift für Getan dheitspflege, 1904. 3
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34 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
es irgend möglich sei, eine regelmäßige Ausführung der Desinfektion für
die ganze Dauer des Krankenlagers vorschreiben. Ein Tuberkulöser ent¬
leere täglich mehrere Kubikzentimeter Auswurf, in welchem Milliarden von
Bakterien enthalten seien, fähig, die Krankheit zu übertragen. Der Gefahr
der Krankheitsübertragung könne man nur begegnen, wenn man die Tu¬
berkelbazillen, die der Kranke täglich um sich verbreite, auch täglich des¬
infiziere. Das müsse angestrebt und mit Nachdruck durchgeführt werden.
Die weiteren Forderungen des Referenten, der Absonderungs- und
Krankenhauszwang, die Überwachung bei gewissen Gewerbebetrieben u. dgl.,
seien theoretisch gewiß richtig und nötig, und man werde mit der Zeit auf
sie zurückkommen; zurzeit aber werde man wohl noch darauf verzichten
müssen.
Was die weiteren Maßregeln zur Bekämpfung der Tuberkulose betreffe,
so habe man sich bisher, durchdrungen von der Zweckmäßigkeit der Heil¬
stättenbewegung, darauf beschränkt, Heilstätten zu bauen und die Tuber¬
kulösen in den Heilstätten zu behandeln. Seien die erzielten Erfolge auch
Über allen Zweifel erhaben, so dürfe man doch nicht glauben, daß man mit
den Heilstätten allein gegenüber der Tuberkulose auskomme. Es sei zweifel¬
los von hohem erzieherischem und auch therapeutischem Wert, wenn Leute
im Anfangsstadium der Tuberkulose auf drei oder vier Monate in eine
Heilstätte gebracht und dort ordentlich gepflegt und gekräftigt werden und
lernen, wie sie unschädlich für ihre Umgebung zu leben haben. Allein
wenn sie wieder nach Hause in ihre alten Verhältnisse, in ihre schlechten
Wohnungen, an ihre anstrengende Arbeit zurückkehren, so halte die gün¬
stige Wirkung nicht immer lange vor. Für Kranke in vorgeschrittenerem
Stadium der Tuberkulose, die doch gerade für ihre Umgebung besonders
gefährlich seien, sei in den Heilstätten kein Platz. Aber gerade für diese
müsse gesorgt werden, wolle man die Tuberkulose erfolgreich bekämpfen.
Deshalb bedürfe die Heilstättenbewegung einer Ergänzung, der auch der
Referent schon gedacht habe, indem er die Dispensaires in Frankreich er¬
wähnt habe. Ein Dispensaire habe Ähnlichkeit mit der in Deutschland
gebräuchlichen Poliklinik, sie gehe aber nach manchen Richtungen über
diese hinaus und stelle eine Vereinigung von Sprechstunde und Wohlfahrts¬
einrichtung dar. Glaube einer, er sei vielleicht tuberkulös, so gehe er in
ein Dispensaire , werde dort untersucht, bakteriologisch und körperlich.
Sobald Tuberkulose festgestellt sei, werde der Betreffende in die Liste ein¬
getragen und in die dauernde Obhut des Dispensaires genommen, zur Be¬
handlung aber seinem Arzt zugewiesen. Der Kranke erhalte vom Dispen¬
saire einen Beutel, in dem er alle acht Tage seine Wäsche zur Desinfektion
bringe, er erhalte, wenn er arm sei, täglich frische, sterilisierte Milch ge¬
liefert, seine Wohnung werde von einem Beamten des Dispensaire unter¬
sucht und so weit möglich verbessert, kurz das Dispensaire sorge, daß die
Tuberkulösen, welche nicht in Heilstätten seien, in einigermaßen gesund-
heitsgemäße Verhältnisse kommen. Bei der Frage der Absonderung von
Tuberkulösen komme nicht nur die Gefahr der Ansteckung, sondern auch
die Rücksicht auf die Empfindungen der Kranken und ihrer Angehörigen
in Betracht, und man müsse deshalb immer prüfen, ob man nicht dasselbe
dadurch erreiche, daß man die Leute für eine gewisse Zeit in eine Heilstätte
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
35
bringe und, wenn sie wieder arbeitsfähig geworden seien, dauernd in Ob¬
hut behalte, um sie für ihre Umgebung ungefährlich zu machen. Auf
diesem Wege werde man weiter kommen als mit Heilstätten allein, und
deshalb solle man auch in Deutschland neben den Lungenheilstätten der¬
artige Dispensaires gründen, die mit jenen Handln Hand gehen, sich gegen¬
seitig ergänzen, die Tuberkulösen dauernd überwachen und auf diese Weise
für ihre Umgebung unschädlich machen.
ln bezug auf die Untersuchungsanstalten stimme er dem Herrn Refe¬
renten vollkommen bei. In Preußen sei man bestrebt, den Wirkungskreis
der staatlichen Untersuchungsanstalten zu erweitern, ihr Personal und Ma¬
terial zu vermehren und sie in Konnex zu bringen mit den städtischen,
Kreis- und Provinzialbehörden, um gemeinsam mit ihnen gegen die Tuber¬
kulose in den Kampf zu ziehen.
Die Bekämpfung der Tuberkulose müsse in ein neues Stadium treten,
es müsse gegenüber dieser furchtbaren Krankheit, der noch immer in Preußen
jährlich über 70000 Menschen erliegen, noch mehr geschehen als bisher.
Man müsse aufhören, sich dem Gedanken hinzugeben, allein mit den Heil¬
stätten die Tuberkulose bekämpfen zu können; man müsse sich klar machen,
daß der tuberkulöse Mensch die Krankheit verbreite, und daß über ihn nicht
nur im Anfangsstadium, sondern während der ganzen Dauer der Krankheit
die fürsorgende Hand des Staates, der Kommune und der freien Liebestätig¬
keit ausgebreitet werden müsse. Erst wenn dies geschehe, dürfe man hoffen,
mit der Zeit der Tuberkulose Herr zu werden. Im Mittelalter habe es eine
Krankheit gegeben, welche damals über die ganze zivilisierte Welt verbreitet
gewesen sei, der Aussatz; durch energische Bekämpfung sei er im Laufe
der Jahrhunderte in einem großen Teil von Europa so gut wie verschwunden.
Das sei ein Beispiel dafür, daß es möglich sei, mit Umsicht und Energie
auch anscheinend furchtbarer Krankheiten Herr zu werden. Wenn man
stets im Auge behalte, daß die Tuberkulose eine übertragbare Krankheit sei,
und daraus die Konsequenzen ziehe, werde auch ihr gegenüber der Erfolg
nicht fehlen.
Bürgermeister Dr. Johansen (Minden) schließt sich dem Vor¬
redner an, daß man die Heilstättenbewegung nicht überschätzen solle. Mit¬
teilungen von 80 Proz. Dauererfolg, wie er solche z. B. in der Täglichen
Rundschau noch neuerdings gelesen habe, solle man mißtrauen. Nach den
in der Städteausstellung vorgeführten Statistiken sei die Prozentzahl der
Geheilten eine sehr viel geringere, und es sei gefährlich, wenn durch Ver¬
breitung zu hoher Genesungsziffern die öffentliche Meinung irregeleitet werde.
Dann müsse er sich auch gegen einen der Vorredner wenden, der ge¬
sagt habe, es sei Inhumanität, wenn man gegen den Lungenkranken mit
Isolierung vorgehe. Er halte es für eine falsche Humanität, wenn man
einen schwer Erkrankten, der an vorgeschrittener Tuberkulose leide, die
seine Umgebung gefährde, nicht isoliere. Man tue damit einem Gutes und
tue einer größeren Anzahl anderer Menschen Unrecht. Das müsse der
leitende Gesichtspunkt sein, vor falscher Humanität solle man sich hüten.
Die richtige Humanität liege darin, ein gesundes Volk zu schaffen, nicht dem
einzelnen Kranken zu helfen.
3 *
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36 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Von der Berechtigung der Landesversicherungsanstalten, Lungenkranke
in Heilstätten unterzubringen, worauf der Herr Referent hingewiesen habe,
sei von verschiedenen Landesversicherungsanstalten noch kaum Gebrauch
gemacht worden, so beispielsweise in Westfalen, wo die Versicherungs¬
anstalt jetzt zu dem Resultat gekommen sei, daß, nachdem die Zahl der
Anmeldungen eine so geringe gewesen sei, vielleicht überhaupt kein Bedürf¬
nis für eine derartige Aufnahme vorliege. Leider sei die spezielle Fürsorge
für die schwer an Lungentuberkulose Erkrankten noch nicht ausdrücklich
als Aufgabe der Invaliditätsanstalten aufgenommen. Es sei sehr zu wünschen,
daß vom Reichsversicherungsamt und von den einzelnen Landesversicherungs¬
anstalten erwogen werde, von der Befugnis des § 25, 7 in denjenigen Fällen
in erster Linie Gebrauch zu machen, wo es sich um vorgeschrittene Tuber¬
kulose handle, die eine große Gefahr für ihre Umgebung bilde. Außerdem
aber empfehle es sich auch, die Krankenkassen mehr heranzuziehen. Im
Krankenkassengesetz stehe die Bestimmung, daß auf Grund statutarischer
Anordnung jeder unverheiratete Kranke einem Krankenhause überwiesen
werden könne, und die verheirateten auch unter gewissen Bedingungen, und
eine dieser Voraussetzungen sei die, daß die Krankheit eine ansteckende sei.
Hier solle die Aufsichtsbehörde auf die Krankenkassen hinwirken, daß sie
von dieser Unterbringung ihrer Kranken in Krankenhäuser in allen Fällen
Gebrauch machen, wo eben diese Gefahr vorliege, und wozu sie schon das
gesetzliche Recht in der Hand haben. Erfordernis hierfür sei allerdings,
daß man den Kranken nicht weit fortbringe, in entfernt gelegene, hierfür
speziell gegründete Asyle, sondern in die städtischen oder Kreiskranken¬
häuser, in denen man natürlich besondere Abteilungen für Schwindsüchtige
einrichten müsse. Dahin werde der Kranke auch eher gehen, er bleibe in
Konnex mit seiner Familie, könne von dieser besucht werden u. s. w. Und
wenn dann Kreis oder Gemeinde für solche Kranke in ihren eigenen Kranken¬
häusern ermäßigte Pflegesätze einführen und damit die Hauptschwierigkeit,
die große pekuniäre Last, in gewisser Weise mildern, so könne damit ein
großer Erfolg errungen werden.
Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Löffler (Greifswald) schließt an di©
Ausführungen des Herrn Petruschky an, daß es ein Mittel gebe, die
Anfangsstadien der Tuberkulose zu erkennen, in welchen Tuberkelbazillen
noch nicht nachweisbar seien, das Tuberkulin. Das sei richtig und stimme
mit dem überein, was Robert Koch in seiner ersten Veröffentlichung ge¬
sagt habe, daß er im Tuberkulin ein Mittel habe, mit welchem er beginnende
Tuberkulose zu erkennen imstande sei und mit welchem er diese beginnende
Tuberkulose zu heilen hoffe. Diese Angabe Kochs habe sich im Laufe der
Zeit als durchaus richtig erwiesen, das Tuberkulin sei als ein zuverlässiges
diagnostisches Hilfsmittel anerkannt worden, und es habe sich auch mehr
und mehr herausgestellt, daß man beginnende Fälle von Tuberkulose, die
eben auf Tuberkulin reagieren, durch geeignete spezifische Behandlung mit
Tuberkulin zur Heilung führen könne, so daß der Kranke nicht mehr rea¬
giere, an Körpergewicht zunehme, sich frisch und leistungsfähig fühle, daß
er also geheilt sei.
Es sei gewiß recht schwierig, derartige Einrichtungen öffentlicher Art
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
37
zu treffen, wie sie Herr Petruschky erwähnt habe. Aber auf ein Gebiet
wolle er hinweisen, in welchem diese Maßnahme doch eventuell von sehr
großem Erfolg sein könne, nämlich bei der Untersuchung der in den Militär¬
dienst Eintretenden, worauf auch bereits von militärärztlicher Seite hinge¬
wiesen sei. Die Tuberkulose in der Armee sei ja dank den ausgezeich¬
neten verbesserten Untersuchungen mehr und mehr znrückgegangen, aber
es komme doch immer noch eine große Reihe von Tuberkulosefallen in der
Armee vor. ln einer großen Zahl dieser Fälle handle es sich um Individuen,
die vor ihrem Eintritt in den Militärdienst bereits infiziert gewesen seien.
Wenn man nun in allen den Fällen, in welchen eine sorgfältige Anamnese
ergebe, daß in der Familie des Betreffenden Tuberkuloseerkrankungen vor¬
gekommen seien, eine prüfende Tuberkulininjektion an wendete, so würde
voraussichtlich eine ganze Reihe von Leuten von vornherein von dem Dienst
ausgeschlossen werden, welche bisher, bei der Einstellung als tuberkulös
infiziert nicht erkennbar, während ihrer Dienstzeit infolge der Anstrengungen,
welche der Militärdienst mit sich bringe, an offenkundiger Tuberkulose
erkranken, ln dieser Richtung werde mit den Tuberkulineinspritzungen
ein großer Segen geschaffen werden können.
In der Heimstättenfrage stehe er durchaus auf dem Standpunkt des
Referenten, wie er ihn auch vor einigen Jahren auf dem Tuberkulosekongreß
vertreten habe. In Greifswald habe man versucht, ein Heim für Tuberku¬
löse ins Leben zu rufen, und habe sich zu dem Zweck an die Landes¬
versicherungsanstalt in Stettin gewandt. Diese aber habe sich nicht in der
Lage erklärt, zu dem Zweck ihre Hilfe in Aussicht zu stellen, und auch die
Darlegung, daß durch das Entfernen der Schwererkrankten, die Familien
bedrohenden Individuen, aus den Familien später die Zahl der Neuerkran-
klingen sich sehr vermindern und dadurch der Anstalt ein außerordent-
licher Vorteil erwachsen würde, habe nicht vermocht, diese ablehnende
Haltung za ändern. Man sei im allgemeinen jetzt noch wenig geneigt, für
die Heimstätten einzutreten, sondern man wolle bis jetzt immer noch nur
die Heilstätten fordern, weil in den Heilstätten der Kranke nur eine relativ
kurze Zeit bleibe und infolgedessen die Ausgabe lange nicht so hoch sei
wie die, welche für die Kranken in Heimstätten erforderlich wäre. Als ein
außerordentlicher Fortschritt werde es zu begrüßen sein, wenn aus der
heutigen Verhandlung die Überzeugung hervorgehen sollte, daß es dringend
geboten erscheine, die Heimstättenbewegung zu fördern.
Kreisassistenzarzt Dr. Ascher (Königsberg) erwähnt, daß der
Leiter der Statistik des kaiserlichen Gesundheitsamts an verschiedenen
Stellen darauf aufmerksam gemacht habe, daß der Gewinn, der durch die
Abnahme der Tuberkulosesterblichkeit in England und auch in Deutsch¬
land erzielt worden sei, aufgehoben werde durch die Zunahme anderer Lungen¬
krankheiten, besonders der akuten. Besehe man daraufhin die offizielle
preußische Statistik für die Jahre 1875 bis 1901, so komme man zu dem
Resultate, daß die Kurve der Tuberkulosesterblichkeit, welche im Jahre 1875
weit über der der nicht tuberkulösen Erkrankungen der Atmungsorgane ge¬
standen habe, von 1880, also in der vorbakteriellen Zeit, bereits abnehme.
Seitdem sei eine Annäherung der beiden Kurven gefolgt, die im Jahre 1890
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38 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
sich geschnitten haben, so daß die Kurve der nicht tuberkulösen jetzt weit
über der der tuberkulösen stehe. Von Jahrfünft zu Jahrfünft sei die Tuber¬
kulose in Preußen hinter die nicht tuberkulösen Erkrankungen der Atmungs¬
organe an Bedeutung zurückgetreten. Vergleiche man die sämtlichen Todes¬
fälle an Erkrankungen der Atmungsorgane in den beiden Jahrfünften 1875
bis 1879 und 1897 bis 1901, so ergebe sich, daß in beiden Perioden 50 von
10000 an sämtlichen Erkrankungen der Atmungsorgane zusammen ge¬
storben seien.
Bei diesem Resultat frage es sich, ob die bisherigen Maßnahmen zur
Bekämpfung der Tuberkulose unrichtig, oder ob sie undurchführbar seien,
oder ob sie nicht durchgeführt worden seien. Unrichtig seien sie jedenfalls
nicht, denn sie seien theoretisch so gut fundiert, daß daran nicht gezweifelt
werden könne. Durchführbar seien sie zum großen Teile auch, aber nach
seinen in den verschiedenen Arbeiterkreisen und bei den Haltekindern in
Königsberg gemachten Erfahrungen seien sie nicht durohgeführt worden.
Von allen Belehrungen und Empfehlungen, ärztlichen Belehrungen und Be¬
lehrungen durch die Zeitungen dringe zu wenig ins Volk. Er habe das bei
der ihm unterstellten Beaufsichtigung des Haltekinderwesens in Königsberg
kennen gelernt. Dort habe man Bchon seit Jahren die Einrichtung, daß
jeder Wöchnerin eine gedruckte Anweisung für die Behandlung des Säuglings
gegeben werde. Bei seinen Nachforschungen hierüber habe er nur ein ein¬
ziges Mal eine solche gedruckte Anweisung gefunden, und diese sei nicht
verstanden worden; die gleiche Erfahrung habe man übrigens in Leipzig,
Halle und anderen Orten auch gemacht. Erst die beständige Kontrolle der
Haltekinder durch den Arzt mit Hilfe der Waisenpflegerinnen habe in
Königsberg eine Besserung herbeigeführt. Dies weise den Weg, wie man
auch bei der Tuberkulose vorzugehen habe. Beständige Belehrung, nicht
den Kranken aus dem Gesichtsfelde verlieren, immer und immer wieder den
Kranken an Vorsicht mit dem Auswurf erinnern und mahnen, das sei die
Aufgabe. Dies könne natürlich nicht nur durch den beamteten Arzt ge¬
schehen, dazu bedürfe es weiteren Personals. Eine ähnliche Einrichtung
besitze man in den Hafeninspektoren, England habe seine Gesundheitsauf¬
seher, und er wolle anregen, ähnliche Institutionen auch für die Durch¬
führung der Tuberkulosebekämpfung oder noch besser für die Durchführung
der Bekämpfung aller Seuchen einzurichten.
Professor Dr. Hahn (München) begrüßt es mit besonderer Freude,
daß der Herr Referent auch des Schutzes der Kinder gedacht habe. Es be¬
ruhe dies wohl zum Teil auf der alten hygienischen Erfahrung, daß das¬
jenige Kapital, welches man auf die Gesundheit der Kinder verwende, sich
am besten verzinse. Deshalb möge man auch im Kampf gegen die Tuber¬
kulose des Schutzes der Kinder etwas mehr gedenken, als es bisher ge¬
schehen sei, man möge den Kinderasylen größere Aufmerksamkeit zuwenden,
man möge in solchen Kinderasylen eine besondere körperliche Pflege für
die Kinder aus tuberkulösen Familien einführen, um bei diesen Kindern
vielleicht durch das energische Ausbilden des Brustkorbes gewisse Disposi¬
tionen zu mildern. Sicherlich gründe sich eine Empfehlung der Kinderasyle
nicht bloß auf die Verminderung der Infektionsmöglichkeit, sondern auch
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Maßnahmen zur Bekämpfung der Tuberkulose.
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auf eine Anerkennung des Dispositionsbegriffes, wie sie ja der Herr Referent
erfreulicherweise in etwas abgeschwächter Form auch im Eingang seiner
Erörterungen abgegeben habe. Ohne den Dispositionsbegriff werde man
nicht ganz auskommen. Im Kampf gegen die Tuberkulose habe man gewiß
ror allen Dingen mit den auf den kranken Menschen gerichteten Be¬
strebungen zu rechnen und diese zu verfolgen. Aber in einem Punkt müsse
man doch der Disposition etwas mehr Rechnung tragen, es sei dies bei der
Berufswahl. Es sei darauf hinzuwirken, daß von den die Tuberkulose¬
übertragung begünstigenden Berufen und Beschäftigungen nicht bloß bereits
tuberkulöse Personen ferngehalten werden, sondern auch die Kinder aus
tuberkulösen Familien. Die Aufgabe, solchen Kindern eine richtige An¬
weisung in bezug auf die Berufswahl zu geben, werde großenteils dem
Schularzt zufallen, wie dies ja in manchen Orten auch schon geschehe. Man
müsse nach Möglichkeit zu verhindern suchen, daß Kinder mit ausgesprochenem
phthisischen Habitus oder Kinder aus tuberkulös veranlagten Familien sich
Staubgewerben u. dgl. zuwenden.
Professor Dr. V. Esmarch (Göttingen) spricht sich dahin aus, daß
nicht nur, wie der Referent es vorgeschlagen habe, die Kosten der Desinfek¬
tion zum mindesten, soweit es sich um wenig bemittelte Personen handle,
aus öffentlichen Mitteln zu bestreiten seien, sondern daß ohne weiteres für
jeden, auch für den Wohlhabenden, die WohnungBdesinfektion kostenlos ein¬
gerichtet werde. Es entspreche dies nicht nur dem Gebot der Zweckmäßig¬
keit, sondern auch dem Gebot der Billigkeit. Die Wohnungsdesinfektion,
soweit sie am Schluß der Krankheit stattfinde, sei eine öffentliche Maßregel
und solle aus öffentlichen Mitteln bestritten werden. Dadurch werde man
auch erreichen, daß die Wohnungsdesinfektion beliebter werde, und dies 9ei
zweifellos ein Mittel, derselben mehr als bisher Eingang zu verschaffen. In
einer Reihe von Städten sei die kostenlose Desinfektion bereits eingeführt.
Die Befürchtung, daß eine solche Maßregel die Gemeindekasse zu sehr be¬
laste, sei unbegründet. Bei einer Anfrage, die er vor kurzem an etwa 300
deutsche Städte gerichtet habe, habe sich ergeben, daß von diesen 300
Städten nur 47 jährliche Unkosten von über 1000 Mark von der Wohnungs¬
desinfektion haben, der größte Teil der Unkosten werde aber ersetzt durch
die Einnahmen, die die wohlhabende Bevölkerung für die Wohnungs¬
desinfektion zahle. In 60 Städten belaufe sich die jährliche Ausgabe für
Wohnungsdesinfektion auf 100 bis 1000 Mark, und von 55 derselben —
es seien dies lauter Städte von 40000 Einwohnern — sei die Erklärung
eingegangen, daß ihnen die Wohnungsdesinfektion bisher nichts koste.
Solche Zustände seien doch dem derzeitigen Stande der Seuchenbekämpfung
nicht ganz entsprechend, und deshalb müsse allmählich der Grundsatz immer
mehr in der Praxis durchdringen, daß die Wohnungsdesinfektion durchweg
kostenlos vorgenommen werde. Dann erst sei sie ein wichtiges Glied in
der Kette der Maßregeln gegen die Infektionskrankheiten.
Hiermit ist die Diskussion geschlossen und es erhält das Schlußwort
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40 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Referent, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Gaffky:
„Hochgeehrte Damen und Herren! Ich könnte auf das Schlußwort,
welches mir unser Herr Vorsitzender eben gibt, verzichten, wenn ich nicht zwei
Punkte noch zur Sprache bringen wollte. Die Herren, die an der Diskussion
teilgenommen haben, haben ja zum größten Teil schon auf das erwidert,
was von anderer Seite her gegen die Anschauungen, die ich hier vertreten
habe, etwa eingewendet werden könnte.
„Der erste Punkt betrifft gar nicht die Bekämpfung der Tuberkulose,
sondern eine Maßregel, die wir mit vollem Recht nach unserer Erfahrung
als die allerwirksamste im Kampfe mit den Pocken erachten. Es ist eine
Bemerkung des Herrn Kollegen Alt schul aus Prag, welche mir
Veranlassung gibt, diesen Punkt hier zu erwähnen. Herr Kollege Altschul
hat gesagt, die Pocken wären aus Böhmen verschwunden, obwohl die Zahl
der Impfungen ständig zurückgegangen wäre. Meine Herren! Ich bezweifle,
daß die Pocken aus Böhmen verschwunden sind, und ich mache zweitens
darauf aufmerksam, daß dieses scheinbare Verschwinden der Pocken gefolgt
sein könnte von recht unangenehmen Ereignissen. Ich verweise auf Eng¬
land, wo man in gleicher Weise glaubt Vorgehen, jene allerwichtigste Maßregel
vernachlässigen zu können, und wo man bereits üble Erfahrungen gemacht
hat, und zwar u. a. da, wo Jenner zuerst seine Tätigkeit entfaltet hat.
„Ich möchte sodann meiner hohen Befriedigung darüber Ausdruck
geben, daß eine so große Einmütigkeit besteht über das, was wir im Kampfe
mit der Tuberkulose zu tun haben. Alles, was an Differenzen hervor¬
getreten ist, betrifft meines Erachtens untergeordnete Punkte. Diejenigen,
welche der Meinung sind, daß, um ein bekanntes Bild zu gebrauchen,
vor allen Dingen die Strohdächer zu beseitigen sind, und daß die Feuer¬
spritze nebensächlich wäre, haben dieser Meinung sehr vorsichtig Ausdruck
gegeben. Im allgemeinen, scheint mir, gehören wir zu denen, die glauben,
wir sollen feuersichere Hauser bauen, wir sollen aber auch ein gutes
Feuerlöschwesen schaffen und unterhalten.“
Vorsitzender, Güheimerat Stübben:
„Meine Herren! Die Thesen sind nicht zur Abstimmung bestimmt. Das
ist auch nicht nötig. Die wenigen Abweichungen in den Ansichten werden
ja zur Geltung kommen in dem Vereinsbericht, der in unserer Vierteljahrs¬
schrift erscheint. Aber ich glaube doch einem Bedürfnis Ihrer aller zu ent¬
sprechen, wenn ich Herrn Professor Gaffky für diesen ausgezeichneten
Vortrag und für diese bedeutungsvollen Anregungen, die er gegeben hat,
unsern Dank ausspreche und ihn beglückwünsche zu dieser Tat, und ich
glaube ferner die Hoffnung aussprechen zu dürfen, daß die heutige, vierte
Behandlung der Tuberkulosefrage im Deutschen Verein für öffentliche Ge¬
sundheitspflege eine bedeutsame, glückliche Etappe sein möge für die weite¬
ren Fortschritte in der Bekämpfung dieser Volksseuche.“
Pause von 12 1 /? bis 1 Uhr.
Nach Wiedereröffnung der Sitzung stellt der Vorsitzende den zweiten
Gegenstand der Tagesordnung zur Verhandlung:
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Hygienische Hinrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten.
41
Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser
und Schankstätten.
Es lauten die von dem Referenten, Regierungs- und Medizinalrat
Dr. Born träger (Düsseldorf), aufgestellten
Leitsätze:
1. Gasthäuser und Schankstätten, nötige und nützliche Anstalten des öffent¬
lichen Verkehrs, bedingen zufolge der Eigentümlichkeiten des Wirtschafts¬
lebens leicht gewisse besondere gesundheitliche Gefahren für die Gäste, daneben
auch für das Personal und für weitere Bevölkerungskreise (Übertragung
ansteckender Krankheiten, Verursachung sonstiger Erkrankungen, Ge¬
sundheitsschädigungen, Belästigungen und Störungen des seelischen und
körperlichen Wohlbefindens).
2. Es sind daber hygienische Einrichtungen am Platze, so namentlich:
a) Versorgung der ganzen Wirtschaft mit reichlichem, zu jedem Zwecke
der Körperpflege und Haushaltung geeignetem, infektionBsicherem
Wasser und seine bequeme Bereitstellung für Gäste, Personal und
gesamten Betrieb.
b) Vorkehrungen für eine bequeme, belästigungslose, unschädliche Be¬
seitigung sämtlicher Abfallstoffe.
c) Zweckentsprechende und gesundheitsmäßige Anlage, Bauart und
Einrichtung der ganzen Wirtschaft.
d) Geordneter, sauber und gesundheitsgemäß durchgeführter Betrieb.
e) Gesunde Verpflegung ohne Trinkzwang.
f) Gesundheitliche Fürsorge für das Personal.
g) Gehörige Berücksichtigung der im Hause auftretenden, insbesondere
ansteckenden Krankheiten.
h) Maßnahmen gegen mit dem Wirtschaftsverkehr gelegentlich ver¬
bundene Auswüchse auf moral- und sozialhygienischem Gebiet.
3. Manche dieser hygienischen Einrichtungen sind vorgeschrieben, manche
hier und da von einsichtigen Wirten aus eigenem Antrieb eingeführt; im
allgemeinen ist ein größeres praktisches Interesse zur Sache dringend zu
wünschen; und der vorsichtige Besucher von Gasthäusern und Schank¬
stätten wird zum Schutze seiner Gesundheit gewisser privater hygienischer
Maßnahmen nicht entraten wollen.
4. Die große Bedeutung hygienischer Einrichtungen in Gasthäusern und
Schankstätten im Verein mit der Vielseitigkeit der Interessen und der
Zersplitterung der einschlägigen Bestimmungen rechtfertigt in der Ge¬
sundheitspflege die Ausgestaltung eines besonderen Kapitels Gasthaus¬
hygiene.
„Hygiene, die alle Welt beleckt, hat auf die Gasthäuser sich erstreckt ! tf
„So mögen variierend manche rufen, wenn sie die Behandlung des
Themas „Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schank¬
stätten“ erfahren. Und zwar werden es die einen spöttelnd sagen, als ob
die Hygiene sich schon um zu viel bekümmere, die anderen mit Genugtuung,
weil sie einen nachhaltigen hygienischen Einfluß auf diese Verkehrsstätten
als sehr wichtig ansehen. In der Tat ist es eigenartig, daß wir gegenüber
den vielen Zweigen der Hygiene, welche sich mit der Ansammlung vieler
Menschen an gewissen Orten beschäftigen, also gegenüber der Schulhygiene,
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42 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Gefängnishygiene, Eisenbahnhygiene, Krankenhanshygiene, auch der Hygiene
in den Barbierstuben u. s. w., ein eigenes Kapitel „GasthauBhygiene“ nicht
kennen. Ein solches findet sich weder aufgestellt in den Hand- und Lehr¬
büchern der Hygiene, noch auf Kongressen der Hygiene, wo doch alles
mögliche besprochen und zusammengefaßt wird, was nur irgend mit der
Gesundheitspflege in Zusammenhang zu bringen ist, noch sonst irgendwo.
„Es soll damit keineswegs gesagt sein, daß in bezug auf Gasthäuser
nichts Hygienisches vorgesehen wäre. Dafür hat Bchon das gesteigerte
Empfinden und die wachsende hygienische Durchbildung des Publikums
gesorgt. Einsichtige ebenso wie spekulative Wirte sind selbständig vor¬
gegangen, und der „Deutsche Gastwirts-Verband“ und sein Organ, die
Zeitung „Das Gasthaus“, haben hygienisches Streben nach mancherlei Rich¬
tungen gezeigt. Auf der Weltausstellung in Paris 1900 war von Ingenieur
Rives ein hygienisches Hotelzimmer ausgestellt und auf dem internationalen
Hygienekongreß ebenda besprochen.
„Endlich ist die Gesetzgebung an den Gasthäusern nicht achtlos
vorübergegangen. Im Deutschen Reiche ist die Konzessionierung in der
Gewerbeordnung geregelt. Das Reichsgesetz vom 30. März 1903 betreffend
die Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben beschäftigt sich besonders auch
mit den Gast- und Schankwirtschaften. Der Bundesrat hat eine Bekannt¬
machung vom 23. Januar 1902, besonders über die Beschäftigung von
Gehilfen und Lehrlingen in Gast- und Schankwirtschaften, erlassen.
„Hieran reihen sich verschiedene Bestimmungen gegen die Trunk¬
sucht, über die Verabfolgung von geistigen Getränken an Minderjährige und
zu gewissen Tageszeiten, über die Polizeistunde und dergleichen an. Weiter
hat der preußische Minister des Innern, unter dem 1. März 1890 ergänzte,
„Anforderungen, welche in baulicher und gesundheitlicher Beziehung an die
Gasthäuser und Schankwirtschaften zu stellen sind“, am 26. August 1886
als „Anhalt“ für die Konzessionsbehörden ergehen lassen, und ihnen sind
Polizeiverordnungen, teils erheblich weiter gehend, zahlreich gefolgt. Ebenso
sind Polizeiverordnungen erlassen über das Spülen der Trinkgefäße in
Schankstätten, über die Bierdruckleitungen, über den Gebrauch von Patent¬
verschlüssen der Flaschen, über weibliche Bedienung in Schankwirtschaften,
über die Anzeige ansteckender Krankheiten, über die Anlage und Reinigung
von Stallungen bei Gasthöfen u. a. m. Die Reichsgesetze über den
Verkehr mit Nahrungsmitteln, mit bleihaltigen Gegenständen, mit Wein,
mit Margarine, über die Fleischschau u. s. w. berühren alle die Wirtschaften
ebenso wie mancherlei andere allgemeine Gesetze und Verordnungen, z. B.
der Baupolizei.
„Und ähnlich wie in Preußen ist es in allen deutschen wie außerdeutschen
zivilisierten Ländern; die Bestimmungen sind teils gleich, teils weitergehend,
teils zurückbleibend.
„Die Regelung der hygienischen Seite der Gasthäuser ist also keineswegs
unterblieben; aber auffallend bleibt es doch, daß ein einheitliches Kapitel
„Gasthaushygiene“ als besonderes Ei im hygienischen Brütofen noch
nicht behandelt worden ist. Wer aber viel reist, und besonders wer nicht
nur die allerersten und allerneuesten Gasthöfe aufsuchen kann, wird zugeben,
daß hier noch mancherlei zu bessern ist. Alle diese ungezählten Tausende
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 43
von Leuten, welche geschäftlich, als Kranke, zu ihrem Vergnügen oder
wie sonst immer auf Reisen und auch sonst auf Gasthäuser und Schankwirt¬
schaften angewiesen sind, bedürfen des hygienischen Schutzes ebensogut
wie andere Bürger; und ein richtiger Ausgleich der Interessen wird sich
immer nur bei Beratung über ein begrenztes Kapitel, hier also die Gast¬
haushygiene, finden lassen. Und daß dies Kapitel weite Kreise bewegt,
habe ich aus den mannigfachen Zuschriften unbekannter Personen ersehen,
welche aus den Zeitungen auf die Behandlung dieses Themas aufmerksam
gemacht waren.
„Sprechen wir nun von „Gasthäusern" und „Schankstätten", so müssen
wir uns bewußt bleiben, daß wir recht Heterogenes unter diese Begriffe
zusammenfassen. Welch eine Skala ist es vom monströsen internationalen
Blockhotel durchs Gasthaus der Kleinstadt zum Dorfkrug und andererseits
vom fashionablen Weinrestaurant des High life durch die Studentenkneipe zur
Fuseldestille oder Kellerspelunke! Alles „Gasthöfe“ und „Schankstätten“!
Das 17 Stock hohe Waldorf-Astoria-Hotel in New York, das nach Zeitungs¬
nachrichten einen ganzen Block an der 5. Avenue einnimmt und ein Personal
von 1636Köpfenfüretwa 3 Mill.Mark jährlich beschäftigt, während 1500 Logier¬
zimmer vorhanden sind, von denen 1200 eigene Badezellen besitzen, über¬
trifft nach jeder Richtung gar manche Klein-, ja Mittelstadt an Bedeutung
mit seinen eigenen Telegraphen-, Telephon- und Rohrposteinrichtungen,
eigenen Photographen, Ärzten, Personal für Maniküren und Pediküren, Fri¬
seuren, Tischlern, Schlossern, Uhrmachern, Tischzeugvergoldern, mit eigener
Eisfabrik, Bäckerei, großen Wein- und Zigarrendepots, mit den Maschinen
von 3000 Pferdekräften und einem Verbrauch von jährlich 1 Mill. Bogen
Briefpapier, täglich aber, je nach der Jahreszeit, an 25 Ochsen, 20 bis
25 Lämmern, 20 Schinken, 100 Rebhühnern, 200 Schnepfen, 100 Truthähnen,
30 Dutzend Tauben, 10 Dutzend Enten, 8000 Broten, während ebenfalls täg¬
lich für 700 Mark Milch und 400 Mark Pilze konsumiert werden und angeb¬
lich 17 Personen fortgesetzt mit dem Öffnen von Austern beschäftigt sind.
Welche Gemeinschaft besteht zwischen dem Besucher dieser Hotelstadt,
welche sich für manche Appartements täglich angeblich bis 2000 Mark be¬
zahlen läßt und ihre Säle nur für 4000 Mark den Abend vermietet, und
dem verstaubten Handwerksburschen, der um 10 bis 20 Pfennig ein Nacht¬
lager im gemeinsamen Schlafraum einer Penne erwirbt oder sich mit einer
Dorfschönen im staubigen und muffigen, um 10 Mark vom Kriegerverein
ermieteten Tanzsaale der Schenke dreht? Anscheinend gar keine. Aber
wie Milliardär und Handwerksbursche zur gemeinsamen Gattung „Mensch“ und
„Staatsbürger“ gehören, die vor dem Gesetze gleich sind, so fallen auch Hotel-
ztadt, Bierpalast und Dorfkrug unter dieselbe Gruppe von Verkehrsanstalten,
welche gemeinsame, der Allgemeinheit nicht gleichgültige Eigentümlichkeiten
besitzen und demgemäß auch einer gewissen gleichartigen Behandlung vor
Publikum und Gesetz unterworfen sind, naturgemäß im Verhältnis zu ihrer
Spezialbestimmung und Leistungsfähigkeit.
„Welches sind nun die Tatsachen, welche ein besonderes hygienisches
Interesse an den Gasthäusern rechtfertigen? Ich möchte da zunächst einige
Beobachtungen anführen über die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten
durch Gasthäuser, und zwar will ich sie ungeordnet, wie sie die Lektüre
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44 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
ergab, den amtlichen Berichten über das Gesundheitswesen in
Preußen entnehmen, einer Quelle, welche leider für die Seuchenforschung
viel zu wenig benutzt wird, auch neuerdings in ihren Einzelströmen nicht
mehr fließt.
„In Polnisch - Bahnau, Kreis Heiligenbeil, erkrankte der Besitzer eines
von Stromern vielbesuchten Kruges im Dezember 1893 an Fleokfleber;
trotzdem wurde hier eine von den Dorfbewohnern reichlich besuchte Tanz¬
festlichkeit gefeiert, und die Folge war die Erkrankung von 9 Personen:
Schließung des Kruges folgte. Vorher aber war hier ein Viehhändler ein¬
gekehrt und dann in den Krug, zu Mühlhausen, Kreis Pr.-Eylau, gegangen.
Er steckte diesen Krugwirt an, der am 31. Januar 1894 erkrankte und am
14. Februar starb, aber durch eine in seinem Kruge abgehaltene Fastnachts¬
feier noch Anlaß zur Erkrankung von 4 Teilnehmern gegeben hatte. In
dem 12 km entfernten Frise hing schlossen sich an eine am 4. Februar
abgehaltene Fastnachtsfeier wie mit einem Schlage in der folgenden Woche
11 Erkrankungen Beteiligter, darunter des Krugwirtes, der mit 4 anderen
Erkrankten starb. Im ganzen kam es hier zu 20 Erkrankungen, außerdem
folgten hierauf 3 weitere Erkrankungen in Aderwangen, darunter des be¬
handelnden Arztes. An diese Erkrankungen schlossen sich noch weitere, ja
der Berichterstatter ist geneigt, die insgesamt 116 Fälle von Fleckfieber
im Regierungsbezirk Königsberg im Jahre 1894 mit mehr oder minder
großer Wahrscheinlichkeit auf jenen erkrankten Krugwirt in Polnisch-Bahnau
zurückzuführen. (Nath, 6. Generalbericht über das öffentliche Gesundheits¬
wesen im Regierungsbezirk Königsberg 1892 bis 1894, S. 85 bis 86.)
„Im Januar 1894 machte eine vagabundierende Person in der Gast¬
wirtschaft zu Bischdorf, Kreis Rosenberg, den Flecktyphus durch und
gab Anlaß zur Erkrankung des Gastwirtes und seiner 3 Kinder sowie
10 Dorfbewohner, welche in dem Wirtshause verkehrt hatten; 2 Personen
starben. (Barnick, Generalbericht über daB öffentliche Gesundheitswesen
des Regierungsbezirks Marienwerder 1889 bis 1894, S. 183.)
„In Strasburg, Regierungsbezirk Marienwerder, wurde 1887 als
Ausgangspunkt einer kleinen Epidemie von 9 Erkrankungen und 4 Todes¬
fällen an Flecktyphus die Herberge festgestellt, in welcher ein zugewanderter
Vagabund mehrere Tage krank sich aufgehalten hatte, bis im Kreislazarett
Flecktyphus festgestellt wurde. (Michelsen, Das öffentliche Gesundheits¬
wesen des Regierungsbezirkes Marienwerder 1886 bis 1888, S. 65.)
„Im Jahre 1892 trat in Willershausen, Regierungsbezirk Kassel, in
einem Hause der Darmtyphus auf. Hier infizierten sich die Bewohner der
Gastwirtschaft, und nun schlossen sich weitere Erkrankungen durch An¬
steckung an. (Weiß, Das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungs¬
bezirk Kassel 1892 bis 1894, S. 70.)
„Im Juni 1891 kehrten in einem Gasthause zu Langenhagen,
Regierungsbezirk Hildesheim, zum Logieren 2 reisende Handwerksburschen
ein, von denen der eine anscheinend an Darmtyphus litt und den Abort
stark verunreinigte; einige Wochen darauf erkrankten 9 Personen aus der
Gastwirtschaft an Typhus. (Grün, Generalbericht über das öffentliche
Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Hildesheim, S. 41.)
„Die Frau eines Försters in Wahlerscheid, Regierungsbezirk Aachen,
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 45
infizierte sich 1888 bei dem Besuche typh ns kranker Verwandter und wurde
selbst leicht typhuskrank. Das Forsthaus lag ganz isoliert. Es erkrankten
noch 6 Personen im Anschluß hieran, von denen 4 nur kurze Zeit im Hause
verweilt und etwas genossen hatten. (Trost, Generalbericht des öffentlichen
Gesundheitswesens für den Regierungsbezirk Aachen 1886 bis 1888.)
„ln Ennigerloh, Regierungsbezirk Münster, wurde in einer Gastwirt¬
schaft, wo die Wirtsfrau kurz vorher am Typhus gelitten hatte, im Juni
1889 eine Hochzeit gefeiert; nach einiger Zeit erkrankten 14 der Teilnehmer,
darunter die Brautleute, etwa gleichzeitig an Typhus und infizierten noch
eine weitere Anzahl von Personen. (Hölker, 6. Generalbericht über das
öffentliche Gesundheitswesen im Regierungsbezirk Münster 1889 bis 1891,
S. 36.)
„Am 15. April 1893 kam ein Trupp russischer Arbeiter auf dem Haupt¬
bahnhof in Frankfurt a. M. an und übernachtete im Wartesaal 3. Klasse;
unter ihnen war, wie sich später herausstellte, eine Person, die leicht an
Pocken erkrankt war. Diese Person infizierte, direkt oder indirekt,
nicht nur weiterhin 3 Leute auf dem Arbeitsplätze, sondern hatte zunächst
den Buffetier des Wartesaales angesteckt, der Ende April erkrankte und,
da er 8 Tage lang als an „Influenza“ leidend ärztlich behandelt wurde,
Gelegenheit fand, zur Erkrankung von noch weiteren 14 Personen Anlaß zu
geben. (Pfeiffer, Bericht über die Verwaltung des Medizinal- und Sanitäts¬
wesens im Regierungsbezirk Wiesbaden 1892 bis 1894, S. 14 bis 15.)
„In Mittelstenahe, Regierungsbezirk Stade, wurde die Ruhr durch
aus Amerika kommende Personen ins Wirtshaus eingeschleppt; nacheinander
erkrankten hier 5 Personen und weitere 11 Personen am Orte, denen noch
andere Fälle in 2 Dörfern folgten. Nirgends sonst fand sich diese Seuche
in jener Gegend. (Rohde, Das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungs¬
bezirk Stade 1883 bis 1885, S. 61.)
„Bei einer Zigeunerbande, welche 1883 in einem Gasthofe Brombergs
einkehrte, waren die Pocken vorhanden; es erkrankten in Bromberg
5 Personen (außerdem in den weiter berührten Dörfern noch zahlreiche
andere). (Strahler, Generalbericht über das Medizinal- und Sanitätswesen
des Regierungsbezirks Bromberg 1883 bis 1886, S. 23 bis 24.)
„In der Osterwoche 1883 hatte eine umherziehende Familie mit einem
pockenkranken Säuglinge im Kruge zu Kl.-Massow, Regierungsbezirk
Köslin, übernachtet; nach etwa 14 Tagen erkrankten ein ungeimpftes Kind
des Krügers und mehrere Leute im Dorfe, welche die Krugstube, wenn auch
nur für Augenblicke, betreten hatten. (Wernich, 4. Generalbericht über
das Sanitäts- und Medizinalwesen des Regierungsbezirks Köslin 1883 bis
1885, S. 58.)
„Ein Schiffer kam Weihnachten 1885 heim nach Bauerhufen, Re¬
gierungsbezirk Köslin, und machte sämtliche Weihnachts- und Neujahrs¬
tanzvergnügen mit, obwohl er, wie sich erst später herausstellte, bereits
maBernkrank war. Zum Jahresschluß legte sich bereits ein Teil seiner
Haupttänzerinnen masernkrank nieder, und ihnen folgten schnell die Schul¬
kinder — es entwickelte sich hieraus in mächtiger Ausbreitung eine 6 Monate
dauernde Masernepidemie, welche 1886 den ganzen Westen des Regierungs¬
bezirks Köslin überzog. (Ebenda, S. 105.)
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46 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„In Fiddichow, Regierungsbezirk Stettin, erkrankte im Mai 1881
die Herbergswirtin an Flecktyphus; ihr folgten der behandelnde Arzt,
2 Töchter und das Dienstmädchen. (Weiß, Das öffentliche Gesundheits¬
wesen des Regierungsbezirks Stettin 1881, S. 19.)
„In Pommersch-Stargard wurden am 23. Januar 1880 5 Vagabunden
flecktyphuskrank aus 2 Herbergen gemeldet, sie waren teils dort erst
erkrankt, teils schon krank angekommen; obwohl gründliche Desinfektion
durchgeführt und die Anzeigepflicht eingeschärft wurde, kamen hier in den
nächsten Monaten noch 27 Fleckfieber unter den Landstreichern vor. (Der¬
selbe, für 1880, S. 17.)
„Am 2. Juli 1890 veranstaltete der Verein der Bienenfreunde in Fulda
ein Festmahl; im Laufe des Juli und August erkrankten etwa 35 Festteil¬
nehmer in und um Fulda an den Erscheinungen des Typhus, außerdem
einige andere Personen. Die Natur der Krankheit war nicht ganz zweifel¬
frei aufgeklärt, Untersuchungen gegen den Wirt brachten kein Ergebnis.
(Weiß, 4. Generalbericht über das öffentliche Gesundheitswesen des Re¬
gierungsbezirks Kassel 1889 bis 1891, S. 53 bis 54.)
„Im März 1883 gelangte ein Handwerksbursche an den Pocken
leidend in den Kreis Biederkopf, Regierungsbezirk Kassel, und infizierte
einen Maun. Dieser letztere wurde von seiner Gemeindeverwaltung an¬
gewiesen, sich zu Fuß in das Krankenhaus zu Marburg zu begeben. Er
kehrte auf seinem Marsche in ein Wirtshaus bei Kal dem ein, mit dem Erfolge,
daß die Wirtsfrau und ihr 4 Monate altes Kind, letzteres tödlich, an den
Pocken erkrankten und die Ansteckungsquelle abgaben für 9 weitere Er¬
krankungen in Kaldern und 4 außerhalb, davon 2 in Marburg. (Rookwitz,
2. Generalbericht über das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungsbezirk
Kassel 1880 bis 1885, S. 52 bis 53.)
„Am 5. April 1880 machten 26 Konfirmanden von Karlshafen, Re¬
gierungsbezirk Kassel, einen gemeinschaftlichen Ausflug nach Herstelle,
kehrten im Wirtshause daselbst ein und verzehrten mitgebrachten Kuchen,
außerdem hier bestelltes Bier und Kaffee; endlich kauften sich 24 Kinder
im Wirtshause Wurst, die schlecht aussah und schmeckte, daher von
2 Kindern zurückgewiesen wurde. Von jenen 24 Kindern erkrankten nun
meist innerhalb 12 bis 14 Tagen 11 an Darmtyphus, der bei einem der
Gestorbenen an der Leiche bestimmt festgestellt wurde. Typhus war hier
sonst nicht vorhanden. (Ebenda S. 56.)
„Die Tochter aus einem Wirtshause in Hoheneiche, Regierungsbezirk
Kassel, mit dem ein Kramladeu verbunden war, hatte typhuskranke Ver¬
wandte in Reichensachsen Anfang Mai 1882 nur auf einige Stunden besucht;
nach 14 Tagen erkrankte sie an Darmtyphus, 3 Wochen später ihre
Mutter und 3 Geschwister, nach weiteren 3 Tagen der Vater; gleich¬
zeitig mit letzterem noch 11 Personen in Hoheneiche in 8 verschiedenen
Wohnungen. Insgesamt erkrankten in etwa 3 Monaten von den 378 Ein¬
wohnern 48 = 13 Proz. mit 6 Todesfällen; außerdem reihten sich noch
27 Erkrankungen in der Nähe an, es waren insgesamt also 75. (Ebenda
S. 70.)
„Im Kreise Ziegenhain wurden 1891 die in Kantinen und Herbergen
untergebrachten Eisenbahnarbeiter ganz besonders häufig und heftig von
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 47
Influenza ergriffen. (Pippow, Ö. Generalbericht über das Medizinal-
und Sanitätswesen im Regierungsbezirk Erfurt 1892 bis 1894, S. 49.)
„1892 fuhr ein Wirt aus Liliendorf, Regierungsbezirk Bromberg, zum
Pferdemarkt nach Rußland und übernachtete in einem Gasthause dort. Er
erkrankte bald nach der Rückkehr an Pocken, ihm folgten sein kleines Kind
und 2 andere Personen, die den Verkehr mit dem Wirtshause aufrecht er¬
halten hatten. (Siedamgrot zky, Generalsanitätsbericht über das öffentliche
Gesundheitswesen des Regierungsbezirks Bromberg 1891 bis 1894, S. 34.)
„Im Kruge des Dorfes Rogallen, Regierungsbezirk Gumbinnen, in dem
bereits früher Typhus vorgekommen zu sein scheint, wurde am 21. Juni
1891 ein Tanzvergnügen abgehalten, an dem auch Bewohner der Umgebung
teilnahmen; der Brunnen war offen und schlecht. Nach 8 bis 14 Tagen
erkrankten mehrere Festteilnehmer an Darmtyphus, bis zum 24. Juli
mehr als 20 von ihnen; sie infizierten weiter, so daß es zu insgesamt
83 Erkrankungen kam.
„In Wabbeln, Regierungsbezirk Gumbinnen, kam es 1892 zu einer
Hausepidemie von Darmtyphus in einer Gastwirtschaft, die geschlossen
werden mußte. (Pass au er, Das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungs¬
bezirk Gumbinnen 1892 bis 1894, S. 94.)
„In Bad Lauchstedt, Regierungsbezirk Merseburg, folgten auf einige
Darmtyphuserkrankungen in der Nähe im Juli 1890 die Frau des Pächters
der Badewirtschaft, im August das Dienstmädchen, zwei Kellner und schlie߬
lich der Pächter selbst, dann aber eine Reihe von Personen, die das Bad
besucht und dort Speisen oder Getränke genossen hatten, und außerdem
noch mindestens 18 weitere Personen in den umliegenden Dörfern, die im
Bade und seiner Wirtschaft verkehrt hatten. Insgesamt sind in und um
Lauchstedt 77 Personen typhuskrank gewesen; inwieweit alle diese mit
der Bade Wirtschaft direkt oder indirekt Zusammenhängen, wurden nicht sicher
ermittelt. (Wolff, Bericht über das Öffentliche Gesundheitswesen im Reg.-
Bez. Merseburg 1889/91, S. 54.)
„Im Jahre 1889 wurde der Typhus in ein Logierhaus in Borkum
eingeschleppt. Es entwickelten sich eine Hausepidemie und eine Reihe von
Erkrankungen von Leuten, welche mit dem Logierhausein Verbindung standen.
Mehrere Personen reisten ab und erwiesen sich teils auf der Heimreise,
teils in ihrer Heimat als krank. Insgesamt wurden etwa 50 Personen er¬
mittelt, welche in der Zeit von Mitte Juli bis Mitte September auf diese
Weise erkrankten, nämlich 30 auf der Insel, 20 außerhalb. Welches Un¬
heilletztere weiter angerichtet haben, ist nicht angegeben. fQuittel, Dritter
Gesamtbericht über das öffentliche Gesundheitswesen im Regierungsbezirk
Aurich 1889/91, 8. 25.)
„In Rybnik, Regierungsbezirk Oppeln, kehrten 1883 Zigeuner in der
Dorfschänke ein, von denen 5 sich später als pockenkrank erwiesen; darauf
erkrankten unter den Bewohnern zehn Personen, von denen mehrere mit
jenen in der Schänke direkt zusammengekommen waren. 1884 wurden auf
diese Weise durch Zigeuner iu Wirtshäusern jener Gegend mehrfach Pocken-
epidemieen verursacht; im Kreise Rybnik allein kam es zur Erkrankung von
423 Personen in 29Ortschaften. (Noack, 5. Generalbericht über das öffent¬
liche Gesundheitswesen des Regierungsbezirks Oppeln 1883/85, S. 74.)
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48 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Ende 1889 starb eine Frau in Belgien an den Pocken. Ihr zwei¬
jähriges Kind folgte in der Krankheit. Ende Dezember wurde es in einen
Gasthof zu München-Gladbach geschafft, dann ins Krankenhaus. Im
Laufe des Januars 1890 erkrankte nun in Stadt und Umgebung eine Reihe
von Personen an den Pocken; von ihnen allen ließ sich nachweisen, daß sie
in der Zeit von Weihnachten bis Neujahr in der betreffenden Gastwirtschaft
verkehrt hatten, sofern nicht einzelne sonst mit dem Kinde in Berührung ge¬
kommen waren. Von diesen Fällen verbreitete sich die Krankheit weiter,
so daß es zu insgesamt 94 Verseuchungen kam. (Das Sanitätswesen des
preußischen Staates 1889/91, S. 103.)
„In Aachen erkrankte ein Gastwirt an pockenähnlichem Ausschlage
im August 1890, bald darauf sein zehn Monate altes Kind, sodann folgten
24 weitere Personen. (Ebenda S. 105.)
„In einer Herberge im Kreise B er ent, Regierungsbezirk Danzig, er¬
krankten innerhalb vier Tagen sechs Personen an Flecktyphus. (Ebenda
1895/97, S. 179.)
„Bei einer Hochzeit in Broesen, Regierungsbezirk Danzig, beteiligten
sich einige eben von der Diphtherie genesene Kinder von auswärts; die
Folge war, daß von den in Frage kommenden 109 Einwohnern 23 an
Diphtherie erkrankten. (Ebenda S. 255.)
„Bekannt ist auch noch dieser Fall: Am 4. Februar 1894 erkrankte
ein Kind in einem großen Berliner Hotel an Diphtherie, die aber erst am
8. sicher erkannt wurde; am 6. fand ein Festmahl im Hotel statt, und die
Folge war, daß ein Kellner und ein Mädchen, welche serviert hatten, sowie
mehrere Gäste an Diphtherie erkrankten. (Henius, Deutsche medizinische
Wochenschrift 1894, S. 798 ff.)
„Diesen Beispielen kann ich noch anfügen: Bei einem Diner servierte
ein influenzakranker Kellner in Danzig; es erkrankten zahlreiche Teil¬
nehmer in den nächsten Tagen an Influenza.
„Im Sommer 1902 brachten mehrere Familien im Gasthause zu Adlers-
hörst, Regierungsbezirk Danzig, mit ihren Kindern die Schulferien zu; eine
Tochter des Wirtes war schar lach krank und infizierte so mehrere Kinder
der Pensionäre.
„In demselben Jahre kehrte ein Scharlach krankes Mädchen von Danzig
zurück in eine Gastwirtschaft des einsamen Nehrungsortes Heia; sechs Schar¬
lacherkrankungen von Kindern schlossen sich alsbald hieran.
„Ganz neuerdings im Juli 1903 wurde eine Typhusepidemie in
Braunschweig bekannt, welche sich an den Milchgenuß bei Waldspielen
ansohloß; von den 496 beteiligten Kindern erkrankten 201 an Typhus.
Es ist dies ein Vorkommnis, das zu unserm Thema jedenfalls in naher Be¬
ziehung steht, wenn mir auch nicht bekannt ist, daß die Milch der Molkerei
durch Vermittelung eines Gasthofes geliefert war; jedenfalls handelte es
sich um eine Massenbewirtung.
„Aus diesen Beispielen, welche unschwer erheblich vermehrt werden
könnten, ergibt sich, welche Rolle die Gasthäuser und Wirtschaften in der
Verbreitung der ansteckenden Krankheiten spielen.
„Und wie vieler chronischer Krankheiten ist hierbei gar nicht gedacht!
Wie viele Tuberkulöse mögen sich ihr Leiden im Hotel geholt haben!
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Sch&nkstätten.
49
Wie viele Augengranulöse auch! Vielleicht wie viele KarzinomatÖse, Sarko-
matöse 1 )!
„Nun entstehen diese Krankheiten naturgemäß nicht im Gasthof, sie
werden dort erst eingeschleppt, und zwar im wesentlichen durch den
Verkehr, also durch die Gäste, und demgemäß zeigt uns die Literatur eben¬
falls, in welch hohem Grade die Gasthausbewohner selbst Ansteckungen
ausgesetzt sind. Wieder und wieder finden wir, daß diese Personen an
Seuchen erkrankten, von denen die Gegend ringsum frei war; so brechen
z. B. plötzlich in seuchefreier Zeit gerade im Gasthause Ruhr oder
Typhus, ganz besonders oft Fleckfieber und Pocken, Rückfalltyphus,
Scharlach, auch Diphtherie aus; man weiß nicht, woher die Ansteckung
stammt, oder man findet auch später das übertragende Glied, gleichviel;
besonders an den Grenzen oder sonst in Gegenden mit großem Reiseverkehr
ereignet sich solches. Und nichts ist natürlicher als dies. Mancher Gast
ist erst im Beginn der Krankheit oder Rekonvaleszent oder trägt Ansteckungs¬
keime, irgendwo aufgelesen, mit sich an seinen Händen herum, in allen
Fällen seiner Ansteckungsfähigkeit Bich unbewußt, daher ohne Arg reisend
oder ein Gasthaus aufsuchend; oder er sucht gerade wegen seines Unwohl¬
seins ein Gasthaus auf, unterbricht deswegen die Reise und kehrt ein;
oder er begibt sich in ein Bad* einen Kurort, zu einem berühmten Arzt und
ist genötigt, unterwegs ein Hotel aufzusuchen, oder auch er sucht Unter¬
kunft in einem Gasthof eines Kurortes selbst. Kranke allerlei Arten sind
daher in Gasthäusern nichts Seltenes, darunter natürlich auch an Infektions¬
krankheiten leidende.
„Das Verhältnis ist also dieses: Einmal schleppt der Reiseverkehr
besonders leicht Seuchen in die Gasthäuser ein, und dann ver¬
mitteln die Gasthäuser weiter die Übertragung auf dort ver¬
kehrende Personen.
„Eine besondere Rolle spielt die Übertragung von Geschlechtskrank¬
heiten durch Gasthäuser; hier sind die Kellnerinnen, zumal im
Norden Deutschlands, und manchmal auch die Hausmädchen die Ver¬
mittlerinnen. Es hält z. B. in Danzig die Polizei sämtliche Kellnerinnen,
mit einer Ausnahme, fortlaufend seit Jahren unter sittenärztlicher Kon¬
trolle als der Prostitution dringend verdächtig; eine unberechtigte Unter¬
suchung hat sich noch nie ergeben; 1902 wurden an den 69 Kellnerinnen
951 Untersuchungen vorgenommen und dabei 21 Geschlechtskrankheiten
ermittelt.
*) Strauß (Zeitschr. f. Medizioalbeamte, Nr. 21, Jabrg. 1903, 8. 75) hat
soeben Folgenden bekannt gegeben: In einer Gemeinde des Oberamtabezirks
Hechingen herrschte die Tuberkulose in drei oder vier Wirtschaften. In der einen
starben Vater und drei erwachsene Kinder kurz hintereinander daran, in derselben
Zeit erkrankten mehrere in der Nachbarschaft wohnende und zu ihrem Besucher¬
kreise gehörige Personen ebenfalls an Tuberkulose und übertrugen die Krankheit
weiter auf Angehörige. Ähnlich war es in der zweiten Wirtschaft, wo Mutter
und Sohn an der Schwindsucht starben. In der dritten Wirtschaft ist erst neuer¬
dings die Besitzerin an Tuberkulose erkrankt. Der Verfasser erinnert daran, wie
arbeitsbeschränkte Tuberkulöse ihre Zeit gern in den ländlichen Wirtschaften ver¬
bringen, ihren Auswurf unvorsichtig beseitigen, was bei dem Mangel an Beinlich-
keit in diesen Wirtschaften besonders gefährlich sei.
Vierte ljehreschrift für Gesundheitspflege, 1904. 4
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50 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Weiter kommen Ungezieferkrankheiten in Betracht. Krätze und
Verlausung führen manchmal ihren Ursprung auf Gasthöfe zurück, des¬
gleichen können Flöhe erworben werden und Krankheiten übertragen;
und in Gegenden mit PeBt spielen Ratten, besonders im Süden oft Mücken
wegen der Malaria eine Rolle.
„Den Infektionskrankheiten nahe stehen die Zoonosen. Trichinöses,
finniges, milzbrandkrankes Fleisch kann in Gasthöfen auf einmal viele
Personen krank machen und hat es schon getan.
„Dann kommen die Intoxikationen, seien sie anorganischer oder animali¬
scher Art, also Vergiftungen mit Toxinen in Fleisch oder Fischen oder Milch
oder mit Blei oder Kupfer der Trink- und Kochgefäße u. dgl. m.; Kohlen¬
oxyd-, Leuchtgas- oder Schwefelwasserstoffgasvergiftungen können sich
ebenfalls ereignen. Beispiele: Beim Sängerfeste in Adelfingen 1839 aßen
727 Personen verdorbenen Braten und Schinken; es erkrankten 445, von
denen 10 starben. Ebenfalls infolge Genusses verdorbenen Kalbsbratens
(die Tiere waren 14 Tage vorher geschlachtet) wurden 1878 auf dem
Sängerfest in Kloten 643 Personen krank (Ebstein, Die chronische Stuhl¬
verstopfung) 1 ).
„Wir sind hiermit bereits auf ein anderes Gebiet von Krankheiten ge¬
kommen; bei den letzten Gruppen von Erkrankungen ist es nicht mehr der
herumziehende Mensch, welcher die Krankheitskeime ausstreut und die Er¬
krankung vermittelt, sondern der Ursprung liegt in der Örtlichkeit, in
den Einrichtungen und dem Betriebe u. dergl. des Gasthauses, und diese
Schädlichkeiten wirken wieder deswegen so weit hin und in einer die All¬
gemeinheit interessierenden Weise, weil gleichzeitig immer eine Vielheit
von Personen bedroht ist.
„Derselbe Gesichtspunkt ist maßgebend bei anderen Gesundheits¬
störungen, so, wenn feuchte und zugige Räume Erkältungskrankheiten,
rauchige und zu stark gefüllte oder zu enge Stuben ohne genügende Luft¬
erneuerung Katarrhe der Atemwege, Kopfschmerzen, selbst Ohnmächten,
laute Zimmer Nervosität, die Nähe unreiner Lokalitäten Kopfdruck, Übelkeit,
Benommenheit bewirken u. dgl. m.
„Eine weitere Gruppe von Schädlichkeiten, welche die Gasthöfe ver¬
mitteln, ist auf das Essen und Trinken zurückzuführen. Nicht nur die Her¬
kunft und gesundheitliche Beschaffenheit der Nahrungsmittel spielen hier
eine große Rolle und können gelegentlich schwere und weit verbreitete
Infektionskrankheiten und andere Erkrankungen hervorrufen. Die
Hotelküche selbst mit ihrem Table d’hote- und Weinzwang hat schon un¬
zählige Körper geschädigt. Die vielen Gänge, das Übermaß an Fleisch in
den Gerichten führen zu einer Überernährung, also zum Fettwerden, äußer¬
lich und innerlich; sie begünstigen auch die Entstehung von Gicht, Magen¬
darm-, Nieren- und Herzkrankheiten, Verkalkungen der Arterien. Unter¬
stützt wird alles dies durch das unnötige Trinken bei und nach Tisch, das,
zumal in Form von Bier und von Weinen, welche letzteren dazu nicht ganz
l ) Soeben kommt die Nachricht, daß vier Personen, welche in einer Wirt¬
schaft in Wesel verdächtiges Fleisch aßen, an Fleischvergiftung erkrankt seien
und einer daran bereits gestorben.
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser and Soh&nkstätten. 51
selten noch recht wenig rein sind, das Entstehen aller jener Krankheiten
beschleunigt. Hat so ein Hotelgast sich mit Suppen, Fleischübermaß,
fetten Saucen und Alkoholiken den Magen gründlich überladen, so folgt
zur Förderung der Verdauung des im Magen befindlichen „Ragouts“ das
obligate Schnäpschen, dann ein Schläfchen oder zur Überwindung der
Müdigkeit eine schwere Zigarre und eine Tasse starken Kaffees, und eine
solche Mahlzeit hat nicht, wie sie sollte, zur Kräftigung des Gastes beigetragen,
sondern ihn gewissen Erkrankungen näher gerückt. Die Berufsreisenden
sind ein trauriges Beispiel der üblen Folgen dieser Lebensweise.
„Welche Rolle auch sonst der Alkohol im Leben spielt, ist allgemein
bekannt; und die Gasthäuser von den Schnapspennen und Animierkneipen
bis zu den Sektstuben sind wesentliche Vermittler der akuten und chronischen
Alkoholvergiftung, ganz im Gegensatz zu ihrer eigentlichen Bestimmung,
den Besuchern Unterkunft, Verpflegung und Erfrischung zu gewähren. Es
ist geradezu ein Widersinn, daß heutzutage mit dem Aufsuchen eines Gast¬
hauses stets der Genuß von Alkohol fast unvermeidlich verbunden sein muß,
jedenfalls macht es meist Schwierigkeiten, ohne solchen auszukommen. Warum
das? Bis ins 16. Jahrhundert soll in Deutschland der Verkauf von Alkohol
nur als Arznei in den Apotheken gestattet gewesen sein; der jetzige Zustand
ist an sich geradezu gesundheitswidrig.
„Meine Darstellung der Schädlichkeiten in Gasthäusern würde unvoll¬
ständig sein, wenn ich nicht noch einige Worte den nicht immer beliebten,
aber doch unvermeidlichen Kellnern widmen wollte. Bekanntlich gehört es
zur Berufswahl, daß vorzugsweise schwächliche Personen den Kellnerberuf
ergreifen. Lonquet wies auf dem hygienischen Kongreß in Paris 1900 nach,
daß die Kellner durchschnittlich die kleinsten Personen in allen Berufen sind,
53 mm kleiner als der Durchschnitt der Studenten, und er sagt, die Kellner
bildeten überall den „schäbigen Rest, in den wie Trümmer die physischen
und moralischen Unzulänglichkeiten aller Stände zu stranden pflegen 11 .
Mag das auch übertrieben sein, so liegt doch sicher viel Wahres in diesen
Worten. Ist nun dieser Rest an sich schon schwächlich, oft kränklich, nicht
selten auch tuberkulös, so bringt ihn das Gewerbe noch mehr herunter:
Das Beschäftigtsein Nacht für Nacht in oft dumpfigen und durchräucherten
Lokalen, großer Mangel an frischer Luft, gleicher Mangel an Schlaf, täg¬
liche Arbeitszeit von oft 16 bis 18 Stunden wirkt schon erheblich schädlich.
Dazu kommt die naheliegende Versuchung in Gestalt des Alkohols und
anderer Verführungen, daher der Umstand, daß die Kellner nicht im Rufe
großer Moral stehen, vielmehr sich allerlei Ausschweifungen hingeben.
Denkt man endlich daran, daß ganz allgemein 12- bis 14 jährige Jungen als
„Piccolo 11 eingestellt werden und ebenfalls gleich ihre 14 bis 16 Stunden
unter denselben ungünstigen Umständen im Dienst sein müssen, so ist es
nicht zu verwundern, daß die Kellner an sich vielfach krank sind und
damit auch die Gäste gefährden. „Der größte Kellner der Gegenwart“,
Max Nauke, der sich jetzt öffentlich produziert, angeblich etwa 500 Pfund (!)
schwer, dürfte auch kein Muster der Gesundheit sein!
„Besonders eigenartig sind die Verhältnisse bei den Kellnerinnen.
Sie leben unter denselben ungünstigen Einflüssen wie die Kellner, sind in
geschlechtlicher Beziehung besonders gefährdet und später gefährdend und
4*
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52 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
in den sogenannten Animierkneipen ebenfalls dem Alkoholismus und damit
der Demoralisation besonders ausgesetzt.
n Die Krankenkassenärzte wissen von den Krankheiten der Kellner
und Kellnerinnen Ungünstiges genug zu berichten. Esche (Vorschläge
für Schankstättenpolizei) zitiert Sendter, daß in München die über 20 Jahre
alte weibliche Bevölkerung ein Alter von durchschnittlich 56*8 Jahren, die
Kellnerinnen davon aber nur von 26*8 Jahren erreichen.
„Kellner und Kellnerinnen gehören also zu denjenigen Angestellten,
welche besonderen Schädigungen ausgesetzt sind.
„Endlich sei des allgemeinen Einflusses der Gasthöfe auf Herz
und Gemüt gedacht. Wie ein gutes Gasthaus in richtiger Lage dem müden,
erfrischungsbedürftigen Wanderer ein Bedürfnis und Labsal, dem Reisenden
eine notwendige Unterkunft, dem überanstrengten und ruhebedürftigen
Städter ein Genesungsheim darstellt, so wird ein ungesundes, ohne rechtes
Bedürfnis im Dunkeln errichtetes, bis um den Morgen geöffnetes Wirtshaus
mit dumpfen Räumen, verkappter Prostitution, schlechten Speisen und Ge¬
tränken, geheimen Spielen die Quelle der geistigen und körperlichen Ver¬
sumpfung von hoch und niedrig, alt und besonders jung, ein Krebsschaden am
Marke des Volkes.
„Wir kommen also zu dem folgenden Resultat: Gasthöfe und Schank¬
stätten, ( an sich gehörend zu den nötigsten und nützlichsten Anstalten des
öffentlichen Verkehrs, bedingen eine gewisse Reihe von gesundheitlichen Ge¬
fährdungen, welche teils mit der Art des Betriebes organisch verbunden sind
und sich herleiten im wesentlichen aus dem fortlaufenden Ab- und Zu¬
strömen von Menschen aus allen möglichen Gegenden und aus dem gleich¬
zeitigen Aufenthalte häufig zahlreicher Personen in denselben Häusern oder
Räumen zu Unterkunft, Verpflegung und Erfrischung bei Tag und Nacht,
teils aus einer gewissen gewohnheitsmäßigen Vernachlässigung der gehörigen
hygienischen Gesichtspunkte bei Anlage, Einrichtung und Betrieb, teils
direkt aus Mißbräuchen. Die Folgen dieser Verhältnisse sind: Übertragung
ansteckender Krankheiten durch und auf die Gäste, Hervorrufung ander¬
weitiger Erkrankungen, Verursachung mancher Gesundheitsschädigungen,
Belästigungen und Störungen des seelischen und körperlichen Wohlbefindens.
Gefährdet sind die Gasthausbewohner und -angesteilten, die Gäste und damit
auch weitere Bevölkerungskreise, in die sich die Gäste wieder zerstreuen,
also das Publikum überhaupt. Durch diese Vielheit der Gefährdungen, denen
auch speziell die zahlreichen, auf die Wirtshäuser angewiesenen Personen,
als Reisende (zum Vergnügen oder aus geschäftlichen Gründen), Wandernde,
Wohnungslose, Kranke, Alleinstehende, Erfrischungsbedürftige und sonstige
ausgesetzt sind, wird ein erhebliches öffentliches Interesse begründet
und das allgemeine Bedürfnis nach hygienischen Einrichtungen in Gast¬
häusern und Schankstätten nachgewiesen.
„Welche hygienischen Maßnahmen sind nun für Gasthäuser
und Schankstätten am Platze?
„Zunächst eine Vorbemerkung: Bezüglich der Schankstätten ver¬
langen wir zu allererst, daß nicht mehr entstehen bzw. konzessioniert
werden, als das Bedürfnis durchaus verlangt; nicht soll umgekehrt durch
Schankstätten ein noch nicht vorhandenes Bedürfnis erst geweckt werden.
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten.
53
Gans besondere gilt diese Forderang für Branntwein schenken, die hier
und da über alles Maß wie Pilze aus der Erde schießen. Nicht überall
wird hier mit der gehörigen Zurückhaltung verfahren, und wenn man die
Schar der Schenken an manchem Ort sieht, so will man nicht glauben, daß
man in einem Zeitalter lebt, in dem sich die einflußreichsten Personen gegen
den Mißbrauch alkoholischer Getränke zusammengetan haben; dieKonzessions-
behörden aller Arten und Grade werden hier härter und zurückhaltender
werden müssen.
„Der bekannte industrielle Reiseberichterstatter der Times hat neuer¬
dings, wohl aus den internationalen Übersichten des britischen Handels¬
amtes, folgende Zahlen für die Rheinprovinz angegeben: Es kam ein Wirts¬
haus in Essen auf 437 Bewohner, in Oberhausen auf 426, in Rheydt auf
402, in Düsseldorf auf 394, in Elberfeld auf 320, in Grefeld auf 274, in
München-Gladbach auf 273, in Duisburg auf 272, in Mühlheim a. d. Ruhr auf
235, in Remscheid auf 203, in Ruhrort auf 172, in Solingen auf 141; in
kleineren Orten soll häufig ein Wirtshaus auf 70 bis 80 Einwohner kommen,
und in den drei Tagen des Faschings 1903 sollen in einem bekannten Hotel
in Düsseldorf um 10000 Flaschen Wein vertilgt sein! ln England sind
die Verhältnisse nicht wesentlich anders, z. B. entfällt in Sheffield ein Wirts¬
haus auf je 273 Einwohner.
„In Deutschland kommen auf den Kopf der Bevölkerung 0*77 Gallonen
(= 4*6 Liter) Wein, 27*1 Bier, 1*85 Branntwein, in Groß-Britannien 0*41
bzw. 31*9 bezw. 1*03.
„Die erste generelle ungemein wichtige eigentlich hygienische Einrich¬
tung der Gasthäuser nun betrifft die Wasserversorgung. Die erwähnten
ministeriellen „Anforderungen 11 verlangen im § 4, Absatz 4: „Gast- und
Schankwirtschaften dürfen nur Auf solchen Grundstücken errichtet werden,
welche entweder an eine öffentliche Wasserleitung angeschlossen sind oder
einen eigenen Brunnen mit völlig ausreichender Wassermenge haben. “ Hier
ist schon recht viel gefordert, und es ist insbesondere wichtig, daß die
Grundstücke der Wirtschaften einen eigenen Brunnen haben sollen; aber
es muß bedauert werden, daß gar keine Anforderungen an die Güte des
Wassers und des Brunnens gestellt werden; andererseits ist nicht recht
einzusehen, warum es gerade ein Brunnen sein muß. Sollen Quellen aus¬
geschlossen sein?
„Da die Wirtschaften dem öffentlichen Verkehr dienen, da keiner
der Gäste kontrollieren kann, ob die ihm Vorgesetzten Speisen und Getränke
mit einwandfreiem Wasser hergerichtet, das Geschirr mit solchem gereinigt,
die Wäsche mit solchem gespült, die Stuben damit gewaschen sind, anderer¬
seits aber auch alles von diesem abhängig ist, so gilt es, die harmlos Ein¬
kehrenden vor Erkrankungen durch das Wasser unbedingt zu schützen, und
es muß von dem Wasser bestimmt verlangt werden, daß es rein und gesund,
in physikalischer und chemischer Hinsicht zu allen Zwecken des
Haushaltes wohl geeignet und infektionssicher sei. Die Geeignet¬
heit zu allen Haushaltungszwecken ist auch deswegen nötig, weil sonst
andere Wasserentnahmestellen unkontrollierbarer Natur nebenbei benutzt
werden, so z. B. offene Wasserläufe zum Waschen, wenn das Brunnen- oder
Leitungswasser hart oder eisenhaltig ist.
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54 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Welche speziellen Anforderangen an Brunnen u. 8. w. za stellen sind,
braucht hier nicht erörtert zu werden; es ist allen Hygienikern bekannt.
„Wie sieht es nun in der Wirklichkeit aus? Man staunt, welch einen
geringen Einfluß selbst in unserm straff regierten Preußen solche von den
zuständigen Ministern „zum Anhalt a herausgegebenen Anforderungen
haben 1 Auf dem Lande entnehmen zahllose Wirtshäuser fort und
fort ihr gesamtes Gebrauchswasser vielseitig benutzten Seen, Teichen, Laken,
Rinnsalen und Bächen, Flüssen, Tümpeln, selbst Moorbrüchen, von einem
eigenen Brunnen des Grundstückes ist gar keine Spur. Daß dies alles
vor 1886 eröffnete Gasthäuser seien, wird niemand behaupten wollen.
Andere Gasthäuser wiederum besitzen offene und undichte Kessel- und Kasten¬
brunnen, oft in greulich verschmutzter Umgebung und selbst ganz un¬
saubere oder mangelhafte Pumpen, oft im Stall, die ein stark verunreinigtes
Wasser zutage fördern. Wer viel Reisen machen muß und noch da¬
zu Spezialist in der Sache ist, sieht allerlei, was nicht appetitreizend wirkt.
„Nicht besonders besser ist es in Klein-, Mittel-, selbst Großstädten,
welche keine einwandfreie Wasserleitung haben; das Verständnis für die ver¬
nünftigen, man sollte eigentlich meinen, selbstverständlichen Anforderungen
an ein gesundes Wasser ist bis hoch hinauf noch recht gering. Man sieht
da Wasser schöpfen aus Wasserläufen, in welche unmittelbar oberhalb eine
Straßengasse oder ein öffentliches Pissoir oder der Abfluß eines Misthaufens
oder einer Felltrocknungsniederlage mündet, oder in welchem ebenfalls gleich
oberhalb eine Badeanstalt liegt oder Zeug gewaschen wird u. s. w., alles von
mir selbst und anderen wiederholt beobachtet. Ich denke mit Schaudern an so
manche Tasse Kaffee und an so manches Glas Bier, das ich in Gasthöfen zu mir
nehmen mußte, deren Brunnen aus Holz war und nahe dem überfließenden
Dunghaufen stand, oder dessen Wasserader ein Bächlein war, welches un¬
mittelbar oberhalb die Zuflüsse von den Höfen, Gerbereien, Färbereien, Straßen¬
gossen hatte. Da hieß es: Hinuntergießen unter Ausschaltung der Hygiene-
und Gedächtniszellen. Vae victimis! Auch kenne ich in der Großstadt
Danzig eine Gastwirtschaft, die zwar eine gute Kegelbahn und gute Kost
hat, übrigens an die Wasserleitung angeschlossen und sonst durchaus rein
gehalten ist; aber die Wirtin kann sich nicht davon überzeugen, warum es
unsauber und unrecht sein sollte, das an dem Wirtshause vorbeifließende
Fließ, das bis weit oberhalb hin bebaut ist, die unglaublichsten Gossen- und
sonstigen Abwässer, Fäkalien verbotener Weise nicht ausgeschlossen, auf¬
nimmt und notorisch alljährlich eine ganze Reihe von Typhuserkrankungen
erzeugt, heimlich zum Waschen der Stuben und Wäsche und, wie ich vermute,
selbst von Geschirr zu benutzen, wie es von alters her immer geschehen sei.
„Und nun gar in fremden Ländern. Welch ein Wasser wird manch¬
mal in den Trattorien Italiens und erst in den Fondas de Espana „kredenzt“!
Wie sehen in den südlichen Ländern oft die Zisternen aus, wie werden
sie behandelt! Sauve qui peut!
„Demgegenüber sind diejenigen Wirtshäuser zu loben, welche für ein
unbeanstandbares Wasser im Hause sorgen und es sich Kosten und Mühe
nicht verdrießen lassen, ein solches zu beschaffen, wofür es denn doch auch
Beispiele gibt, selbst in kleinen Orten. Sieht man z. B., daß ein ländlicher
Gasthausbesitzer in dem kleinen Dorfe Kahlbude, Regbez. Danzig, von den
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstatten. 55
nahen Abhängen die Quellen abfängt» um sein Haus bequem mit gutem
Wasser zu versorgen, so ist das sehr erfreulich; und vor manchen größeren
Hotelbesitzern möchte man den Hut abnehmen, wenn man sieht, welche
Energie sie auf eine gute Wasserversorgung gewandt haben.
„Hat nun ein Gasthaus, wie es überall sein sollte, eine gute und aus¬
reichende Wasserquelle, so kommt es weiter darauf an, sie richtig aus-
zunutzen und zur Verfügung zu stellen.
„Da ist zunächst die Anbringung zahlreicher Zapfstellen zu
Genuß- und anderen Zwecken in Haus und Hof zu wünschen, nämlich
in den Fremdenzimmern, auf den Korridoren, im Billardraum, auf der Kegel¬
bahn, in der Küche; die Einrichtung besonderer Waschräume für das
Publikum ist ebenfalls dringend zu fordern, ebenso besondere Wasoh-
gelegenheiten für das Personal, namentlich auch für die Leute am
Büffett und für die Kellner; diese haben es äußerst nötig, sich die Hände
leicht und oft zu waschen, zumal da sie gewohnt sind, die Nahrungsmittel
unnötig oft mit den Händen anzufassen. Sah ich doch noch erst vor
wenigen Wochen, wie ein Büffettier in dem Wartesaal II. Kl. einer Gro߬
stadt kalte Bratklopse und Schweinekotelettes — nomen et omen — mit
den Händen auf den Teller legte! Wenn Montaigne in seinem französi¬
schen Reisetagebuch von 1580 klagt, daß man in deutschen Gasthäusern
mit dem Wasser spare, indem sich nur in der Ecke des Speisesaales ein
kleines Waschbecken befinde, so haben wir uns von diesem Zustande noch
nicht allgemein weit genug entfernt.
„Wir werden weiter wünschen, daß nicht nur reichlich kaltes, sondern
tunlichst auch warmes Wasser an den Zapfstellen zur Verfügung steht
zumal auch in den Fremdenzimmern, werden solche Forderungen aber zu¬
nächst auf die größten Hotels beschränken müssen; erfordert doch schon
die Herrichtung von Zapfstellen Bedingungen, die nur in günstig gelegenen
Gasthäusern, welche Leitungswasser oder Pumpwerke u. dgl. zur Verfügung
haben, erfüllt werden können.
fcAm weitesten scheint mir die Benutzung des fließenden Wassers in
Rußland vorgeschritten zu sein; man findet dort weit verbreitet die Zapf¬
hähne über den festen, im Grunde durchlochten Becken, was den großen
Vorzug bat der leichten Beseitigung des einmal benutzten Wassers sowie
der Wassererneuerung gegenüber unseren soliden transportablen Schüs¬
seln und Kannen. Derart fließendes Wasser ersetzt auch die — selten
wirklich reinen und selten genügend oft gefüllten — Wasserflaschen für
das Trink- und Mundspülwasser und gestattet eine gründliche Reinigung
der Gläser durch die Gäste selbst, wenn diese Gläser — wie ach so oft —
nach dem Zahnpulver oder dem heute unvermeidlichen Odol des Vorgängers
riechen oder gar Reste desselben, d. h. des Zahnpulvers, vielleicht auch des
Vorgängers selbst, aufweisen, wie mir ersteres z. B. einmal zur Cholerazeit
1894 in Lüttich geschah. Es bleibt da in dubio nur übrig, den Früh¬
stückskaffee oder eine Flasche Rotwein — ohne Glasinterpolierung — zur
Mundreinigung heranzuziehen.
„Unbedingt reichlich gutes Wasser muß ferner für die Reinigung
und Spülung des Geschirrs und der Trinkgläser fortlaufeud zur
Verfügung stehen.
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56 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins l öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Die Polizei pflegt so reichlichen Zulauf zum Spülwasser der Trink-
gefftße zu fordern, daß das ,zu benutzende Wasser nicht trübe aussieht.
Das wird das Minimum sein. Im Interesse der Reinlichkeit wie der Krank¬
heitsvorbeugung müssen wir mehr verlangen. Wir können unmöglich alle
ansteckend Kranken vom Gasthausbesuch ausschließen; Syphilis, Diphtherie,
Tuberkulose, Typhus können z. B. ganz unzweifelhaft durch mangelhaft
gereinigte Gefäße übertragen werden, und das Spülwasser kann die Ver¬
mittelung zur Infektion von Gefäßen abgeben. Es sollte daher von kochen¬
dem Wasser der weitgehendste Gebrauch zur Reinigung gemacht werden,
und wo sich dessen Anwendung durchaus verbietet, sollte eine besondere
Schlußspülung in fließendem Wasser wenigstens für die Trinkgläser,
Obertassen und Teller wie des Essgeschirrs eingeführt werden.
„Aus denselben Gründen ist für Gasthäuser das Auskochen der ge¬
samten Wäsche dringend erforderlich. Diese Wäschereinigung ist ein
ganz besonders wichtiger Punkt in hygienischer Beziehung. Jedes gute
Gasthaus wird also ausgiebiger guter Waschvorrichtungen bedürfen.
Das bloße Anfeuchten und Durchmangeln äußerlich rein erscheinender, aber
gebrauchter Wäsche, wie es offenbar nicht selten zur Kostenersparnis geübt
wird, ist eine grobe Unsitte, die polizeilich verboten werden könnte und
sollte.
„Höchst angenehm und auch hygienisch wichtig für Gäste wäre es,
wenn tunlichst viele Gasthäuser Vorkehrungen für gutes sicheres Waschen
der Wäsche der Reisenden schüfen, damit man weder gezwungen ist, die
unreinen Sachen im Koffer mitzuschleppen, noch sie unkontrollierbaren
Wäscherinnen und unmöglichem Wasser anzuvertrauen.
„Auch zu Badezwecken ist das Wasser reichlich bereit zu stellen;
dabei sind die Badestuben in genügender Anzahl ein zu richten, dürfen nur
dem einen Zwecke dienen, müssen hell, geräumig, gut zu reinigen, erwärm¬
bar, durchsonnbar und durchlüftbar und heizbar sein; auch wäre es gut,
wenn sie — einschließlich der Badewannen und des Badewassers — un¬
schwer desinflzierbar wären. Die Verlegung von Badestuben in den Keller,
in dunkle Räume oder in alte gewöhnliche Hotelzimmer ist durchaus zu
widerraten; es entwickelt sich in solchen Stuben eine feuchte, kalte, muffige,
nach Schimmelbildungen riechende Luft, zumal wenn hier auch noch die
Schrubber aufbewahrt und die Nachtstühle deponiert werden, und wenn
irgendwo, so kann in solchen unhygienischen Badestuben die Entstehung
und Übertragung von Krankheiten vor sich gehen. Nur ein reichlicher
Zutritt von Licht, Luft und Sonne erhält ein übrigens richtig an¬
gelegtes Badezimmer in zweckentsprechender Qualität.
„Toiletten räume mit Wasch Vorrichtungen für den allgemeinen
Gebrauch der Gäste, in der Nähe der Restaurationsräume in genügender
Zahl und Ausstattung errichtet, sind ebenfalls hervorragend hygienische
Einrichtungen, am zweckmäßigsten als Vorräume für die Aborte; sie
müssen aber groß, lüftbar und genügend erwärmbar hergestellt sowie für
die Geschlechter gehörig getrennt sein. Eine Crux für diese Toilettezimmer
sind die Seife und die Handtücher. Erstere läßt sich allenfalls noch
gemeinsam benutzen, letztere zeichnen sich gewöhnlich bald durch einen
solchen Grad von Unsauberkeit aus, daß sie unbrauchbar sind. Will oder
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten.
57
kann der Wirt in häufiger Erneuerung derselben nicht exzellieren, so
sollte er an die Aufstellung yon Automaten gehen, ähnlich wie es die
Eisenbahnzöge in den Aborten haben, wo für 10 Pfg. Sitzpapier, Klosett¬
papier, ein kleines Stück Seife und ein Stück Stoff als Handtuch verkauft
werden; für 5 Pfg. würde man unzweifelhaft ein Stückchen Seife und Stoff
zum Abtrocknen der Hände herstellen und verkaufen können, dies zur Be¬
nutzung deijenigen, welche das allgemeine Handtuch nicht benutzen wollen
und 5 Pfg. lieber für die reinliche Behandlung ihrer Hände als zur ganz
unnützen Extrabesoldung eines Schaffners der elektrischen Bahn ausgeben.
Es fehlt dann nur ein Behältnis, wo die benutzten Sachen zunächst hinein¬
geworfen werden, um später vernichtet zu werden. Ganz zweckmäßig er¬
schien mir die italienische und auch spanische Sitte, Zitronenstückchen
statt der Seife zur Säuberung der Hände zu verwenden und dann wegzu¬
werfen; diese Säure wirkt bekanntlich desinfizierend.
„Zweifellos ist die Einrichtung der Toilettenräume bei uns im Steigen;
auch kleinere Gasthäuser richten sie ein, und die Erkenntnis der Gewohn¬
heit, nach der Klosetbenutzung und vor den Mahlzeiten sich regelmäßig
die Hände waschen zu müssen, nimmt zu; aber man spart bei uns noch zu
viel an Raum und Licht und Ausstattung. In Italien und nun gar in
Spanien ist es noch viel schlimmer, in letzterem Lande liegt das Hotelwesen
überhaupt und speziell die Hotelhygiene noch sehr im Argen. Geräumige
und gute, daher denn auch viel benutzte Toiletteräume sind mir in Paris in
den Souterrains der Restaurants aufgefallen, z. B. im Restaurant des großen
Hotels „Terminus 41 am Bahnhofe St. Lazare.
„Endlich ist das Wasser, wo es irgend durchführbar ist, zur Spülung
der Aborte zu verwenden; denn nur so erreicht man einigermaßen geruch¬
lose Klosetts und die sofortige Beseitigung der Abfallstoffe aus dem Hause
oder doch wenigstens aus der Wohnung. Freilich sollten die ekelhaft ge¬
räuschvollen WaBserkästen beseitigt werden, welche allen Bewohnern
der Nachbarstuben wie mit Hornsignal die Beendigung der eben statt¬
gehabten Arbeitsleistung verkünden.
„Wer im Auslande bekannt ist, kennt die z. B. in Indien übliche
Sitte, auf den Klosetts eine Reihe von Flaschen mit Wasser für die Säube¬
rung aufzustellen; Papier ist dann nur zum Abtrocknen nötig — ein
Hämorrhoidarern sehr zu empfehlender Brauch, also auch eine hygie¬
nische Einrichtung.
„Übrigens ist die bei uns jetzt in besseren Hotels durchgeführte Sitte,
festes Klosettpapier zur Verfügung zu stellen, ebenfalls ein hygienischer
Fortschritt — wenn es nur immer rechtzeitig erneuert würde!
„Hiermit sind wir bei einer zweiten, sehr wichtigen allgemeinen
hygienischen Anforderung angelangt, nämlich der sachmäßigen
Beseitigung der Abfallstoffe. In öffentlichen Gasthäusern, wo so viele
Leute aus allen möglichen Orten einkehren, darunter unkontrolliert auch
solche mit ansteckenden Keimen an sich und in ihren Abgängen, z. B. kli¬
nisch gesunde Bazillenträger, Rekonvaleszenten von Typhus, Cholera, Ruhr,
Diphtherie, Personen im Anfänge von solchen Erkrankungen, Tuberkulöse,
Ärzte, Krankenpflegepersonal und andere, da ist die unschädliche Beseiti¬
gung der Abfallstoffe doppelt und vielfach nötig. Welche Anforde-
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58 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
rungen an diese Beseitigung zu stellen sind, richtet sich nach
allgemeinen Grundsätzen und ist von Fall zu Fall besonders zu prüfen.
Die ministeriellen „Anforderungen“ sagen in § 5: „Bei jeder Gast-
und Schenkwirtschaft muß die nötige Anzahl mit den erforderlichen Elinrich¬
tungen für Abfluß und Luftreinigang versehener Pissoirs und Abtritte
vorhanden sein, zu welchen der Zugang nicht durch Wohn- oder Wirt-
schaftsräume, noch über die Straße führen und niemals behindert sein darf.
Diese Bedürfnisanstalten dürfen keinen unmittelbaren Zugang zu den Schlaf¬
räumen haben, und ihre Einrichtung muß eine derartige sein, daß eine Ver¬
unreinigung der Luft in den Gastzimmern ausgeschlossen ist. Im übrigen
kommen hinsichtlich der Entleerung, Reinhaltung u. 8. w. derselben die in
dieser Beziehung an dem betreffenden Orte bestehenden polizeilichen Vor¬
schriften zur Anwendung.“
„Sehr schön! Besondere Vorschriften bezüglich der Beseitigung
der Abfallstoffe finden sich also für die Gasthäuser hier nicht. Und wie
sieht es denn in der Wirklichkeit mit der Befolgung dieser Vorschrif¬
ten aus ?
„Da ist zunächst zu betonen, daß es trotz aller Vorschriften in unserem
schönen Vaterlande noch immer Schank- und Gastwirtschaften gibt, welche
gar keine Aborte und Pissoirs haben. Man gehe nur aufs Land! Auch
kenne ich eine Stadt in Westpreußen mit etwa 3000 Bewohnern, von wel¬
chen weitaus die meisten in oder bei den Häusern keinen Abort haben; die
vor einigen Jahren eingerichteten sind verfallen, die eine Schule hat ihr
Pissoir in einem alten Rauchfang, der gestrenge Herr Bürgermeister ver¬
fügt nur über einen Nachtstuhl unter der Treppe. Natürlich wollen die
Gastwirte nicht höher hinaus als ihre Mitbürger. Das Hotel der Stadt, vor
dem auch der Regierungsbeamte nicht immer sich schützen kann, „spotten*
der Weise“ „Deutsches Haus“ genannt, verweist die Gäste zu ihrer Erleichte¬
rung in den nach der Straße zu offenen Pferdestall; doch dürfen die Hono¬
ratioren, wenn sie ein „großes Geschäft“ Vorhaben, den Familienabort be¬
nutzen, der sich in einem dunkeln Verschlage der Familienwohnstube
befindet.
„Dies ist zwar sehr bedauerlich, aber doch für derartige Verhältnisse
nicht so ungeheuerlich; denn man findet noch heute in so mancher schönen
Großstadt, im Osten wie im Westen, eine ganze Reihe von Wohnungen, in
welchen das Klosett in der Küche oder in Wand verschlügen einer Stube liegt
oder einen direkten Zugang von der Schlafstube hat; und in den kleineren
Städten ist es schon gar nicht anders. Und daß man durch Stuben
gehen muß, um zum Abort zu gelangen, findet man auch in Gastwirt¬
schaften nicht so ganz selten.
„Recht häufig ist auch die Lage der Aborte und Pissoirs derart, daß
Küche, Korridor und Gaststube ihre Dünste mit ihnen austauschen. Man
findet da auf dem Lande die bedenklichsten Konstruktionen: die Urin¬
rinnen unmittelbar vor den Fenstern oder der Tür der Küche oder an der
Heerstraße und vor den Fenstern der Gaststube, als Abort tront ein alter
Lehnstuhl in einer ehemaligen Fremdenstube, deren Fußboden infolge der
Undichtigkeit des Kübels imprägniert mit Jauche ist; oder Abort und
Pissoir sind ohne jedes Fenster, die Tür mündet aber direkt in irgend
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstatten. 59
eine Stabe, z. B. die Gaststube; umgekehrt liegt der Abort wohl auch
auf dem Hofe, weit weg von der Gaststube, so daß bei Schneegestöber
der seiner benötigende Gast ausrufen möchte: „ein Königreich für
30 Tropfen Opiumtinktur“. Eine ungewöhnliche nahe Verbindung des
Abortes und der Urinrinnen mit der Zubereitungs - und Aufbewahrungs¬
statte von Eßwaren habe ich nun schon wiederholt in Konditoreien
gesehen; Schlagsahne, Torten, Kuchen stehen da in verschiedenen Lokalen
deutscher Großstädte in unmittelbarer Nähe und Geruchssphäre jener.
Das Wunderlichste aber mit von allem, was ich gesehen habe, ist folgen¬
des. In einer deutschen Großstadt, „das Antlitz gegen Osten a , befindet
sich ein ganz neu gebautes Restaurant ersten Ranges, von einem nam¬
haften Baumeister errichtet; die geräumige Urin- und Abortanlage liegt
mitten im Hause, ohne direkte Verbindung mit der Außenluft. Die Tür
führt aus dem Restaurant direkt in diesen Raum, jedes öffnen bringt einen
riechbaren Strom urinösen Geruches an die Speisenden und Trinkenden.
Nun ventiliert aber jener Raum nach dem Treppen- und Lichthof des
Hauses, von dem auch die Küche vis-a-vis bedient wird; zur Ventilation ist
Öffnen der mattgestrichenen Scheiben nötig; dies öffnen muß naturgemäß
reichlich erfolgen, um die Luft im Urin - und Abortraum erträglich zu er¬
halten. Dann entwickelt sich folgendes: die Luft aus Küche und Urin¬
raum tauscht sich aus, auch das in der Küche und das im Urinraum befind¬
liche Menschenvolk tauscht Blicke, und da man beiderseits verschiedenen
Geschlechtern angehört, so ist die Anlage nach dieser Richtung ebenfalls
„nicht einwandfrei“. Ob sich das Restaurant gerade wegen dieser Kon¬
struktion ebenfalls „Deutsches Haus“ nennt, weiß ich nicht
„Auch sonst wird freilich die „Ungeniertheit“ bei uns neuerdings
anscheinend gefördert. Auffallend sind da die Eisenbahnverwaltungen, deren
Bahnrestaurants ja auch zu unserem Thema gehören. Die Abortanlagen
werden neuerdings durchweg so konstruiert, daß die Trennwand zwischen
den Aborten für Männer und für Frauen im Interesse einer guten Lüftung
nicht mehr bis zur Decke durchgeht; die beiderseitige Tätigkeit ist dadurch,
wenn auch noch nicht hinüber und herüber sichtbar, so doch hörbar und
die reine „Flucht in die Öffentlichkeit“ statt der früheren „Retirade“; ja
selbst der Raum für die Wartefrau ist in diesen allgemeinen Luftraum
einbezogen, sie muß hier sitzen, essen und trinken; und wenn ein Mann den
▼ erschlossenen Abort besuchen will, so muß sie zum Öffnen oder Reinigen
in den allgemeinen Pissoirraum eintreten! Die hier für beide Teile
nach allgemeinen Begriffen doch eigentlich nicht mehr als wohlanständig zu
bezeichnende Einrichtung findet sich in den neuen Bahnhöfen in Frank¬
furt a./M., Danzig, Düsseldorf, Essen u. s. w. Sind denn wirklich die Eisen¬
bahnbaumeister nicht im stände, gut gelüftete Klosettanlagen unter Berück¬
sichtigung berechtigter Schamhaftigkeit zu konstruieren? Daß es geht,
zeigt z. B. die neue vortreffliche Anlage in Duisburg-Bahnhof. Leider aber
habe ich gleiche Einrichtungen schon anderwärts gefunden, z. B. im Hof¬
garten zu Düsseldorf. In einem recht guten Restaurant in Lüttich fand
ich neuerdings sogar die Einrichtung, daß der Abort für Damen durch das
Pissoir betreten werden mußte! Wollen wir den Franzosen, Italienern,
Belgiern und Spaniern etwas nachmachen, so haben diese Völker, wenigstens
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60 XXVIH. Versammlung d. D. Vereine f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden«
die ersten drei, anderes Nachahmenswertes, die Ungeniertheit wollen wir
ihnen allein lassen.
„Wie denken die Vereine zur Hebung der Sittlichkeit oder zur Be¬
kämpfung der Geschlechtskrankheiten über die Sache?
„Im übrigen sind die Aborte überhaupt ein wunder Punkt bei den
romanischen Völkern. Schon in Nordfrankreich; nun aber erst in Süd¬
frankreich! Da findet man in guten Restaurants für Einheimische einen
einzigen Abtritt im Hause, d. h. in einem zementierten Kämmerchen ein
Loch in dem Fußboden und davor als Wegweiser und Rettungsstation bei
der herrschenden Sündflut zwei auswärts gekehrte erhöhte Fußabdrücke —
voilä tout! Aber in Spanien! Was da unter dem Namen Klosett zur Ver¬
fügung gestellt wird, das läßt sieb überhaupt nicht beschreiben.
„Was wir in Bezug auf Klosetts fordern müssen, das wollen wir lieber
den Amerikanern und Engländern absehen. Wir sind meist noch weit da¬
von entfernt, die nach jeder Richtung hin vortrefflichen großen, hellen»
sauberen, mit Vorraum und Toilette bestens ausgerüsteten Klosetträume der
Gasthäuser in diesen Ländern zu erreichen; ja, man würde solche als einen
Luxus bei uns vielfach ansehen. Und doch — wie ungemein hygienisch ist
eine solche Einrichtung! Sie wirkt auch erziehlich.
„Vieles ist bei uns jetzt schon besser geworden, und es wird hoffentlich
weiter auch nach dieser Richtung die Gasthofhygiene vorschreiten.
„Wir brauchen in Schank- und Gasthäusern dann eine genügende
Anzahl leicht erreichbarer Klosetts; das Spalierbilden der Inter¬
essenten am Morgen, wie es die Sparsamkeit der Klosetts in manchen
Hotels, z. B. in Italien, zeitigt, darf nicht nötig werden.
„Die Klosetträume müssen wasserdichten Fußboden haben, genügend
erwärmbar, leicht rein zu halten und stets rein gehalten sein und dürfen nur
dem einen Zwecke dienen, nicht etwa, wie ich das in Spanien sah, auch
für das Kleiderreinigen bestimmt sein, auch nicht für die Aufbewahrung
von Reinigungsgerät oder gar für die Badewanne nach neuester Sitte. Sie
müssen direkt nach außen gehende Fenster und Lüftungsvor¬
richtungen, Sitz, Fußboden und Wände leicht abwaschbar, haben»
hell und, wo es möglich ist, erwärmbar sowie jederzeit erhellbar
sein und sollten auch vom Korridor, jedenfalls aber unbedingt von
jedem bewohnten Raume, durch einen Vorraum getrennt sein, der
seinerseits wiederum direkt nach außen gehörig entlüftet. Ferner:
„Zugänge vom Gastzimmer sind nur gestattet, wenn da¬
zwischen ein hinreichend großer Raum liegt, welcher Luft und
Licht reichlich direkt von außen erhält. In diesem Zwischenraum
werden zweckmäßig die Wascheinrichtungen untergebracht.
„Daß die Klosetträume nicht mit Küche, Speisekammer, Fremden- und
Wohnzimmer Zusammenhängen dürfen, ist selbstverständlich; ebensowenig
dürfen sie in die Korridore direkt entlüften.
„Wirklich ausreichend rein und tunlichst geruchlos sind nur die Wasser¬
spülklosetts, auch genügen sie am besten allen hygienischen Anforderungen
wegen definitiver Beseitigung der Fäkalien. Zahlreiche Versuche der Wirte»
durch besondere Desodorantien oder Geruchübertäubungsmittel den
Klosettgeruch zu beseitigen, sind durchaus anerkennenswert, sie fassen das
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstatten. 61
Übel aber nicht an der Wurzel an und sind die Folgen meist mißverstandener
Auffassung von Desinfektion.
„Auch sollten die Klosetts für die Gäste und für die Bewohner
des Gasthauses getrennt sein; in größeren Gasthäusern sollte auch das
Personal besondere Klosetts haben.
„Für Pissoirs gelten dieselben Anforderungen; sie erscheinen entbehr¬
lich, wo porzellanene Klosettbecken mit selbsttätig hochstehendem Deckel
vorhanden sind; so wird wohl am besten der sonst fast unvermeidliche urinöse
Geruch vermieden. Für regelmäßige ausreichende Reinigung des
Fußbodens um die Becken ist zu sorgen. Werden besondere Urin¬
becken gewählt, so empfiehlt es sich, Stücke von Seife oder Naphthalin oder
Kampfer dauernd darin liegen zu lassen. Ölpissoirs erscheinen gut. Über
Torfitanlagen, welche keinen Geruch auf kommen lassen sollen, habe ich
keine Erfahrung.
„Die Klosetts für Mänuer und Frauen sind, zumal für die
Gastzimmer, wie gesagt, gehörig räumlich zu trennen. In manchen
Hotels findet man als hygienische Einrichtung, was besonders registriert
werden mag, in einigen Fremdenzimmern Bidets für die Frauenwelt.
„Desinfektionen der ganzen Anlagen nebst Inhalt sollten jederzeit
möglich sein.
„Indessen mit Beseitigung der Fäkalien und des Urins sind wir nicht
fertig. Gerade in einem Gasthause gibt es noch vielerlei zu Beseitigendes.
Die Abfälle der Küche unterscheiden eich im wesentlichen nur quanti¬
tativ von denen des gewöhnlichen Haushaltes; doch dürfte gerade hier
häufiger wegen Nichtverwendnng Verdorbenes und Übelriechendes zu ent¬
fernen sein; die Beseitigung muß also gründlich und unschädlich
erfolgen.
„Gefährlich und leicht infektiös wird aber der Kehricht aus den Gast-
und Fremdenzimmern sein können. Der trockene Müll ist also in sicherer
Weise, je nach der Örtlichkeit, dauernd zu beseitigen.
„Für die immer sich findenden Hustenden, und zwar nicht bloß für
Tuberkulöse, ist das Ausspeien auf den Fußboden durchaus zu verbieten.
„Spucknäpfe sind genügend aufzustellen. Der Inhalt ist unschädlich
zu verbringen und zu desinfizieren.
„Ist die Beseitigung wässeriger Abfall Stoffe sachgemäß, z. B. in
eine Kanalisation oder eine dichte Grube, so können auch die Spuck-
n&pfe, das Spülwasser, das Badewasser, Wasch- und Schmutz¬
wasser u. s. w. gleichzeitig dahin entleert werden.
„Eine sehr zweckmäßige Neueinrichtung sah ich unlängst wiederholt
im Westen, so in Belgien und in Düsseldorf, neuerdings auch weiter. Es ist
eine, auf einem etwa lm hohen Ständer befestigte, vernickelte Hohleisen¬
blechkugel, deren eines Segment drehbar ist, also die Kugel bald schließt,
bald öffnet. Hier werden alte Wischtücher oder auch Zigarrenstummel, die
ja bekanntlich die Luft so verderben, Tabaksasche, Glasscherben, trockene
Speisereste und aller sonstiger trockene Abfall unsichtbar und geruchlos
untergebracht, um demnächst beseitigt zu werden. Das Ding sieht wie ein
Schmuckstück aus und dürfte zur Nachahmung, auch übrigens als Spuck¬
napfmodell, anregen. Man nennt sie „Boules ä torchom u = Lappenkugeln.
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62 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Für die Reinigung der Stiefel sind Fußkratzer, Vorlagen, Matten
und Mattenvorsatz in genügender Menge und am richtigen Ort einzustellen
und selbst gehörig zu reinigen. Praktisch erscheinen die ausglühbaren
Fußmatten von Heppe in Hagenau (Elsaß).
„Endlich gehört es auch zur Beseitigung des Abfalles, daß der Staub
von den auszubürstenden Kleidern der Gäste richtig beseitigt wird. Dies
Ausbürsten und Ausklopfen muß natürlich im Freien geschehen,
ebenso ist das Teppichklopfen, das Reinigen in den Korridoren, vor der
Küche, in der Schlafstube des Hausknechts u. s. w. ungehörig. Im übrigen
ist es nichts weniger als hygienisch, wenn mit einer und derselben
Bürste nacheinander Kleider der fremden Gäste abgebürstet werden. Wer
weiß, was da alles übertragen wird! . Zum wenigsten sollte eine tägliche
gründliche Reinigung der Bürste dem Hausdiener abverlangt werden,
was freilich nicht leicht ist, wenn nicht gerade Sonne scheint. Es dürfte
eine nützliche Studie für Bakteriologen sein, einmal festzustellen, was für
Bakterien so einer Kleiderbürste anhaften, wie sie sich im Laufe des Ab-
bürstens mehren, und wie die Bürsten schnell und bequem zu desinfizieren
seien; Auskochen geht bekanntlich wegen des Leimes nicht, ebensowenig
die gründliche Anwendung desinfizierender Lösungen, auch trocknen die
Bürsten zu langsam. Es ist dieselbe Kalamität wie mit den Haarbürsten
der Friseure. Meines Erachtens dürfte Eintauchen der Bürstenhaare in
desinfizierende Lösungen, z. B. in warme Sodaseifenlösung, für ein bis zwei
Stunden, doch zum Ziele führen *).
„Ich komme nun zum dritten wichtigen Punkte, die allgemeine
Bauart und Einrichtung der Gasthäuser betreffend.
„Die ministeriellen Anforderungen verlangen: „Lage der Gast-
und Schankwirtschaften an öffentlichen Wegen, in Städten an beleuchteten
Straßen, unter Ausschluß von Häusern mit gewerbsmäßiger Unzucht —
weiter ist nicht gegangen — und von Räumen, welche zu Wohn-, Wirt¬
schafts- oder fremdartigen Gewerbezwecken dienen, sowie der Nähe von
Krankenhäusern; etwaige Treppen müssen genügend breit, nicht zu steil,
mit einem festen Geländer versehen sein, die Türen eine entsprechende Breite
haben (§§ 1 und 2); ferner müssen (§ 3) die Gastzimmer und Schlafräume
durchaus trocken, mit gedielten Fußböden, sowie mit verschließbaren Türen
und mit gut schließenden, zum öffnen eingerichteten Fenstern, welche einen
hinreichenden Zutritt von Luft und Licht unmittelbar von der Straße
oder vom Hof aus gestatten, und, soweit nötig, mit sonstigen zur Her¬
stellung eines genügenden Luftwechsels erforderlichen Einrichtungen ver¬
sehen und überhaupt ihrer ganzen Anlage nach so beschaffen sein, daß sie
die menschliche Gesundheit in keiner Weise gefährden.
„An den in diesen Zimmern vorhandenen Öfen dürfen Verschlußvorrich-
tungen, welche den Abzug des Rauches nach dem Schornsteine zu verhindern
geeignet sind, als Klappen, Schieber oder dergleichen, nicht vorhanden sein.
„Sämtliche Räumlichkeiten sind mit den erforderlichen Ausstattungs-
l ) Auf der Städteausstellung in Dresden im hygienischen Pavillon war eine
zweckdienlich erscheinende Desinfektions- und Reinigungseinrichtung für Bürsten
von Ritter von Fritsch ausgestellt.
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstatten. 68
gegenständen zu versehen. tf Ferner ist bestimmt durch den Zusatz im Er¬
lasse vom 1. März 1990: „Kellergeschosse dürfen als Schlafräume für Gäste
überhaupt nicht, als Schanklokale aber nur unter den Bedingungen benutzt
werden, daß die bezüglichen Räume gegen das Eindringen und Aufsteigen
der Erdfeuchtigkeit geschützt, und daß die Fußböden nicht tiefer als 1 m
unter dem umgebenden Erdboden belegen sind. Bei ungleicher Höhenlage
des umgebenden Erdbodens ist die Tiefenbemessung von 1 m im Durch¬
schnitt vorzunehmen. u
„Endlich sagt noch § 4: „In jeder Gast- und Schankwirtschaft muß
sich ein Zimmer von mindestens 25 qm Bodenfläche zum gemeinschaftlichen
Aufenthalte der Gäste befinden, und es müssen ferner in jeder Gastwirtschaft
mindestens drei wohl eingerichtete Schlafzimmer für Fremde vorhanden
sein.“
„Für sämtliche Gast- und Schlafzimmer wird eine lichte Höhe von
mindestens 2*80 m erfordert.
„Für die Schlafzimmer sind mindestens 3 qm Bodenfläche und 12 cbm
Luftraum auf jeden einzelnen Gast zu rechnen.
„Endlich wird, was selbstverständlich erscheint, gefordert (§ 3 Schluß),
daß die „Gast- und Fremdenzimmer außerdem allen Anforderungen ent¬
sprechen, welche durch die baupolizeilichen Vorschriften des Ortes vor¬
gesehen sind“.
„Das alles ist ganz schön und gut, zum Teil auch ziemlich weitgehend,
besonders wichtig ist das ausdrückliche Verbot gesundheitsgefähr¬
licher Beschaffenheit der Räume; nach manchen Richtungen sind aber
die Bestimmungen sehr milde, z. B. fehlt jede bestimmte Vorschrift über die
Heizbarkeit der Räume, auch ist das Maß des für die Schlafgäste
geforderten Platzes sehr bescheiden.
„Und doch: wie weit bleibt oft noch die Wirklichkeit hinter diesen
bescheidenen Anforderungen zurück! Während freilich große prächtige
Hotels entstanden sind, die weit mehr bieten.
„Und das ist nötig. Gasthäuser sollten keine Stätten sein, wo man
seine Gesundheit irgendwie gefährdet; wie man an Krankenhäuser heute
hohe Anforderungen stellt, so muß man das auch an Gasthäuser, ent¬
sprechend dem heutigen Grundsätze der Hygiene: Krankheiten vorzubeugen
ist noch wichtiger als sie zu heilen!
„Die Polizeiverordnungen sind über die Bestimmungen oft weit hinaus-
gegangen, z. B. fordert Breslau vom Flur direkt zugängliche Schlafstellen
mit 6 qm Bodenfläche und 20 cbm Luftraum pro Gast, ferner 3 m Höhe der
Gaststuben und 3'5 qm Bodenfläche.
„Da liegt mir auch eine Polizeiverordnung vom 10. Oktober 1901
für den Kreis Mettmann im Regierungsbezirk Düsseldorf vor. Darin
wird u. a. bestimmt: Wirtschaften, in denen Zugtiere untergestellt werden,
müssen einen gut ab wässernden Hof haben usw. (§ 2); die Gebäude „müssen
aus gutem Material massiv gebaut, trocken und luftig sein“, Feuersicher¬
heit ist vorzusehen, die sämtlichen Zimmer müssen auf dem Lande
mindestens 3*5m, in geschlossenen Orten 4 m hoch sein, durchaus
trocken, mit gedieltem Fußboden, mit gut schließenden, zum öffnen ein¬
gerichteten Fenstern, welche einen hinreichenden Zutritt von Luft und
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64 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege za Dresden.
Licht unmittelbar von der Straße oder vom Hofe aus gestatten und,
soweit notig, mit sonstiger zur Herstellung eines genQgenden Luftwechsels
erforderlichen Einrichtung versehen sein, und überhaupt ihrer ganzen
Anlage nach so beschaffen sein, daß sie die menschliche Gesund¬
heit in keiner Weise gefährden. Für die Beleuchtung ist, soweit
möglich, Gas oder Elektrizität zu verwenden (§ 3). „Die sogenannten
Stehbierhallen müssen einen freien Flächenraum von nicht unter 15 qm
haben und diesem Größenverhältnis entsprechend mit Sitzgelegenheit ver¬
sehen sein a (§ 5). „Außer einem ausreichend großen Pissoir mit mindestens
drei getrennten Ständen sind je für Männer und Frauen Aborte anzu¬
legen, die vollständig getrennte Zugänge haben und von denjenigen für
Hausbewohner getrennt sein müssen. Die Abortanlagen und Pissoirs
müssen sich stets in einem sauberen Zustande befinden und nach Bedürfnis
desinfiziert werden. Diese Anstalten dürfen mit den Wirtschaftsräumen
nicht durch eine Tür in unmittelbarer Verbindung stehen, müssen jedoch
durch einen überdachten Gang zu erreichen sein. tf
„Die Bedürfnisanstalten müssen in geschlossenen Orten, wo
Wasserleitung vorhanden, und überall, wo Anschluß an eine
Wasserleitung möglich ist, stets mit Wasserspülung, sonst mit
Torfstreuung versehen sein. Jede Wirtschaft, die Wasserleitungs -
anschluß hat oder haben kann, muß mindestens eine für die
Gäste bestimmte und stets zugängliche Waschgelegenheit in
einem Vor- oder Nebenraume der Aborte haben. Es muß stets
Seife und ein sauberes Handtuch zur Stelle sein und der Raum
immer in sauberem Zustande gehalten werden (§6). Die Fremden¬
zimmer müssen 10 bis 12 qm Bodenfläche haben; erforderlichen¬
falls ein stets im gebrauchsfähigen Zustande zu haltendes Bade¬
zimmer haben (§ 7). Gartenwirtschaften außerhalb geschlossener
Ortschaften müssen ausreichend geräumige, leicht abwässernde Garten¬
anlagen mit schattengewährenden Baumgruppen und Lauben, benutzbare
Spiel- und Tummelplätze für Kinder und Erwachsene und soviel Raum
in Gebäuden, z. B. Sälen, überdachten Hallen u. dgl. haben, daß darin
die sämtlichen Anwesenden untergebracht werden können (bei schlechtem
Wetter) (§ 9).
„Das sind allerdings Anforderungen eines noch dazu großenteils länd¬
lichen Kreises, die sich im Anfänge des 20. Jahrhunderts sehen lassen
können; besonders wertvoll sind auch die Bestimmungen über Garten¬
wirtschaften am Schluß. Aber wie viele Kreise haben gleiche Bestim¬
mungen?
„Allgemein sei nun zum Bau noch folgendes bemerkt:
„Bezüglich der Lage der Gasthäuser ist natürlich ein gesunder Bau¬
grund, dann aber auch eine hinlängliche Entfernung von störendem
Geräusch (Bahnhöfen, Fabriken, Verkehrslärm) und sonstigen Belästi¬
gungen (Rauch, Sumpf, Mücken- und Fliegenplage), zumal in Gegenden
mit Malariau.dgl.m., sowie tunlichst freie Lage zu wünschen. Räume,
die ihre Luft aus dumpfen Gassen, Stallungen, von übelriechenden gewerb¬
lichen Anlagen u. dgl. m. beziehen, sind zu Gasthäusern schon gar nicht
geeignet.
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstatten. 65
„Zweifellos ist eine gewisse Abgesondertheit der Wirtshäuser gegen
die Umgebung und Nachbarschaft gut, zum wenigsten bezüglich der Ein¬
gänge, des Hofes, der Klosetts, auch der Nebenräume.
„Mailgebendes Prinzip für den eigentlichen Bau muß nunmehr,
abgesehen von der bereits erörterten Frage der begonnenen Wasserzuführung
und der sachmäßigen Beseitigung aller Abfallstoffe, und abgesehen weiter von
der Feuersicherheit sein: Freier reichlicher Zutritt von reiner Luft
und Sonnen- wie Tageslicht in alle für die Gäste bestimmten
Räume.
„Alle diese Räume werden daher in guten Wirtschaften hoch und ge¬
räumig hergestellt und einerseits direkt mit der Außenluft, andererseits direkt
mit dem Korridor in Verbindung gebracht, der seinerseits ebenfalls breit,
hoch, ohne viele Winkel, direkt dem Tageslicht und der freien Luft reich¬
lich zugänglich konstruiert wird. Ist ein Mittelgang im Interesse der Spar¬
samkeit nicht zu vermeiden, so muß er an den Kopfseiten mit ausreichenden
Fenstern und Ventilationsvorrichtungen versehen sein. Die winkligen, an
natürlichem Licht und Luft armen Korridore der alten Gasthäuser sind
durchaus ungesund und um so verwerflicher, da die Fremdenzimmer hierher
münden, die ihrerseits wieder größtenteils auf die Luftzufuhr von diesen
Korridoren angewiesen sind.
„W. Ehrhardt regt in einer kleinen Schrift „Zeitgemäße Gasthäuser“
an, in jedem Gasthause einen von der Kellersohle bis zum Dach reichenden,
mindestens 4 qm breiten Schacht für die Einbringung der Leitungen und
Röhren sowie für die Entlüftungen einzubauen, was mir nicht unpraktisch
erscheint.
„Gastzimmer sollten jedenfalls ihr Licht nicht allein von Norden
erhalten.
„Die Fenster sind hoch und breit zu gestalten und zwar tunlichst
so, daß sie ganz nach oben oder nach unten zu öffnen sind, also als Glas¬
türen oder Schiebefenster. Besondere Ventilationsvorrichtungen dürfen
nicht fehlen.
„Wie unendlich viel angenehmer und hygienischer wirkt ein großes,
helles, von Tageslicht und frischer Luft durchströmtes, in seinen Wänden
hell und einfach solid dekorativ gehaltenes Speise- oder Restaurationszimmer
mit freistehenden kleinen Tischen als ein wie ein Schiffsraum von kabinen¬
gleich durch Portieren abgeschalteten Gabinets separts umgebener Raum,
der im Ganzen wie in seinen Einzelheiten nur künstlich erhellbar ist, nie
bis in alle Winkel von frischer reiner Luft durchströmt, noch weniger von
Sonnenstrahlen getroffen wird! Welch eine Unsumme mikroskopischer,
schlecht zerstörter organischer Materien, von Bakterien ganz zu schweigen,
mag sich an diesen dunkeln Stellen anhäufen, wo ein Mensch den anderen
ablöst, speisend, rauchend, sich räuspernd, ausdünstend, atmend u. s. w.
„Also Licht und Luft im Gasthause überall! Dasselbe gilt von
den Toiletten und auch tunlichst von den Neben räumen.
„Alle Fremdenzimmer müssen unbedingt direkt Licht und Luft
von außen erhalten und direkt mit dem Korridor in Verbindung stehen; die
dunkeln lnfterneuerungsarmen Zimmer, eingeschachtelt, oft nur eins durch
das andere zugänglich, wie man sie in älteren Hotels findet, sind durchaus
Viertel jahrsschrift Air Gesundheitspflege, 1904. 5
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66 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
verwerflich und sollten direkt geschlossen werden. Auch die fensterlosen
Zimmer Italiens, nach alter Sitte um das Atrium, offen dahin, gruppiert,
können nicht als vollhygienisch angesehen werden.
„Auf dem hygienischen Kongreß in Paris 1900 berichtete, wie ein¬
gangs erwähnt, Rives über das von dem „Touring Club “, der 80000 Mit¬
glieder zählt, auf der Pariser Ausstellung vorgeführte „hygienische
Hotelzimmer“ für kleinere Hotels unter folgenden Forderungen: Die
Hotelzimmer sollten, wenn irgend möglich, der Sonne ausgesetzt und
von einer Bodenfläche von mindestens 3 X 5m = 15 qm und von einer
Höhe von mindestens 3 m, also von einem Inhalte von 45 cbm sein.
Die Fenster sollen groß, hoch, zweiflügelig, oben mit VentilationsVorrich¬
tungen, mit äußeren Jalousien versehen sein; am besten sind die seit¬
wärts völlig zurückzuziehenden Fensterläden, welche nicht, wie die hinauf¬
zuziehenden, den oberen Teil der Fenster verdecken und verdunkeln. Der
Ofen oder Kamin soll ohne viel Ecken und Buchten, hellfarbig, groß, mit
Ventilationsvorrichtungen ausgestattet, die Decke eben, kein Staubfänger
sein, ohne Karnies; die Wände sollen ausgekehlt sich an Decke und Fu߬
boden anschließen, der Fußboden sei von Parkett, ohne Fugen, wasser¬
dicht,die Tür einflügelig; die plastischen Dekorationen, Leisten u.s. w.,
werden soviel als irgend möglich vermieden, da sie Staub- und Insekten¬
niederlagen darstellen; desgleichen sind Tapeten zu vermeiden, da sie Un¬
ebenheiten bilden, der Klebstoff sich leicht zersetzt, Schimmelbildung entsteht,
das Abwaschen unmöglich ist; die Wände sollen daher mit Ölfarbe oder, wo
dies zu kostspielig ist, mit Kalkfarbe gestrichen werden und zwar in heller
Farbe. So ist das ganze Zimmer leicht waschbar und desinfizierbar.
„Ich möchte dies alles im allgemeinen unterschreiben und die gleichen
Wünsche für die Gastzimmer und manche Nebenräume aufstellen; besonders
wichtig ist zweifellos der Eintritt der Sonnenstrahlen; sie absorbieren im
Verein mit der Lüftung die Feuchtigkeit und vernichten die Ansteckungs¬
keime, denen wir doch nicht fortgesetzt mit Desinfizientien nachsetzen können.
Zweifelhaft ist nur der Vorteil des Ölanstriches, der jetzt so allgemein ge¬
priesen wird; die Reinlichkeit ist dabei freilich am größten, aber die völlige
Undurchlässigkeit der Wände hemmt die Verdunstung, begünstigt also die
Feuchtigkeit; wenigstens an der Außenwand sollte sie wegbleiben. Und
dann wird keine Neigung sein, auch kaum ein zwingender Grund, auf die
ungemein dekorativ wirkende und doch auch reinigungbare und des¬
infizierbare Tapete zu verzichten.
„Eine böse Unsitte ist die einfache Verbindungstür zwischen zwei
Stuben; dadurch wird der Aufenthalt fast öffentlich; man hört seinen Nachbar
reden, husten, räuspern, spucken und — entsetzlich! — schnarchen u.8.w.,
man spürt den Zigarrenrauch und wird durch alles dieses empfindlich ge¬
stört; ganz besonders unleidlich ist es, wenn man über einem Restaurant
wohnt und die Gäste bis in die Nacht hinein schreien und kommersieren
hört und nicht schlafen kann. Bei den heutigen Eisenkonstruktionen ist
diese Hellhörigkeit besonders lästig. Dies sollte vermieden und bei Neu¬
einrichtungen sogar polizeilich verhindert werden.
„Ebenso müssen die Wände zwischen je zwei Zimmern so dick sein,
daß sie die gewöhnlichen Geräusche nicht durchdringen lassen.
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 67
„Jedenfalls ist auch das yod Rives betonte Prinzip der leichten
Waschbarkeit und eventuellen Desinfizierbarkeit der Räume ein
anzuerkennendes und sollte daher bei der Erbauung von Gasthäusern neben
dem der freien Durchlichtung und Durchlüftung bis zu einem gewissen
Grade gewahrt werden.
„Von Einzelheiten des Baues sei der bequemen und feuersicheren
Treppen, Nottreppen und Notausgänge, wie des ebenfalls sicheren Auf¬
zuges gedacht. Anregen möchte ich hierbei nur, ob es sich nicht empfehlen
würde, an Stelle der Treppen in großen Häusern hier und da die bequemeren,
langsam steigenden Wendelgänge einzurichten, wie ein solcher z. B. im
Campanile zu Venedig war.
„Die Heizung sei wie die künstliche Beleuchtung, wenn irgend
möglich, zentralisiert, letztere natürlich im Interesse der reinen Luft
womöglich elektrisch. Nur eine Zentralheizung gewährleistet eine gleich¬
mäßige fortgesetzte Durchwärmung der gesamten Räume einschließlich der
Wände. Ist sie durchaus nicht zu haben, so sind Öfen von guter moderner
Konstruktion und mit Ventilationsvorrichtungen aufzustellen.
„Endlich ist bei der Anlage eines Gasthauses vorzusehen, daß den
Gästen im Sommer wie im Winter und bei jeder Witterung Gelegenheit
gegeben werde, sich im Freien oder doch unter dem energischen Ein¬
fluß der freien Luft aufzuhalten. Es sind also erwünscht Terrassen,
Balkons, Veranden, Wintergärten, gedeckte, aber reichlich öffenbare Hallen,
gedeckte Gänge, Wandel- und Ruhekolonnaden, womöglich mit Ausblick auf
die See oder den Wald oder sonst ins Freie, platte Dächer, Zeltdächer über
freien Plätzen, auch auf der Straße, Gärten mit Lauben, schattigen Stellen
und Spielplätzen, wie es die Polizei Verordnung für Mettmann verständig
vorsieht. Wenn man neuerdings in den Vororten Berlins im Sommer die
Billards ins Freie setzt, so ist das auch schon ein hygienischer Fortschritt;
das Billardspiel kommt damit dem Kegelspiel, d.h. demjenigen im Freien,
nahe. Die Winterkegelbahnen können keineswegs als hygienisch gelten
und verdienen noch manche Verbesserung, zumal für Lufterneuerung, Zug¬
mangel und gleichmäßige Durchheizung.
„Wundervolle Gartenanlagen mit Glasveranden und künstlerisch schön
geschmücktem Hofe sah ich unlängst im Hotel d’Orange in Spa; eine herr¬
liche Kolonnade zum Gehen und Liegen besitzt das neue monumentale
Royal Palace Hotel in Ostende. Auf der Straße vor dem Restaurant sitzt
man bekanntlich vielfach im Süden und Westen, bei uns dem Klima ent¬
sprechend nicht so viel; um so mehr sind hier uns gedeckte Veranden
nötig. Die Dächer könnten, zumal im Süden, aber auch wohl bei uns mehr
für den Aufenthalt der Gäste hergerichtet werden. Ich fand unlängst im
Hotel Bristol zu Tanger-Marokko diesen Wunsch erfüllt. Ausgebildet sind
die „ Roofgardens a in Nordamerika, z. B. in New York und Chicago; vgl. das
Auditorium-Hotel in Chicago und das Majestic-Hotel in New-York, das auf
dem Dache des zehnten Stockes sogar Lauben aus Topfbäumen hergestellt
enthält. Es läßt sich eben viel machen, wenn man nur will. Bekannt wegen
seines hübschen Wintergartens ist das Albergo Bonciani in Florenz.
„Werden Lese-, Konversations-, Rauch- und auch Speise¬
zimmer tunlichst ins Freie oder doch Halbfreie verlegt, so ist
5*
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G8 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
damit viel für die Gesundheitlichkeit der Gasthäuser gewonnen. Und
könnte man nicht noch einen Schritt weitergehen?
„Überblicken wir den Fortschritt im Bau von Hotels in der neueren
Zeit, so finden wir immer schönere und größere Riesenbauten mit allem
möglichen Luxus und dementsprechenden Preise erstehen. Da fallt aber
auf, daß man nicht umgekehrt die Auflösung der großen Gebäude in
viele kleinere, wie wir sie einerseits im Pavillonstil der Krankenhäuser,
andererseits in dem Eigen- oder Kleinhaus im Privatleben sehen, im
Hotelbau nachahmt. Freilich wäre ein solcher Bau teuer und der Betrieb
schwierig und ebenfalls teuer; aber das Geld dürfte heute da sein. Gewiß
würde so mancher Reisende, der heute in ältere Pensionen trotz aller ihrer
Mängel einkehrt, um ruhig zu leben und nicht von Portiers, Kellnern,
Dienstmädchen, Fremden usw. umlaufen zu sein, mit seiner Familie ein
kleines Haus oder Halbhaus oder meinetwegen Viertelhaus mit Gärtchen
oder im Park für erheblich teueres Geld gern mieten und dazu die Annehm¬
lichkeiten des guten Hotels in Kauf nehmen, wenn es eben derartig zerteilte
Hotels gäbe. Es wundert wirklich, daß das noch nie versucht ist; ich glaube,
an so manchen vielbesuchten Reiseplätzen an der See oder im Gebirge und
in Kurorten würde es sich lohnen, so zu bauen. Dann könnte man leicht
auch Kranke in besonderen Häuschen unterbringen und so absondern.
„Und damit wäre die Hygiene des Hotelbaues und Hotellebens einen
ganz erheblichen Schritt weiter gekommen *).
„Der Bauart muß nun die Einrichtung und Ausstattung ent¬
sprechen. Auch hier müssen die Prinzipien walten: keine Störung der
Durchlichtung und Durchlüftung! leichte Reinbarkeit! In Gast-
wie Fremdenzimmern soll man alle unnötigen Staubfänger tunlichst ver¬
meiden, Gardinen, Portieren, Stores möglichst einschränken, größere,
schwer bewegliche oder gar festgenagelte Teppiche jedenfalls durchaus fern
halten; am besten sollte man sich in den Fremdenzimmern mit kleinen
Bettvorlagen, übrigens mit Linoleum begnügen. Nichts im Zimmer wird
mehr allerhand Keime festhalten als ein großer, weicher Teppich; man be¬
trachte nur einmal einen solchen in nicht absolut sauberen Hotels! Ab¬
gesehen von Wolken von Staub beherbergt er sichtbare Schmutzstücke aller
Art und Flecken, eingetrocknete Sputa, abgeschnittene Nägel von Händen
und Füßen, dementsprechend gewiß auch Nagelschmutz, Speisereste usw.;
unter dem Teppich aber liegt eine Schicht dichten Staubes. Es ist über¬
haupt lehrreich, was die Vorgänger in dem Hotelzimmer alles zurücklassen!
Der Schrank und der Ofen sind die häufigsten Zeugen, man findet aber auch
') Ich bin nachträglich darauf aufmerksam gemacht worden, daß es solche
Hotels gibt. So das „Hawaian-Hotel“ in Honolulu mit seinen „Family-Cottages“.
Ferner sind auf dem Nordseebad Lakolk auf Röm Blockhäuser mit zwei bis sechs
Zimmern (Familienhäuser) für die Gäste errichtet und untereinander wie mit der
Kaiserhalle durch Holzwandelbahnen verbunden. Es wird zum Essen in der
Kaiserhalle wie auch gegen Preisaufschlag in den Blockhäusern serviert. Endlich
findet sich ein Ansatz zum Eigenhaus gelegentlich in ausländischen Hotels, z. B.
Nordamerikas, d. h. ein in sich abgeschlossener und vom übrigen Hotel getrennter
Komplex von zwei bis drei Stuben, Badezimmer, Klosett, mit besonderem Eingang,
nur im Ganzen zu vermieten.
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Hygienische Hinrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten.
69
vergessene Taschentücher, natürlich benutzte, unter dem Bett; ja, in Granada
mußte ich gar zwei mit Kloakeninhalt gefüllte Nachttöpfe konstatieren. Hieran
war aber niemand im Hotel schuld, denn ich kam an am frühesten Morgen
nach der eben erfolgten Abreise einer englischen Lady nebst Miss.
„Alle Möbel sollten leicht, ohne große Verschnörkelungen und so her¬
gestellt sein, daß sie regelmäßige Waschungen vertragen. Plüsch ist nicht
leicht zu reinigen, am besten sind Leder und andere glatte Stoffe, Holz,
Bambus, Metall; waschbare Überzüge für Stühle sind sehr empfehlens¬
wert.
„Zumal zu Bettstellen sollte nur Metall verwendet werden; schon der
Wanzen wegen, dann aber auch der leichteren Reinbarkeit halber sind
eiserne Bettstellen in Hotels durchaus vorzuziehen.
„Der Boules ä torchons ist schon gedacht, ebenso der Spucknäpfe,
die in genügender Anzahl vorhanden sein müssen. Vortrefflich zeigte sich
diese Angelegenheit in Gasthäusern Genuas geregelt.
„Beachtenswert erscheinen mir die von Heppe in Hagenau angefertigten,
etwa 60cm hohen hohlen Speisäulen aus farbigem Blech, Steingut usw.,
da sie ästhetisch nicht so verletzend wirken; sie sind nach Angabe des
Verfertigers in Gebrauch in Ems und Frankfurt a. M., Hauptbahnhof.
„Besondere Beachtung erfordert das Bettzeug; es muß tunlichst viel
Waschbares da sein und auch oft gewaschen werden.
„Die wollenen Decken oder Steppdecken nicht in geschlossene
Überzüge völlig einzuhüllen, sondern nur teilweise mit einem Leinen und
zwar an der Unterfläche zu bedecken, ist trotz der schönen Seidenverzierungen
eine grobe Unsitte, besonders im Westen und Süden im Schwünge; denn
die Decken kommen so, da die wenigsten Menschen absolut ruhig liegen,
direkt mit dem Körper eines Gastes hinter dem anderen in Berührung. Und
dies ist nicht nur ungemein ekelhaft, sondern kann auch zur Übertragung
■von Krankheiten führen. Hier ist ein Punkt, der, soweit einsichtige Wirte
nicht von selbst bessernd Vorgehen, das Publikum oder die Polizeigewalt
einschreiten sollte.
„Federbetten und Federkopfkissen sammeln mit der Zeit eine
Unsumme von Unreinlichkeiten an; sie sollten nur auf besonderen Wunsch
gegeben werden.
„Sodann ist ein energisches Wort zu Gunsten der Papierwäsche in
Wirtschaften, insbesondere der Papierservietten zu reden. Diese sind
absolut hygienisch; sie werden nach der Benutzung verbrannt. Nicht so
die Zeugservietten, da sie nicht überall sicher nach jeder Benutzung wirklich
gewaschen bzw. auch durchgekocht werden; vielmehr ist es eine anscheinend
immer mehr sich einnistende Unsitte, gebrauchte Servietten, wenn sie ohne
deutliche Flecken sind, nur anzufeuchten und durch die Mangel zu ziehen.
Derartige Servietten fühlen sich feucht an, riechen dumpf und selbst nach
Speisen und sind ganz gewiß nicht „einwandfrei u , sondern eben „mangel¬
haft“. Wer es also gut mit seinen Mitmenschen oder vielmehr Nachfolgern
so meint, der lege in einem zweifelhaften Hotel — und sie gehen weit hin¬
auf — nie eine Leinwandserviette ohne deutliche Flecke aus der Hand;
Saucen, Kaffee, Rotwein, Bier oder Obst wird man ja wohl immer zur Dis¬
position haben; dann muß die Serviette auf alle Fälle ausgewaschen werden.
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70 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Es wird aber auch dem Tischtuch nichts schaden, wenn der Gast
seine Fürsorge ihm in gleicher Weise zuwendet. Suum cuique! Ein Wirt,
der gebrauchte Wäsche nicht wirklich waschen läßt, nähert sich dem
genus suum und verdient keine bessere Behandlung. Auch hier durften
Tischdecken von Papier einführbar sein. Bei der Bettwäsche ist die un¬
auffällige Erzeugung von Flecken weniger leicht.
„Daß im übrigen die gesamte Ausrüstung für den Hotelbetrieb
reichlich vorhanden sein muß, braucht nur gestreift zu werden. Jedem
Gaste sollten stets zwei Handtücher, wie in guten Hotels, zur Verfügung
gestellt und hinreichend häufig gewechselt werden.
„Die Tische zum Speisen, insbesondere auch für die sogenannte
Tabled’höte, sollten recht breit sein und die Gäste recht weit voneinander
sitzen, damit die Mundsprühtröpfchen der Speisenden und dabei Redenden
und Hustenden nicht auf die Teller, Gläser und Bestecke der Gegenüber
und Nachbarn fliegen.
„Den Speisenwagen der Eisenbahnzüge seien bei dieser Gelegenheit
im Interesse der Bequemlichkeit und Reinlichkeit die Hängetischchen
empfohlen, wie sie in den Messen der Seeschiffe im Gebrauch sind.
„Endlich ist noch der Vorrichtungen gegen Feuersgefahr zu
gedenken: abgesehen von den im Bau vorgesehenen feuersicheren Treppen,
Nottreppen und Notausgängen wird für Feuerlöschgerät im Hause, Extink-
toren, Rettungsapparate und eioe gewisse Kenntnis des Personals mit diesen
Dingen zu sorgen sein.
„BesondereBestimmungen gelten den Bierdruckvorrichtungen und
Bierhähnen, zu vergl. z. B. Polizei Verordnung für den Regierungsbezirk
Köln vom 26. Oktober 1899: „Als Druckmittel darf nur atmosphärische
Luft oder flüssige Kohlensäure verwendet werden“ (§ 3). Die Luftpumpe
ist in einem großen, reinen Raum aufzustellen, die Luft muß aus dem Freien
entnommen werden und einer Verunreinigung nicht ausgesetzt sein; das
Ende des zuführenden Rohres muß 3 m über dem Erdboden, mindestens
5 m von Bedürfnisanstalten und Düngergruben entfernt und mit einer feinen
Siebplatte versehen sein. Zwischen Luftpumpe und Windkessel muß sich
ein Reinigungsapparat (Ölfänger) mit Hahn und ein Kontrollglas befinden,
welcher stets rein zu halten ist und oben mit gereinigter, entfetteter Baum¬
wolle bzw. Salicylwatte fest ausgestopft ist; diese ist mindestens alle
14 Tage, bzw. wenn sie schmutzig ist, zu erneuern. Die Bierleitungsrohre
müssen durchweg leicht zu reinigen sein und alle Woche mit Bürste und
durchgeleitetem Wasser gereinigt werden; sie müssen aus reinem oder höchstens
1 Proz. Blei enthaltendem Zinn gefertigt sein. Die Einschaltung von Kaut¬
schukstücken ist nur zwischen Faßhahn und dem festen Zinnrohre gestattet;
der Kautschukschlauch darf nur 25 cm lang und muß bleifrei sein. Rohr
und Kran müssen aus Metallen bestehen, welche auch bei längerem Gebrauch
keine der menschlichen Gesundheit schädigende Stoffe in das Bier abgeben,
eventuell sind sie zu verzinnen oder zu vernickeln (§ 4). Gasförmige
Kohlensäure darf, weil nicht rein, nicht verwendet werden, nur flüssige
(siehe Anweisung dazu). Außerdem mehrfache Sicherheits- und Kontroll-
vorschriften (§ .5). Handspritzen, Spritzhähne, um Luft den Trinkgefäßen
zuzuführen, sind ebenso verboten, wie der Gebrauch von Pumpen, welche
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 71
das Hier unmittelbar aus den Lager- nach den Verbrauchsräumen oder das
Bier unmittelbar aus dem Fasse aufsaugen (§ 2).
„Ähnlich sind die Verordnungen in anderen Regierungsbezirken. Viel¬
fach ist die Luft ganz ausgeschaltet und nur die absolut reine Kohlen¬
säure zum Drucke zugelassen.
„Die Kontraventionen gegen diese Verordnungen sind eben nicht selten.
Im Regierungsbezirk Minden führten 349 Revisionen im Jahre 1901 zu
144 Bestrafungen.
„Im übrigen wünscht Pauli sch, „daß der Weg vom Faß des Wirtes
zum Trinkgefaß des Konsumenten möglichst abgekürzt wird tt , und eine
Überfüllung des Bieres aus Flaschen mit Syphonapparaten, die natürlich aus
Metalllegierungen bestehen müssen, welche höchstens 1 Proz. Blei enthalten.
(Reichsgesetz vom 25. Juni 1887, § 1, Abs. 3.)
„Bezüglich dieser Flaschen ist eine wachsende Bewegung im Gange,
welche sich gegen die Patentverschlüsse richtet, weil der Gummi nicht
nur manchmal bleihaltig, sondern ganz besonders allen möglichen Ver¬
schmutzungen durch Hände u. 8. w. ausgesetzt ist. Dieser Bewegung ist die
Berechtigung nicht ganz zu versagen. Es dürfen jedenfalls nur Verschlüsse
angewendet werden, welche vor jeder Neufüllung der Flasche völlig ge¬
reinigt sind. Mit dieser Frage beschäftigt sich eingehend eine Schrift von
Dr. Landgraf: Die mechanischen und speziell die sogenannten Flaschen¬
patentverschlüsse, vom gesundheitlichen Standpunkt aus betrachtet. Es geht
daraus unter anderem hervor, daß auf dem 29. Deutschen Gastwirtstage in
Gera von einer Seite gegen diese Verschlüsse gesprochen wurde, daß in Öster¬
reich-Ungarn durch Verordnung vom 30. März 1899 ihre Anwendung teilweise
verboten ist, und daß in Deutschland an verschiedenen Orten Polizei¬
vorschriften wenigstens über das Reinigen der Verschlüsse bestehen. Hinzu¬
zufügen ist, daß neuerdings in München-Gladbach, Regierungsbezirk Düssel¬
dorf, eine Polizeiverordnung vom 29. Mai 1903 erlassen ist, welche die
Verwendung der Gummiverschlüsse allen denjenigen verbietet, welche
Flaschenbier gewerbsmäßig feilhalten oder verkaufen wollen; die den Kon¬
sumenten gehörenden Flaschen sind ausgenommen. Ich meine, sind die
Verschlüsse völlig bleifrei und ist ihre Reinigung sichergestellt, so wird
gegen diese bequeme Art des Verschlusses nichts zu sagen sein.
„Die Bleifreiheit ist auch wichtig für die Biergläser und Bier¬
krüge. E. Falk fand, daß von sechs Bierglasdeckeln in Zwickau fünf
10 bis 22*6 Proz. Blei enthielten; ein Deckel hatte im Beschläge sogar über
52 Proz. Und von 91 untersuchten Zinnhähnen an Spirituosenfässern waren
81 ebenfalls zu beanstanden, da sie 30 bis 40 Proz., einer sogar über 66 Proz.
Blei enthielten.
„Das Reichsgesetz vom 25. Juni 1887 betr. den Bleigehalt der Trink -
gefäße muß also in Wirtschaften unbedingt erfüllt werden, und seine Er¬
füllung sollte kontrolliert werden.
„Nun möchte ich bezüglich der Einrichtung der Gasthäuser noch zwei
Fragen anregen: Erstens, sollte es nicht erstrebenswert sein, die in Bahn-
restaurant8, Eisenbahnwaggons und auch sonst hier und da übliche Sitte
nachzuahmen, besondere Räume für Damen und für Nichtraucher
einzurichten? Damit diejenigen, welche reine Luft dem Tabaksqualm vor-
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72 XXVUI. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
ziehen, solche auch haben können? Es dürfte dies auch sogar für die
Fremdenzimmer zu erwägen sein, die oft recht unangenehm nach Tabak
riechen. Auf die bereits bestehenden Damenrestaurants sei hierbei be¬
sonders verwiesen.
„Dann zweiteus: Sollte es nicht ebensfalls erstrebenswert sein, wenn
in größeren Hotels eigene Krankenzimmer wären? Es sind doch nicht
alles Vergnügungs-, Dienst- oder Geschäftsreisende; so mancher reist, um
einen Arzt zu konsultieren oder um einen Kurort aufzusuchen, oder er ist
oder wird krank, auch wenn die Krankheit nicht die Ursache seiner Reise
ist; wäre es da nicht sehr angebracht und nützlich, wenn er ein besonders
eingerichtetes, ruhiges Zimmer, mit einem Nebenzimmer für die Pflegerin,
bekommen könnte? Natürlich ist solches nicht von kleinsten Gasthäusern
zu verlangen; am nötigsten wäre es aber in Kurorten und auf der Heer¬
straße zu diesen. Es ist doch sicher nicht zu billigen, wenn z. 6. in einem
Hotel oder in einer Pension in einem Kurorte beute ein Tuberkulöser für
einige Zeit Wohnung nimmt, dann das Zimmer geräumt und von irgend
einem Gesunden wieder bezogen wird, ohne daß inzwischen die erforderliche
Unschädlichmachung erfolgt ist. Existierten aber gründlich desinflzierbare
Krankenzimmer, und wäre der Wirt angewiesen oder von selbst bereit, alle
Kranken in diesen unterzubringen und jedes von einem Kranken benutzte
Zimmer nach dem Verlassen amtlich desinfizieren zu lassen, sofern nicht
die völlige Ungefährlichkeit der Krankheit für andere ärztlich bescheinigt
wird, so wäre alles geschehen, um Übertragung zu verhüten.
„Natürlich müßte auch bezüglich der Wartung des Kranken, der
Reinigung seines Gesöhirrs u. s. w. während des Aufenthaltes im Hotel das
Zweckentsprechende geschehen. Und um alles dieses zu erreichen, kommen
große Hotels in exponierten Orten vielleicht noch einmal zur Anstellung
eines Hotelarztes im Sinne eines hygienischen Beraters, auch um sich
mit gewissen allernötigsten Bandagen, Rettungsmitteln und sonstigen
Hilfsmitteln zur Krankenpflege und zum Transport eines Kranken aus¬
zurüsten, sofern Unfallstationen nicht gerade in der Nähe sind.
„Wir kommen nunmehr zum Betriebe der Gast- und Schankwirt¬
schaften. Da ist meines Erachtens auf dreierlei in Bezug auf Hygiene
besonderer Wert zu legen, nämlich:
1. auf die allgemeine Ordnung und Sauberkeit,
2. die richtige Verpflegung,
3. eventuelle Bekämpfung ansteckender Krankheiten.
„Was die Ordnung und Sauberkeit anlangt, so bedarf es in
Gasthäusern natürlich eines bis ins Detail aufgestellten und in seiner Aus¬
führung kontrollierten Planes über periodische, seien es tägliche, seien es
wöchentliche u. s. w., Reinigungen, über die Rollenverteilung hierbei, die Auf¬
sicht u. s. w. Diese streng durchgeführte Reinlichkeit und Ord¬
nung ist eine der wichtigsten hygienischen Einrichtungen
eines jeden Gasthauses, vom größten herab bis zum kleinsten.
„Wie ich einem auf Anfrage an mich gerichteten Schreiben des Vor¬
sitzenden des Vorstandes des deutschen Gastwirtsverbandes Herrn Ringel
in Berlin entnehme, bemühen sich die Wirte vielfach, die Reinigung der
Schankräume, insbesondere des Fußbodens, unter Zuhilfenahme von „tech-
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 73
nischen Hilfsmitteln und staubniederhaltende Chemikalien
(Stauböl, Bronil) und ähnlichen ölhaltigen Substanzen tf vorzunehmen. Es
sind das dieselben beachtenswerten Bestrebungen, welche wir in den Schulen
gemacht sehen; und nach den hiernach gewonnenen Erfahrungen kann man
hoffen, daß eine etwa viermalige Bearbeitung des Fußbodens mit einem
staubbmdenden öle, z. B. dem „deutschen Fußbodenöle“, in der Tat eine
gewisse Staubniederhaltung und damit einen hygienischen Zweck erreichen
wird.
„Sehr eingehender Bestimmungen mit Kontrollierung der Ausführung
bedarf die fortlaufende Säuberung des Geschirrs, insbesondere der
Gläser und Tassen. In der Stadt Breslau gibt es eine Polizeiver¬
ordnung vom 4. Oktober 1892, betreffend die Reinigung undSpülung
der Trinkgefäße in fließendem Wasser; da ist bestimmt, daß die
Gefäße, abgesehen von häufiger nötig werdenden Reinigungen, täglich ab¬
gescheuert, gebürstet und nachgespült werden müssen, und zwar sind sie
entweder unterzutauchen in fließendes reines Wasser oder von innen
und außen völlig zu benetzen in einem vom Polizeipräsidenten zweckent¬
sprechend befundenen Apparat; das Wasser im Spülgefäß muß stets klar
sein. Solche Verordnungen existieren zahlreiche, das ist aber wahrlich das
Allermindeste, was man fordern muß. Gut sind die von unten nach oben
spritzenden Reinigungsvorrichtungen.
„Recht bedenklich ist oft die Reinigung des Eßgeschirrs.
Dr. Martius-Kulmbach sagt, es sei eine „bekannte, durch Untersuchungen
wiederholt erwiesene Tatsache, daß sich in Eßgeräten nach der bei uns
üblichen Reinigung noch virulente Tuberkelbazillen befinden“, und fordert
gesetzliche Bestimmungen über die Desinfektion des Geschirrs in Apparaten
in Hotels, Restaurants u. s. w. Es dürfte jedenfalls dahin zu wirken sein, daß
Cßgeschirre und Bestecke nach jedesmaligem Gebrauche ausgekocht
werden.
„Ein Kriterium für die Sauberkeit in einem Restaurant gibt der Zu¬
stand derEssig-, Öl-, Pfeffer- und Salzbehälter; oft sind sie tadel¬
los außen und innen, oft „wohnt das Grauen“ darin.
„Sodann ist das Waschen der Wäsche und die Reinlichkeit in der
Zubereitung der Speisen sorgfältig durchzuführen, welche sich auch auf
den ganzen Küchen betrieb einschließlich der Kleidung und Hände
des Personals, der Gefäße und Zutaten und der ganzen Gewohnheiten
zu erstrecken hat. Auf folgendes sei noch besonders hingewiesen: Einmal
muß darauf gehalten werden, daß alles zum rohen Genüsse bestimmte
Gemüse und Obst in einwandfreiem Wasser unbedingt und grundsätz¬
lich vor dem Genüsse gewaschen werde; in manchen Ländern, z. B. in
manchen Gegenden Italiens, ist es Sitte, zum Servieren des Obstes Schalen
mit reinem Wasser für das Waschen zu geben. Sodann sind, wo es irgend
geht, reine Löffel und Zangen statt der Hände zu gebrauchen,
so z. B. beim Salzen der Speisen, beim Bestreuen mit Zucker und Mehl.
Müssen die Hände unbedingt direkt an die Speisen kommen, so müssen sie
unmittelbar vorher mit warmem Wasser abgeseift, mit reinem Wasser
nachgespült und an reinem Tuche abgetrocknet sein; während der Zu¬
bereitung dürfen die Hände nichts Unreines anfassen, wozu auch der
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74 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
menschliche Körper einschließlich von Ohren, Mund und Nase, außen und
innen, gehört.
„Löflei in die Speisen zu führen, um zu schmecken, und sie dann un¬
gereinigt wieder in die Speisen zu senken, ist eine grobe Unsitte.
„Kurz und gut, Küchen- und Kellnerpersonal muß zur größten, biß
ins Detail durchgeführten Sauberkeit, insbesondere auch in bezug auf
Hände und Nägel, erzogen werden, auch dahin, daß auf jede Bedürfnisver¬
richtung ein Händeseifen mit derselben Regelmäßigkeit zu folgen hat wie
der Donner auf den Blitz.
„Speziell nochmals zu gedenken ist der notwendigen R ei n igung der
Korke sowie auch der Porzellanstöpsel, Gummiringe, Gummi¬
scheiben u. dgl. m. zum Verschluß der Flaschen. Dasselbe gilt bezüglich
der Reinigung von Flaschen und Fässern. Erst kürzlich wurde mir noch
ein Fall bekannt, wo eine Strafe eintreten mußte, weil die Flaschen im
selben Gefäß mit der Hauswäsche gereinigt wurden.
„Von besonderer Wichtigkeit ist es, daß die auf den Büfetts um¬
herstehenden Speisen stets bedeckt sind und nie unnötig angefaßt werden;
nimmt ein Gast sich selbst, so muß er behalten, was er berührt. Ich möchte
die Speicbeltröpfchen nicht sehen, die an den Speisen sind, welche tagsüber
vor den dahinterstehenden und sprechenden Verkäufern ausgebreitet sind.
„Die Speisen, welche auf den Bahnsteigen herumgetragen und feil¬
geboten werden, sollten auch mehr vor Verunreinigung geschützt werden,
auch vor dem Munde des darüber ausrufenden, hustenden, sich schneuzenden
Kellners. Es ist noch gar nicht lange her, da wollte ich mir auf einem
Bahnhofe ein sehr schön aussehendes Schinkenbrot erstehen. Im selben
Augenblicke aber blieb der Jünger des Gambrinus stehen und fuhr sich zu
Häupten meiner erspähten Stulle mit dem Finger in die weit offen stehende
Nase. — Sapienti sat! Ich war satt!
„Ein anderes Mal sah ich einen Bahnhofsjüngling über das vor ihm
getragene Tablet mit Speisen hinwegniesen — auch recht appetitlich!
„Warum deckt man die Speisen nicht dauernd zu! Gibt es doch fahr¬
bare Wagen mit dazu bestimmten Drahtnetzen für Bahnsteige, wie ich
jüngst sah. Andere reinliche Bahnhofswirte wickeln das Eßbare vor dem
Umhertragen oder Auslegen ein, es geht also doch.
„Für Gäste, Wirte und Personal kann es von erziehlicher Wirkung
sein, wenn Sinnsprüche an geeigneten Stellen angebracht werden. So fand
ich in einem Hotel Berlins über dem Waschtische in einem Zimmer diesen
Spruch angebracht:
Rein wie der Herzensgrund
Seien Hände und Mund!
„Auch sonst zeigt sich bei den Wirten vielfach ein eigenes Streben
nach Förderung der Reinlichkeit.
„So hat der Deutsche Gastwirtsverband vor einigen Jahren ein Preis¬
ausschreiben erlassen, welches auf die Herstellung einer brauchbaren Brot¬
schneidemaschine abzielte. Der Vorsitzende schreibt mir darüber:
„Diese Brotschneidemaschine sollte in möglichst vielen Exemplaren zur Be¬
nutzung der Gäste bereit stehen, um das unappetitliche und unter Umstän¬
den gesundheitsgefährliche Berühren des Brotes durch die Gäste zu ver-
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten.
75
hüten. Die Maschine sollte das Brot unter einem Glaszylinder bergen und
der Gast könnte durch eine Manipulation am Griff der Maschine nur stets
so viel Brot erhalten, als er gerade bedurfte, ohne den Laib Brot selbst in
die Hand nehmen zu können. Ebenso war eine Vorrichtung geplant,
welche dem Gast, auf einen entsprechenden Griff hin, nur die Zulieferung
eines kleinen Brötchens (wenn Weißbrot gewünscht wurde) ermöglichte,
den übrigen Vorrat der Brötchen indes unter Verschluß hielt. Nach Ent¬
nahme des Brötchens rückt ein anderes automatisch vor. Diese Maschine
ist tatsächlich konstruiert worden und hat den ausgesetzten Preis erhalten.
Leider zeigte es sich, daß der Gedanke
an der Kostspieligkeit der Beschaffung
solcher Maschinen und nicht zum wenig¬
sten auch an so manchen noch vor¬
handenen Mängeln der Konstruktion
scheiterte. Neuerdings ist ein ähn¬
licher Apparat in Erscheinung getreten
und erst in Nr. 71 des „Gasthaus“
vom 3. September d. J. unter Abbildung
beschrieben worden.“
„In der Beilage zum „Gasthaus“
Nr. 71 vom 3. September 1903 ist dieser
„Menageapparat“ abgebildet und vom
Prüfungsausschuß des Deutschen Gast¬
wirtsverbandes wie folgt begutachtet:
„Prüfungsausschuß des Deutschen
Gastwirtsverbandes. Menageappa¬
rat von Julius Brandes, Berlin, Bran-
denburgstr. 20.
„Der praktisch und sinnreich kon¬
struierte Apparat verhindert in erster
Linie das Betasten des Gebäckes. Wie
aus der Figur ersichtlich, befindet sich
im unteren Teile der Säule der Behälter
für die Brötchen, während im oberen
Teile ein Behälter für das Schwarzbrot an¬
gebracht ist. Durch das Herausziehen
eines Schiebers kommt ein Brötchen bzw.
eine Scheibe Schwarzbrot aus dem Behälter heraus. Das Backwerk kann nicht
mehr in den Apparat zurückgelegt werden. Die Nachfüllung erfolgt in der
Weise, daß man mit einem Griff die leeren Kästen herausnimmt und durch
gefüllte ersetzt. Ein weiterer Vorzug der Erfindung liegt darin, daß sich an
dem Apparate auch sämtliche anderen zur Menage erforderlichen Gegen¬
stände, wie Pfeffer und Salz, Essig und Öl, Mostrich und Zahnstocher, und zwar
in verschlossenen Gefäßen, befinden und hierdurch vor den Einwirkungen von
Staub und Tabaksqualm geschützt sind. Auch bedingt die Vereinigung der
angegebenen Zubehörteile eine wertvolle Raumersparnis auf den Tischen.
Nicht zu unterschätzen ist auch das gefällige Aussehen des Apparates. Die
Erfindung ist zweifellos mit großen Ersparnissen verknüpft; so kann von
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76 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
jetzt ab z. B. die oberste, angeblich trockene Scheibe des Schwarzbrotes
nicht mehr von den Gästen abgeschnitten und unverbraucht beiseite gelegt
werden.
„Aus den angeführten Gründen können wir den Menageapparat den
Kollegen auf das wärmste empfehlen, um so mehr, als die Apparate in be¬
liebiger Anzahl unentgeltlich in den Gastwirtschaften Aufstel¬
lung finden sollen. Die unentgeltliche Hergabe der Apparate wird
dadurch ermöglicht, daß die leeren Felder der Säulen für Reklamezwecke
in vornehmer Art ausgenutzt werden.“
„Sehr gut hat mir auch ein im Restaurant Stiehlen in Brüssel auf der
Speisekarte vermerktes, gegen das Füttern der Hunde aus dem Eß-
geschirr für Menschen, das bekanntlich so unappetitlich wie gefährlich
ist, gerichtetes Verbot gefallen: „II est expressement defendu de laiBser cir-
culer les chiens dans l’Etablissement ou de les nourrir dans le materiel de
la Maison.“
„Was dann die Verpflegung anlangt, so sollte zunächst allen Gast¬
wirten in die Konzession die Bedingung aufgenommen werden, auch
alkoholfreie Getränke und einfache Speisen feilzuhalten und an For¬
dernde zu angemessenen Preisen abzugeben, wie letzteres in Sachsen
durch die Armenordnung vom 22. Oktober 1840 (§ 136) vorgeschrieben
war, wie es in Schweden Gesetz (vom 29. Mai 1885) ist, und wie es z. B.
auf den preußischen Bahnhöfen und in den Restaurationswagen ebenfalls
angeordnet ist. Auch ist den Konzessionären zu verbieten, den Preis für
das Essen zu verteuern, sofern nicht alkoholische Getränke genommen wer¬
den. Bekanntlich findet sich in manchen Restaurationen eine Bestimmung:
bei Nichtabnahme von Getränken verteuert sich der Preis für das Essen um
so und so viel; und unter Getränken werden stillschweigend nur „alkoho¬
lische“ gemeint, soweit nicht direkt die Bestellung von „Wein“ oder „Bier“
vorgeschrieben ist. Neuerdings ist man hiergegen vorgegangen. Insbeson¬
dere haben die Eisenbahnverwaltungen für die Bahnrestaurants und Speise¬
wagen die Bestimmung erlassen, daß ein derartiger Druck zum Genießen
von Alkoholiken unzulässig sei.
„Für viele Gegenden wird es genügen, wenn Selterswasser, Limonade,
Kaffee zu haben sind; für andere wird größere Mannigfaltigkeit erwünscht
sein. Mag man zum Alkohol stehen, wie man wolle — ich selbst halte es für
ebenso undenkbar wie unerwünscht, ihn vollständig aus der Zahl der Ge¬
tränke auszumerzen — jedenfalls ist jeder Zwang und Drang zum Genießen
von Alkohol verwerflich, und es muß den im allgemeinen Interesse kon¬
zessionierten Wirtshäusern unbedingt auferlegt werden, auch für solche
Gäste Getränke feilzuhalten, welche keine Alkoholika wünschen. Auch im
Interesse der Radfahrer ist solches Gebot dringend erforderlich. Eventuell
sind die Reformgasthäuser zu fördern. Höchst praktisch ist es, daß in
Italien, Spanien, Marokko und anderen südlichen Ländern einfaches Wasser
auf der Straße wie in den Bahnhöfen verkauft und gekauft wird. In
unseren Bahnhöfen soll solches jetzt unentgeltlich zur Verfügung stehen.
Bei uns geniert man sich aber geradezu, etwas Alkoholfreies zu sich zu
nehmen, es erscheint „unmännlich“. Glücklicherweise nimmt hiergegen eine
gemäßigte Reaktion zu, und namhafte Gelehrte wenden sich gegen den Miß-
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 77
brauch des Alkohols; ich erinnere hierbei an den unlängst gehaltenen Vor¬
trag von C. Fraenkel über „Gesundheit und Alkohol“.
„Wir kommen hier vorwärts, wobei gerade die Heißsporne viel Nütz¬
liches geleistet haben. Überall entstehen „Reformgasthäuser“; die Zahl
der alkoholfreien Getränke wächst (Pomril, Limonaden, Fruchtsäfte), auch
Milchwirtschaften mit Verkauf von Milch in Gläsern mehren sich und ren¬
tieren; so besteht ein solcher Milchausscbank größeren (Jmfanges seit Jahren
bei der Schroederschen Meierei in Elbing, der drittgrößten Meierei Deutsch¬
lands, bei welcher die Eigentümlichkeit besteht, daß im Interesse der Rein¬
lichkeit und Gefahrlosigkeit vor den Maschinen die weiblichen Angestellten
in Männerkleidem umhergehen müssen.
„Zweifellos nimmt der Konsum der alkoholfreien Getränke stetig zu,
und die Wirtshäuser richten sich danach ein; es erschien mir doch jüngst
als ein Zeichen der Zeit, als ich in einem alten guten Weinrestaurant in
Düsseldorf auf der „Weinkarte“ eine besondere Rubrik für „Alkoholfreie
Weine“ einschließlich Sekt fand. Vivant sequentes! Und es gibt in der
Tat „Sequentes!“ Hat doch der 16. Zonentag der westfälischen Zone des
Deutschen Gastwirtverbandes in Altena unlängst beschlossen, es sollten die
Wirte auch alkoholfreie Getränke führen.
„Ich kann auf diese wichtigen Bestrebungen gegen den Mißbrauch
alkoholischer Getränke, die allein ein großes Kapitel der Gasthaus- und
Schankstättenhygiene bilden, natürlich nicht näher eingehen, will nur noch
erwähnen, daß neuerdings durch Verordnung vom 2. März 1903 auch in
Samoa deutscherseits gegen den Alkoholismus vorgegangen wird, indem die
Verabfolgung von alkoholartigen Getränken an Eingeborene ganz, ferner an
Trunkenbolde und Trunkene verboten ist, weiter die Schankstätten für ge¬
wisse Nacht- und an Sonntagen auch Tagesstunden geschlossen werden;
Gastwirten, die dreimal wegen Zuwiderhandelns bestraft sind, kann die Kon¬
zession entzogen werden. Übrigens bestanden hier bereits ähnliche Bestim¬
mungen aus früherer Zeit.
„Der „Polizeistunde“ muß hier übrigens ebenfalls als einer alkohol-
gegnerischen bzw. hygienischen Maßnahme gedacht werden; desgleichen
der englischen, sich allmählich weiter ausbreitenden Sitte, am Sonntag den
Ausschank für Einheimische einzustellen. In Norwegen darf Branntwein
und starker Wein glasweise überhaupt nicht an Gäste abgegeben werden,
auch nicht in Hotels; in Nordamerika herrschen ebenfalls strenge Bestim¬
mungen. Freilich gibt es überall Ausfluchtsmittel.
„Etwas eigentümlich berührt es, wenn man in Gastzimmern Plakate
findet, die zum Trinken anregen. So habe ich in Westpreußen Plakate fol¬
genden Inhalts gefunden:
Trost für Zecher.
Lebensdauer der Trinker und Nichttrinker. Die „British
Medical Association “ hatte vor längerer Zeit einen Ausschuß da¬
mit beauftragt, sorgfältige Ermittelungen darüber anzustellen,
in welchem Verhältnisse zur durchschnittlichen Lebensdauer die
gänzliche Enthaltung von geistigen Getränken und der mäßige
oder unmäßige Genuß derselben stehen. Dieser Ausschuß hat
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78 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
seine Untersuchung über 4234 Todesfälle ausgedehnt, und der
Bericht ist für die Prohibitionisten geradezu verblüffend. Man
teilte die Verstorbenen in fünf Klassen ein:
1. Solche, die gar nicht trinken (Wassersimpel);
2. An mäßigen Genuß gewöhnte Trinker;
3. Trinker, welche sich in Acht nehmen;
4. Trinker, welche sich keinerlei Zwang auferlegen;
5. Entschiedene Säufer.
Das Alter, welches im Durchschnitt in den verschiedenen
Klassen erreicht wurde, war folgendes:
Klasse 1 (Wassersimpel): 51*22; Klasse 2: 63*13;
Klasse 3: 59*67; Klasse 4: 57*59; Klasse 5: 53*03.
Es ergibt sich also die merkwürdige Tatsache, daß die
kürzeste Lebensdauer die der Garnichtstrinker
und die längste die der mäßigen Trinker ist,
welche letztere die der Wassersimpel um 11 Jahre übersteigt.
Selbst der versoffenste Trinker lebt im Durchschnitt ein Jahr
länger, als der Total-Abstinenzler! In einer anderen von dem
Ausschüsse vorgelegten Zusammenstellung sind alle Todesfälle
unter dem Alter von 30 Jahren ausgeschlossen, und das durch¬
schnittliche Lebensalter der fünf angegebenen Klassen ergibt
sich wie folgt:
Klasse 1 (Wassersimpel): 57*31; Klasse 2: 66*48;
Klasse 3: 61*52; Klasse 4: 58*87; Klasse 5: 53*62.
Es stellt sich also auch hier wieder die für die Prohibitionisten
unangenehme Tatsache heraus, daß der mäßige Genuß geistiger
Getränke eine weit längere Lebensdauer gewährleistet als gänz¬
liche Enthaltsamkeit.
Hoch jubelt laut, Ihr lust’gen Zecher!
Nicht winkt der Tod uns aus dem Becher,
Wie man bisher es uns gelehrt.
Nein, längeres Leben bringt das Trinken
Und früher Tod wird dem nur winken,
Der sich vom Becher ganz abkehrt!
„Es schmeckt das stark nach Pro domo und kann schädlich wirken.
„Gegen die Anbringung heiterer Trinksprüche soll deswegen nicht ge¬
eifert werden, wie denn überhaupt die Alkoholfeindscbaft nicht in „Wasser¬
sucht“ ausarten soll. Front gegen den Mißbrauch alkoholischer Getränke,
Ermöglichung des Wirtshausbesuches ohne Alkoholgenuß; aber denen,
die nach der Sitte der Väter einen oder auch mehrere „gute Tropfen“ sich
genehmigen und in froher Laune sich über die Widerwärtigkeiten des all¬
täglichen Lebens hinwegsetzen wollen, soll das ebenfalls nicht verkümmert
werden. Fern sei es, zu befürworten, daß die teilweise hoch entwickelte
uralte Weinkelterei und Bierbrauerei, die Apfelwein- und selbst Likörfabri¬
kation, die Darstellung von alkoholhaltigem Kwas, von Kehr, Kawakawa,
Ttschitsche, Sakke, Palmenwein, und wie diese mehr oder weniger kunst-
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 79
voll hergestellten Getränke alle heißen, von der Bildfläcbe verschwinden,
daß die herrlichen Weinberge am Rhein und an der Mosel, in der Champagne,
Spanien, Ungarn, Levante und Griechenland ausgerottet oder nur für den
Verkauf von Trauben und Traubensaft geduldet, daß die begeisterte Trink¬
liederdichtkunst aller Völker als minderwertig degradiert und die Menschheit
eich des Mittels dieser künstlichen Begeisterungsmittel völlig beraube, von
seiner gelegentlichen stärkenden und wohltuenden Wirkung ganz abgesehen.
Und ist denn niemand unter den Alkoholgegnern, der sich nicht fröhlicher
Zechstunden und begeisterten Genießens in den herrlichen Gartenwirtschaften
am Rhein, ja, in der Weinlaune entstandener und später durchgeführten guter
Entschlüsse und Ideen gern erinnerte? Der Alkoholgenuß schafft doch nicht
bloß Übles, unsere gemeinsame Gegnerschaft gilt doch nur dem Mi߬
brauch! „aQiözov phv vdcoQ , aber — {irjdhv ayav\ u
„In bezug auf das Essen ist dahin zu wirken, daß die überreich¬
liche, fett- und fleischreiche und dabei so unendlich einförmige Hotel¬
kost geändert werde. Hier könnten Vereinigungen, Beamten- und Offiziers¬
vereine u. s. w. viel Gutes tun und einen Druck ausüben, daß eine gute
Hausmannskost unter Bevorzugung von Gemüsen und Obst in richtiger Zu¬
bereitung gereicht werde, z. B. indem Wirte, die solchem Wunsche nach-
kommen, begünstigt werden. Auch gegen den Table d’höte-Zwang ist
vorzugehen. An den Gerichten der vegetarischen Küche sollte man doch
nicht gar so gleichgültig Vorbeigehen.
„Eine Kalamität bildet auch der zwar sehr gut schmeckende, aber auf
die Dauer ungesunde starke Kaffee, der am Morgen und nach dem
Essen und ebenso in den Wiener Caf£s gereicht wird. Es gibt nicht wenige
Personen, welche nach einer einzigen Tasse derartigen Kaffees Herzklopfen
und selbst Atemnot bekommen, während sie sonst weder überhaupt noch
nach Kaffeegenuß daran leiden. Ich bin nicht sicher, ob solches auf den
starken Kaffeezusatz, also auf das Koffein, oder nicht vielmehr auf irgend
unbekannte Surrogate zu schieben ist.
„Überhaupt verdienten die in Gast- und Wirtshäusern gebrauchten
Nahrungs- und Genußmittel einer gewissen Beaufsichtigung. Wie ist
es z. B. mit der Butter und der Margarine? Das Backwerk in manchen
Cafös schmeckt recht eigenartig, desgleichen das Butterbrot hier und da in
Wirtschaften. Hier sollte die Deklarationspflicht bestehen, damit deijenige,
welcher butterbereitete Speisen und Gebäcke haben will, ev. „ein Haus
weiter“ geht. Und wie ist es mit der Güte der Butter, Fette und
sonstigen Eßwaren und Zutaten?
„Gerichtliche Prozesse bringen manchmal wunderliche Dinge über die
Qualität der in Gasthäusern verwandten Eßwaren zutage. Manchmal
wurde der Billigkeit wegen gewohnheitsmäßig Fleisch von krankem oder
gefallenem Vieh, von krepiertem Geflügel u. dgl. m. verarbeitet; erst in
allerjüngster Zeit ging wieder ein Prozeß durch die Blätter, der ergab, wie
in Berlin von einer Speisewirtschaft jahrelang krepierte Gänse in der Markt¬
halle für je 1 Mk. aufgekauft und den Gästen schön knusprig braun gebraten
und mit viel Gewürz versetzt vorgesetzt worden waren. Daß das im
Restaurant Vorgesetzte Fleisch recht häufig einen unberechtigten „haut
goüt u hat, weiß jeder, der riecht und schmeckt; in einem Falle eines recht
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80 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
großen Bahnrestaurants wurde festgestellt, daß das Abkochwasser der sog.
Frankfurter Würstchen als Bouillon abgegeben wurde; Fischsalate, Hummer¬
mayonnaisen und alle scharfen Ragouts, Zrasys u. dgl. sind bekanntlich
sehr häufig die Begräbnisstätten für nicht mehr tadelloses Fleisch. Darüber,
was aus den ausgesogenen Krebs- und Hummerscheren und -schwänzen
wird, sind sich die Gelehrten auch nicht einig; zu vgl. Kapitel „Krebs-
suppe“. Von einem bekannten Speisekeller in Berlin wurde vor Jahren
einmal ruchbar, daß die so beliebten Schweinsohrenstückchen in der Erbsen¬
suppe in gewissem Sinne ein perpetuum mobile darstellen sollten, indem
sie, immer wieder benutzt, von dem Munde des einen Gastes sich in den
des andern bewegten; wie oft sie diesen circulus vitiosus durchmachen
konnten, ist nicht festgestellt; jedenfalls sollen sie immer wieder mit dem¬
selben Appetit ausgelutscht worden sein.
„Wiederholt sind mehrfache Vergiftungen vorgekommen durch das
Essen in Gasthäusern, so z. B. durch Austern. Ich selbst kenne zwei
derartige nicht veröffentlichte Ereignisse, eins aus Neapel und eins aus
Genua; in letzterem Falle war es eine Reihe von Personen, welche nach
dem Genuß von Austern in einem Restaurant mehr oder minder heftig
an Typhus erkrankten.
„Und wie ist es mit der Qualität der Weine und Branntweine,
mit den Branntweinschärfen und sonstigen nicht ungefährlichen Zu¬
sätzen, mit den „natürlichen“ und „unnatürlichen“ Mineralwässern? Es
wäre recht segensreich, wenn eine periodische Kontrolle über die Quali¬
tät der Speisenrohstoffe und der Getränke und auch über die Art der Zu¬
bereitung in den Gasthäusern und Schänken ausgeübt und nicht, soweit sie
überhaupt stattfindet, auf die Lieferanten beschränkt würde. Ein besonderes
Interesse hat der Verbleib der Bierreste und des überfließenden
Bierschaumes, die manchmal wieder verwertet werden, wie in Prozessen
manchmal gerichtlich festgestellt wurde.
„In dem „Hotel Rauch“ in Elbing besteht die Spezialität, die ich sonst
nirgends fand, vom Herbst an jedem Logiergast abends einen schönen Apfel
mit Teller und Obstmesser auf den Nachttisch zu stellen. Ich habe es immer
sehr angenehm empfunden, nach des Tages Arbeit und dem Rauch- und
Bierdunst des Abends vor dem Schlafengehen dies Stück reines Obst zu
genießen. Und dann: kleine Geschenke erhalten die Freundschaft!
„Im übrigen ist hier die spanische, italienische und französische Sitte
zu loben, nämlich daß eine halbe Flasche leichten Landweines zum
Kuvert gehört; der Wirt hat dann nicht ein nahe liegendes Interesse,
durch Pfeffern und Salzen der Speisen den Durst der Gäste anzuregen, un¬
bekümmert um die üblen Folgen auf deren Magen und Nieren.
„Andererseits will mir das in diesen Ländern übliche Trinken leicht
alkalischer Wässer, z. B. des Vichy, zum Tisch nicht recht geeignet er¬
scheinen, da es doch die zum Verdauungsprozeß nötige Salzsäure des Magens
abstumpft. Ebenso will es mir scheinen, als ob das reichliche Ausspülen
des Mundes sofort nach dem Essen ebenfalls nicht rationell sei, da es doch
recht viel Speichel und damit Verdauungssäfte, die sonst zur Verdauung
verschluckt werden würden, beseitigt.
„Niemals sollte natürliches Eis zum Essen verwandt werden, nur
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstatten. 81
künstliches; dabei sollten geeiste Getränke wenigstens nicht abwechselnd
mit warmen Speisen genossen werden. Den gelegentlichen Genuß eiskalter
Getränke in nicht zu großen Mengen halte ich für ebenso unschädlich wie
das Essen von Gefrorenem.
„Wo Eßwaren mitgegeben werden, sollte die Einwickelung in ge¬
brauchtes Papier, wie Zeitungspapier, alte Schreibhefte und andere Maku¬
latur, verboten werden. So ist es in Frankreich seit 1902 generell be¬
stimmt, so bestimmen es bei uns auch gewisse Polizei Verordnungen, so z. B.
in Wiesbaden vom 2. Dezember 1902.
„Ein wichtiger Begleiter der Mahlzeit ist der Zahnstocher. Man
findet ihn in verschiedenen Exemplaren. Untauglich, weil die Zähne
ruinierend, sind die großen, breiten und die scharfen, seien sie aus Holz,
seien sie Federposen. Sodann ist es als eine Unsitte empfunden, daß die
Zahnstocher offen herumstehen und von den Gästen der Reihe nach an¬
gefaßt und wohl gar auf dem Nagel probiert werden. Da sind die neuer¬
dings aufgekommenen Zahnstocher in plombierter Papierhülse zu loben,
z. B. mit der Aufschrift:
„Le Negri.
Antiseptic and sterilized Tooth-Pick
Paris
France.“
„Dies also wohl ein englisches Fabrikat. Ich fand sie bisher nur
vereinzelt. Sie haben den Vorteil, daß man einen noch nicht von anderer
Hand berührten Zahnstocher benutzen kann.
„Endlich noch eins: Neuerdings wird vor dem Gebrauche der in vielen
Zigarrenläden wie Restaurants gratis zur Verfügung stehenden Zigarren¬
spitzen aus steifem Papier gewarnt, welche in unreiner Hausindustrie in
Böhmen angefertigt werden sollen.
„Was nun drittens die eventuelle Bekämpfung ansteckender
Krankheiten anlangt, so kommt hier die Anzeigepflicht für Wirt und
Arzt und weiter die Desinfektion in Betracht, die sich nach allgemeinen
Grundsätzen richten, aber für Wirte besonders vorzuschreiben sind. Ist ein
akut ansteckend Kranker im Gasthause, so sollte er sofort in ein Kranken¬
haus geschafft werden; ist die Evakuierung nicht möglich, so ist das Gast¬
haus zu schließen, sofern nicht durchgreifende und sichere Ab sperrmaßregeln
bestimmt durchgeführt werden; besonders ist so auch bei Erkrankungen
der festen Bewohner des Gasthauses zu verfahren, zumal in kleinen
Häusern. Verläßt ein augenscheinlich Kranker das Gasthaus, dessen
Krankheit dem Wirt unbekaunt ist, so sollte dieser zur Sicherheit desinfi¬
zieren, jedenfalls aber mit doppelter Energie säubern lassen. Das gilt ins¬
besondere auch für das von anscheinend Kranken benutzte Trink- und Eß-
geschirr in Schankstätten. Ganz besonders ist so in bezug auf stark
Aushustende zu verfahren. Bei der ungemeinen Verbreitung der Lungen¬
tuberkulose ist es ganz natürlich, daß zahlreiche solcher Kranker sich in
Gast- und Schankstätten einfinden, und wie es einerseits nicht möglich ist,
den Wirten zuzumuten, Sanitätsbeamten gleich auf die Gesundheit ihrer
Gäste zu fahnden und Diagnosen zu stellen, so ist es andererseits nicht an¬
gängig, die an sich schon unglücklichen Tuberkulösen auf Schritt und Tritt
Vierteljahroschrift f&r Gesundheitspflege, 1904. 0
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82 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Dresden.
su verfolgen und an ihr Leiden zu erinnern. Zweierlei aber kann und muß
durchgeführt werden: wie es allgemein immer weiter jetzt eingerichtet wird*
die Wohnungen Tuberkulöser nach ihrem Tode oder Wegzuge zu des¬
infizieren, so ist auch mit den Fremdenzimmern in Gasthäusern ebenso zu
verfahren, d. h. es muß mit Inhalt desinfiziert werden, sowie ein lungen¬
tuberkulöser Gast es wieder verläßt. Das von ihm benutzte Eßgeschirr
ist jedenfalls auszubrühen. Zweitens: es ist auf stark hustende Per¬
sonen überhaupt zu achten, und es ist im Zweifel mit den von ihnen be¬
nutzten Zimmern und Geschirr ebenso zu verfahren, als wenn es sich um
notorisch Tuberkulöse handelte.
„Manche Staaten, wie z. B. Sachsen und Baden, haben die Anzeige¬
pflicht über Tuberkulose den Wirten usw. auferlegt.
„An manchen Orten gibt es besondere bezügliche Polizei Verord¬
nungen für Wirtschaften. So führe ich die Polizeiverordnuug vom
26. April 1891 für Lippspringe, Regierungsbezirk Minden, an, wo ja bekannt¬
lich alljährlich zahlreiche Lungenkranke einkehren. Da ist bestimmt:
„§ 1. Sämtliche von Kurgästen benutzten Räume nebst den Gegen¬
ständen darin sind jährlich nach Ablauf der Saison gründlich zu reinigen
und zu desinfizieren.
„Bei eventueller weiterer Benutzung ist das vor Beginn der neuen
Saison zu wiederholen.
„§ 2. In allen Gasthöfen usw. müssen in den Wohn- und Schlafräumen,
Flur, Korridor, Teppenabsatz, Abort mit Wasser gefüllte Spucknäpfe stehen,
welche in die Abortsgruben zu entleeren und mit heißem Wasser zu reinigen
sind.
„§ 3. Bei Todesfall an Tuberkulose sind die benutzten Räume nebst
Gegenständen sofort vorschriftsmäßig zu reinigen und zu desinfizieren; vor¬
her dürfen sie anderen Personen nicht überwiesen werden.
„Das gleiche gilt von denjenigen Fällen, in denen die Polizeibehörde
auf Antrag des behandelnden Arztes die Desinfektion wegen Tuberkulose
anordnet.
„Im übrigen ist jeder Todesfall an Tuberkulose der Ortspolizeibehörde
anzuzeigen, sind die erforderlichen Vorschriften bezüglich Einsargung und
Aufbewahrung der Leichen zu befolgen und werden für alles dieses die
Hotel- und Logierwirte besonders verantwortlich gemacht.
„Wie wir sehen, richten sich diese Bestimmungen lediglich gegen Tuber¬
kulose, treffen naturgemäß nur das Notwendigste, enthalten aber noch keine
allgemeine klare Anordnung, daß alle Wohnräume nach dem Wegzuge von
Tuberkulösen zu desinfizieren seien, wie das jetzt bereits in manchen Städten
durchgeführt ist. Mag man über die allgemeine Anzeigepflicht bei Lungen¬
tuberkulose denken, wie man will — ich persönlich bin dagegen —, so
möchte ich doch glauben, daß sie in Kurorten, die bekanntermaßen
Lungenkranke beherbergen, einzuführen sei, und zwar einmal für die Zu¬
gereisten, sodann für die Wirte selbst und andere Personen sowie für deren
Familien, sofern sie Kurgäste aufnehmen. Letztere Verpflichtung könnte
vielleicht ebenfalls sogar ganz verallgemeinert werden, d. h. also die An¬
zeigepflicht bezüglich der Inhaber von Wirtschaften, Pensionaten, sofern sie
an irgend einer ansteckenden Krankheit einschließlich der Tuberkulose
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 83
leiden, aufzuerlegen dem Arzte und dem Haushaltungsvorstande. Die er¬
forderliche Desinfektion, z. B. auch nach erfolgtem Wegzuge von Tuber¬
kulösen aus Gasthöfen usw., würde sich als selbstverständlich obligatorisch
dann anschließen.
„Manche Städte nehmen auf diese Umstände schon ganz gut Rücksicht.
Ganz besonders gut ist die Polizei Verordnung betreffend die Desinfektion bei
ansteckenden Krankheiten für Barmen vom 12. März 1903:
„Nachdem in den § 1 und 2 die An^eigepflicht zwecks Desinfektion, und
zwar nach Beendigung der Krankheit (Genesung, Wegtransport, Tod)
allgemein festgesetzt ist, bestimmt § 3: „Ärzte, welche in Ga6thöfen, Logier¬
häusern, Herbergen, Pensionaten, Chambres garnies, Schlafstellen und
anderen dem öffentlichen Verkehr dienenden Unterkunftsstätten an Lungen-,
Kehlkopf- oder Darmtuberkulose Erkrankte behandeln, sind verpflichtet, der
Polizeibehörde binnen 24 Stunden schriftlich Anzeige zu machen."
„§ 4. Die HaushaltungsVorstände sowie die Unternehmer der dem
öffentlichen Verkehr dienenden Unterkunftsstätten (§ 3) sind verpflichtet,
bei Krankheiten und Sterbefällen der in § 1 gedachten Art (Diphtherie,
Scharlach, Ruhr, Unterleibstyphus) ohne weiteres, bei Wochenbettfieber,
Lungenschwindsucht, Rose, Masern und ansteckender Lungenentzündung
auf besondere Anordnung der Polizeiverwaltung zu gestatten, daß die von
den Kranken benutzten Gegenstände und Räume sowie die in diesen Räumen
befindlichen Sachen gleichzeitig durch die von der Polizeiverwaltung ent¬
sandten Desinfektoren auf ihre Kosten desinfiziert werden.
„Die Unternehmer und Leiter der dem öffentlichen Verkehr dienenden
Unterkunftsanstalten sind außerdem verpflichtet, auf besondere Anordnung
der Polizeiverwaltung auch bei Kehlkopf- und Darm tuberkulöse diese Des¬
infektionen eintreten zu lassen" usw. Diese Bestimmungen erscheinen mir
ausgezeichnet; leider sind sie selten so.
„Man darf übrigens aus derartigen Bestimmungen aus dem Westen nicht
folgern, als ob dort alles so gut sei; manche Städte haben neue, aber bei weitem
nicht so gute Verordnungen; und ein Zeitbild eigener Art war es, als vor eini¬
gen Wochen in der Nachbarstadt Barmens, nämlich in Elberfeld, eine Polizei¬
verordnung in der Stadtverordnetenversammlung als überflüssig zu Falle
gebracht wurde, welche das Kneten des Schwarzbrotteiges mit den
Füßen verbieten wollte! Also alle, die nach Elberfeld kommen: ca vete panem!
„Endlich sind noch Vorsorgevorrichtungen für das Personal zu
fordern. Es sollte, wenigstens der weibliche Teil, zum Gesinde des Wirtes
gehören und im Hause wohnen, und zwar angemessen; alles, was diese
Mädchen hygienisch oder moralisch schädigt, ist nach Kräften zu hinter¬
treiben (Animieren, Hinsetzen zu den Gästen, auffallende Trachten usw.);
sie müssen die gehörige Zeit für sich und Nachtruhe (frei von 8, spätestens
10 Uhr abends bis 8 Uhr morgens, frühestens 6 Uhr) haben. Letzteres gilt
auch'von den Kellnern, insbesondere den jungen; Burschen unter 16 Jahren
sollten, wie in Zürich, überhaupt zur Bedienung nicht geduldet werden.
Allen ist gehörig Gelegenheit zum Sitzen, Waschen, Genießen alkoholfreier
Getränke und zum Essen sowie zum Spazierengehen hinlänglich zu gewähr¬
leisten.
„Das am 1. Januar 1904 in Geltung tretende Reichsgesetz vom
6 *
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84 XXVIIL Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
30. März 1903 betreffs Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben
bessert da schon manches. Es bestimmt unter anderem: „Im Betriebe von
Gast- und Schank wirtschaften dürfen Kinder unter zwölf Jahren überhaupt
nicht und Mädchen (unter 13 Jahren bzw. schulpflichtige) nicht
bei der Bedienung der Gäste beschäftigt werden. Kinder über zwölf
Jahre dürfen in der Zeit von abends acht Uhr bis morgens acht Uhr nicht
beschäftigt werden, auch nicht an Sonn- und Feiertagen.“
„Danach ist jedem Gehilfen und Lehrling über 16 Jahre für die
Woche mindestens siebenmal eine Ruhepause von acht Stunden, unter
16 Jahren von neun Stunden zu gewähren.
„Nur in Bade- und Kurorten kann diese Ruhezeit während der Saison
von drei Monaten etwas verringert werden.
„Außerdem sind noch zwei Stunden im Laufe des Tages und Zeit zum
Essen zu geben.
„Weiter muß auch alle zwei bis drei Wochen eine 24 ständige Ruhe¬
zeit gewährt werden, bzw. noch besondere sechs Nachtstunden.
„Gehilfen und Lehrlinge unter 16 Jahren dürfen in der Zeit von zehn
Uhr abends bis sechs Uhr morgens nicht beschäftigt werden; weibliche
Personen zwischen 16 und 18 Jahren nicht zur Bedienung von Gästen in
dieser Zeit.
„Die Durchführung dieser Anordnung ist durch angeordnete Revisionen
sichergestellt.
„Daß die Angestellten der Restaurants selbst den Wunsch nach Besse¬
rung haben, zeigt folgende Zeitungsnotiz:
„Der Verband der deutschen Köche hatte in einer Eingabe an die Reichs¬
regierung um reichsgesetzliche Regelung der Verhältnisse in den gastgewerb¬
lichen Küchen ersucht; es haben darauf auf Veranlassung der Reichsregierung
Erhebungen stattgefunden, die jedoch die Notwendigkeit zu einem reichs¬
gesetzlichen Einschreiten nicht erkennen ließen. Auf Grund des Ergebnisses
dieser Erhebungen hat das preußische Staatsministerium an sämtliche
Polizeibehörden einen Erlaß gerichtet, in welchem es heißt, daß die in der
Eingabe des Verbandes deutscher Köche behaupteten direkten Gesundheits¬
gefahren für das Küchenpersonal nicht bestehen. Immerhin seien aber
gewerbliche Küchen mit mehr oder weniger erheblichen Mängeln angetroffen
worden, und es habe sich unter anderem herausgestellt, daß die Lagen vieler
Küchen, wenn sie sich in niedrigen und dunkeln Kellerräumen befinden, un¬
geeignet, der Luftraum für die einzelnen Angestellten ungenügend, die
Lüftung unzureichend und die hierdurch beeinflußte Höhe der Temperatur
der Gesundheit oft nachteilig sei. Im Hinblick auf die große Verschieden¬
heit der örtlichen Verhältnisse werde von der Erlassung allgemeiner Vor¬
schriften abgesehen, es erscheine vielmehr ausreichend, im Einzelfalle gegen
Mängel bezüglich der Lage der Einrichtung der gewerblichen Küchen ein¬
zuschreiten bzw. solchen Mängeln vorzubeugen. Demgemäß sei den ge¬
werblichen Küchen von nun an eine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden
und etwa zutage tretenden Mißständen abzuhelfen.“
„Tatsächlich ist auch das Wohnen des Gasthauspersonals in hygie¬
nischer wie moralischer Beziehung vielfach anfechtbar: im Keller, auf dem
Dachboden, in irgend welchen Winkeln neben oder nahe den Klosetts, in der
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 85
Küche, nach Geschlechtern und oft auch von den Gästen ungenügend ge¬
trennt, so unsauber, daß eine Reinlichkeit des Personals ganz unmöglich ist.
„Die Fürsorge für das Wohnen des Gasthauspersonals ist eine
ebenfalls wichtige hygienische Einrichtung. Kommt es einmal zuWohnungs-
besuchskommissionen y 8o seien ihnen die Gasthäuser besonders empfohlen.
Desgleichen schon jetzt den Kreisärzten bei den Ortsbesichtigungen und
den WohnungBinspektoren.
„Endlich ist hier wiederholt die Notwendigkeit zu betonen, dem Personal
bequeme Gelegenheit zum Händewaschen zu geben.
„Bei dieser Gelegenheit ist auch des Anzuges der Kellner zu ge¬
denken. Es macht ja einen zweifellos recht vornehmen Eindruck, wenn
die Kellner eines feinen Restaurants in tadelloser Balltoilette, die einem
Hofmann anstehen kann, erscheinen und sich unter die Gäste mischen, so
daß man nicht vorher weiß, wer Gast, wer Kellner ist. Aber dieser Zustand
ist doch nicht die allgemeine Regel. Es wäre daher eine weitere hygienische
Einrichtung, wenn man dem Kellnerfrack, dem Träger so oft von „Urväter
Unrat“, dessen Vergangenheit „woher er kommt der Fahrt“, meist in einer
Art, die einem Lohengrin Ehre machen würde, unbekannt ist, ebenso wie
anderen unmöglichen Anzügen deB männlichen Bedienungspersonals in Gast¬
häusern den Garaus machte und ihn durch waschbare Leinenkittel ersetzte«
wie es die guten Restaurants, z. B. in Moskau, vereinzelt auch schon in
Deutschland (vgl. z. B. Hotel Terminus in Saarbrücken) bereits längere Zeit
haben. Man denke sich die Kellner eines Restaurants sämtlich plötzlich in
blendendem Weiß und nach eifrig benutzter Waschgelegenheit mit sage und
schreibe reinen Händen und Nägeln antreten, welch ein Zukunftsbild für
den Hygieniker!
„Gewissermaßen anhangsweise ist hier noch der Auswüchse zu ge¬
denken, welche, mit dem Gasthausgewerbe keineswegs organisch verbunden,
sich gelegentlich damit vereint finden; es betrifft diejenigen Gastwirte,
welche eine verkommene Abart ihrer Berufsgenossen bilden und ihr Lokal
nicht in den Dienst des berechtigten öffentlichen Bedürfnisses nach Unter¬
kunft, Ernährung und Erfrischung, sondern des Lasters stellen, indem sie
der Völlerei, zumal jugendlicher oder dem Trünke ergebener Personen, der
Hehlerei, der Prostitution und Kuppelei, dem gewerbsmäßigen Glücksspiel,
dem Unterschlupfe lichtscheuen Gesindels Vorschub leisten und darin ihren
unehrlichen Verdienst finden. Gegen solche Lokale, die auch hygienisch
interessieren, ist scharfe Polizeiaufsicht und Konzessionsentziehung am
Platze. Besonders wichtig sind hier wieder die Wirtschaften mit weiblicher
Bedienung, welche, im gewissen Gegensatz zu denen des Südens, im Norden
unseres Vaterlandes vorwiegend einen unsoliden Hintergrund haben, mangel¬
hafte Speisen und Getränke führen und für alt und besonders jung gefähr¬
lich sind in moralischer wie hygienischer Beziehung. Alle Bestrebungen,
diese Wirtschaften sowie insbesondere auch die darin beschäftigten Kellne¬
rinnen zu heben, sind unserer lebhaften sozialhygienischen Unterstützung
durchaus wert.
„Manche örtliche Polizeiverwaltungen sind hier selbständig vorgegangen.
So bestimmt eine Polizeiverordnung von Neviges im Regierungsbezirk
Düsseldorf vom 8. Mai 1903 für die Scbankwirtschaften mit Kellnerinnen u. a.
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86 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öflentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
recht gut: Alle versteckten Plätze sind zu vermeiden. — Der Betrieb ist nur
von 8 Uhr morgens bis 10 Uhr abends gestattet. — Ein Verzeichnis der an-
gestellten Kellnerinnen ist dem Polizeibureau einzuliefern. — Minderjährige
dürfen ohne schriftliche Erlaubnis des Vaters bzw. Vormundes nicht an¬
genommen werden. — Die Kellnerinnen dürfen nicht zum Essen oder Trinken
anlocken, nicht an den Gasttischen Platz nehmen usw. — müssen im Hause
des Wirtes wohnen, dürfen sich zwischen 10 Uhr abends und 8 Uhr morgens
nicht in den Wirtschaftsräumen aufhalten — für ihr Wohnen gelten die
Bestimmungen über Quartiergänger u. dgl.
„Möchte diese Verordnung recht viele Nachfolger Anden!
„Wirksam würde es aber wohl noch sein, wenn diese Sache nicht bloß
der Polizei überlassen, sondern auch von der privaten Wohlfahrts- und
Liebestätigkeit in die Hand genommen wird; die Frauenvereine haben
hier bereits manches Interesse gezeigt und können in der Tat weiter viel
nützen; insbesondere durch Eingreifen von Fall zu Fall werden die Frauen
in ihrer praktischen ruhigen Weise auch hier gute Erfolge nach und nach
erzielen. —
„Man sieht, die hygienischen Gesichtspunkte für das Gasthausgewerbe
sind zahlreich und wichtig, und hygienische Einrichtungen sind hier durchaus
angebracht. Zu sondern ist natürlich nach Art, Ort und Umfang des Be¬
triebes; doch habe ich von derartigen Gliederungen, die selbstverständlich
sind, abgesehen, da ich kein Gesetz zu entwerfen, sondern Gesichtspunkte*
und zwar für eine im Ganzen einheitlich wenig bearbeitete Einrichtung, zu
entwerfen mir vorgesetzt hatte.
„Manches von dem Vorgebrachten ist hier und da eingeführt, auf
manches wird gedrungen; Publikum und Polizei fordern Besserungen; die
Wirte sehen das nicht immer gern, aber einsichtige gehen selbständig vor
und ersinnen neue hygienische Einrichtungen. Vielleicht gründet einer ein¬
mal ein „Hygienegasthaus u oder ein „Restaurant zur Hygiene“ oder „Zur
Keimfreiheit“ und führt ein, was nur irgend des Hygienikers Wunsch ist. Wir
werden hoffen und auch glauben, daß dieser Wirt einen guten Zuspruch
und Verdienst haben wird. Aber bis dahin und zumal bis zur Aus¬
breitung solcher Gasthäuser wird noch mancher unsaubere Frack aus dem
Trödlerladen in die armselige Kellnergarderobe wandern, wird noch mancher
Gast unter bakterienreicher, zur Bedeckung vieler Vorgänger benutzter
Wolldecken im ventilationsarmen Hotelzimmer schlafen, wird noch mancher
sonstige Mißstand bleiben und noch manche Krankheit im Gasthause entstehen.
„Die besondere Ausbildung eines Kapitels „Gasthaus¬
hygiene“ liegt also im allseitigen Interesse.
„Zum Schluß möchte ich noch einige privathygienische Winke
für Gasthausbesucher geben, welche auf Reinlichkeit besonders halten
und sich vor Schädigungen bewahren wollen. Ambrosius Lehmann sagt
in seinem Reisehandbuche des 18. Jahrhunderts: „Der Reisende soll sich
einen Wachsstock in einer blechernen Büchse nebst einem fertigen Feuer¬
zeug und nebst seinem Gewehr des Abends vor sein Bett hinlegen, um es
bei der Hand zu haben, wenn man es braucht; auch Schlösser soll er mit¬
nehmen, denn die Schlafkammern haben meist weder Schloss noch Riegel.“
Das war allerdings zu einer Zeit, in der er sagen konnte: „Reisen ist eine
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 87
Sache, die man Zeit seines Lebens nur einmal macht.“ Hente ist das ganz
anders, aber folgendes erscheint immer noch angebracht zu empfehlen:
„Man meide, soweit es nur irgend geht, unsaubere und unordentliche
Gasthäuser; die Sparsamkeit darf nicht dazu führen, seine Gesundheit aufs
Spiel zu setzen.
„Um nicht unreinem Bettzeug ausgesetzt zu sein, nehme man einen
dünnen, leinenen 8chlafsack und einen Bezug oder Belag für das Kopfkissen
oder auch ein kleines Gummikissen mit sich.
„Da die Hausdiener mit derselben Kleiderbürste alle Kleider reinigen
bzw. eigentlich nur überbürsten, so führe man eine eigene Bürste mit sich.
„Auch in Hotels lasse man sich nicht „auf die Stiefel spucken u , sondern
nehme Schuhkreme und Putzzeug mit, zumal wenn man in Gegenden reist,
wo der „gebildete Hausknecht" noch nicht vorkommt.
„Um vor hämorrhoidenerzeugendem Zeitungspapier ganz sicher zu sein,
habe man stets Klosettpapier bei sich.
„Eine weitere gute Reisebegleiterin ist eine Zitrone (zum Reinigen
des Mundes, der Hände, Ansäuern des Wassers); nach einer schweren
Mahlzeit hilft nichts so sicher über Verdauungsbeschwerden hinweg wie
Zitronensaft. Eventuell geht auch etwas Zitronensäurepulver. Auch
kann man mit Apfelsinen- und Zitronenschalen oder -Stückchen
sich die Zähne gut abreiben.
„Wo das Wasser nicht ganz sicher ist, verwende man den Morgen¬
oder Mittagskaffee oder Rotwein, natürliches Mineralwasser, Tee, gekochtes
Wasser zum Mundreinigen. Gereinigte Watte kann als Zahnbürste dienen.
Um sich von unreinen Gläsern zu emanzipieren, führe man auch ein Glas
oder einen zusammenlegbaren Becher mit sich.
„Man wasche zum mindesten das nicht zu schälende Obst vor dem Ge¬
nüsse; doch Achtung vor dem Wasser! Event, trockenes Abreiben des Obstes.
„Man schone nicht allzu sehr die Wäsche, Tischtuch und Servietten
des Gasthauses dort, wo das regelmäßige Auswaschen der Wäsche nicht
sicher ist, damit ein wirkliches Durchwaschen erforderlich wird.
„Ebenso vernichte man da Zahnstocher und Strohhalme zum Aufsaugen
von Eiskaffee, Cocktail usw., um ihre Wiederbenutzung zu verhindern.
„Um sich tunlichst zu emanzipieren, führe man auch Papierservietten
mit sich.
„Auch ist der Gebrauch von Papierwäsche (Kragen, Manschetten,
Vorhemden, eventuell Taschentücher) auf Reisen sehr empfehlenswert, um
Mitschleppen schmutziger Wäsche und Waschen in unreinen Wässern und
bei unreinen Wäscherinnen zu vermeiden.
„Man speise tunlichst an kleinen Tischen, nicht an der großen Table
d’hote in der Nähe von ihrem Gesundheits- und Reinlichkeitszustande nach
unbekannten, nach vorn und den Seiten Speicheltröpfchen entsendenden
Personen.
„Man beteilige sich nicht an dem reichlichen Fleischgenuß und dem
unnötigen Trinken bei Tische, zumal alkoholischer oder alkalischer Getränke;
Bondern man sättige sich, eventuell k la carte, unter gehöriger Würdigung
der Gemüse und Früchte; besonders wer nach der Mahlzeit leistungs- oder
genussfähig bleiben will, sei mäßig im Essen und Trinken.
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88 XXVJII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Man führe Gläser und Tassen so zum Munde, wie es die Mehrheit
der Menschen nicht tut.
„Das Mitnehmen eigener Bestecks, das eigene Nachreinigen des Geschirrs
und der Bestecks vor dem Gebrauche ist in zweifelhaften Gasthöfen sehr zu
empfehlen, wenn es auch nicht gern gesehen wird. Zumal wo Hunde geduldet
werden oder man sonst irgend Mißtrauen in die volle Reinlichkeit hat, speise
man auf seinem Zimmer; man kann da die erforderlichen Nachreinigungen
ungeniert vornehmen.
„Muß man zu gemeinsamer Tafel gehen und da verschiedenen Leuten
die Hand schütteln, so ziehe man sich vorher Handschuhe, am besten rein
gewaschene, an und behalte sie auf, bis man sich gesetzt hat; man verun¬
reinigt sich da nicht die Hände unmittelbar vor dem Essen.
„Zweckmäßig führt man ein Päckchen feiner Holzzahnstocher mit sich.
‘ „Man esse und trinke in zweifelhaften Gastwirtschaften am besten über¬
haupt nichts oder, wenn es nicht zu umgehen ist, nur etwas, was nicht gut
verunreinigt werden kann. Am besten sind in der Schale gekochte Eier;
dann geht allenfalls das Innere einer unbeschädigten Semmel oder eines
solchen Brotes. Zu vermeiden sind da ganz besonders alle aus Resten her¬
gestellten und alle mit scharfen Saucen servierten Speisen, wie Ragouts,
Hachees, Fischsalate, Gulasch, Zrasy, Pasteten und wie alle die hochtönenden
Namen für oft ausrangierte Dinge lauten mögen; gefürchtet sind auch Krebs-
und Hummersuppen.
„Man nehme nicht die stundenlang im Lokal oder auf dem Büfett
herumstehenden oder herumgetragenen, allen Verunreinigungen durch
Sprechende, Rauchende, Hände, Fliegen, Staub ausgesetzten Brötchen, Kuchen,
Rettichschnitte, Koteletts u. dgl.
„Man bediene sich zum Rauchen nicht der frei dargebotenen, oft un¬
sauberer Herkunft entstammenden Papierzigarrenspitzen, sondern führe
eventuell eigene Spitzen mit sich.
„Am Büfett nehme man die gewählten Sachen selbst, aber fasse nichts
an, was man nicht behalten will; denn:
„Was du nicht willst, das dir geschieht,
das tu auch keinem andern nicht!“
Hierauf eröffnet der Vorsitzende die Diskussion.
Kreisarzt Dr. Steinberg (Hirschberg) will auf Grund seiner Er¬
fahrungen im Kreise Hirschberg mit seinem entwickelten Verkehr und seinen
überaus zahlreichen Sommerfrischen einige ergänzende Bemerkungen zu
dem Referat hinzufügen.
Aus Gasthäusern die an ansteckenden Krankheiten Leidenden heraus¬
zubringen, gelinge bei ihnen meist ohne Schwierigkeit, da sich der Gastwirt
in der Regel selbst die für ihn unangenehmen Folgen klar mache. Und mache
einmal ein Gastwirt Schwierigkeiten, so genüge es, ihn vor die Alternative
zu stellen, daß entweder der Kranke anderweitig untergebracht oder der
Gasthausbetrieb geschlossen werde. Hierzu sei allerdings das Vorhandensein
genügender Krankenhäuser nötig, wie dies in seinem Amtsbezirk in außer¬
ordentlich hohem Maße der Fall sei.
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Hygienische Einrichtungen der Gasthäuser und Schankstätten. 89
In betreff Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung könne vor unvoll¬
kommener Nachahmung städtischer Verhältnisse nicht dringend genug ge¬
warnt werden. Der Sommergast wünscht auch auf dem Lande dieselben Be¬
quemlichkeiten zu finden, die er daheim habe, und frage daher mit in erster Linie
nach Wasserleitung und Spülklosett. Die Wasserleitung verschaffe sich der Wirt
dadurch, daß er aus seinem Brunnen mittels Rohrleitung und Druckpumpe
das Wasser in einen kleinen Behälter unter Dach hebe und von dort aus
sein Haus versorge. Dieses Wasser sei selbstverständlich nur dann ein¬
wandfrei, wenn der Brunnen einwandfrei sei, nicht aber, wenn aus ihm die
Nachbaren ihr Wasser mit Kannen schöpfen, oder wenn er gar als Keller
zum Kühlhalten von Milch und Butter benutzt werde. Ebenso bedenklich
sei es, wenn der Wasservorrat nicht ausreiche, und das Spülwasser für die
Küche durch eine zweite Leitung unmittelbar dem Bach entnommen werde.
Die Größe der Gefahr bei einer so beschaffenen Wasserversorgung erhelle
ohne weiteres, wenn man sich die Art der Abwässerbeseitigung ansehe.
Aach auf dem Lande habe das Spülklosett seinen Einzug gehalten, und fraglos
setze es den Wirt instand, alles aufs schnellste zu beseitigen, was er
nicht im Hause behalten wolle. Nun das sei in einem großen Hotel sehr
viel und solle doch beseitigt werden; aber wohin? Mache man sich klar ein
dicht besiedeltes Gebirge mit wenig Flußläufen und noch weniger aufnahme¬
fähigem Boden. An Rieselfelder sei nicht zu denken, und die Abfuhr der
Fäkalien während der Fremdenzeit mache die größten Schwierigkeiten.
Da behelfe sich der Wirt viefach damit, sich eine große Grube herzustellen,
in die sämtliche Abwässer hin ein geleitet werden, und lasse die nach seiner
Ansicht „geklärten" Abwässer an der anderen Seite einfach überlaufen.
Selbstverständlich sei, daß hierdurch die Fäkalien mehr oder minder un¬
mittelbar in die Flüsse hineingeraten oder versickern, so daß man dann die
schönste Sickergrube habe. Das Gesagte gelte natürlich nicht von allen
ländlichen Hotels, man habe dort vorzügliche Hotels in nicht geringer Zahl,
und es liege ja auch im Interesse des Wirts, für die Gesundheit seiner Gäste
zu sorgen. Aber man dürfe doch nicht verkennen, daß, wenn ein Hotel gute
hygienische Einrichtungen habe, dann viele Konkurrenten es mit möglichst
geringen Unkosten nachzuahmen suchen, und nachgeahmt werde selbst¬
verständlich in erster Linie das Äußerliche, was dem Laien an diesen Ein¬
richtungen auffalle, ohne Rücksicht darauf, ob im Einzelfalle auch wirklich
das Endergebnis einwandfrei sei. Es müsse deshalb seitens der Hygieniker
mit Nachdruck gefordert werden, daß in Gasthäusern die Herkunft des
Trinkwassers und des Küchenspülwassers völlig einwandfrei sei, und daß die
Herstellung von Spülklosettanlagen nur dann gestattet werde, wenn die end¬
gültige Beseitigung der Abwässer den Grundsätzen der Gesundheitspflege
entspreche.
Stadtverordneter Dr. phil. Scheven (Dresden) vermißt in den Aus¬
führungen des Herrn Referenten die besondere Betonung des Wassers als
Trinkwasser. Wenn man es auch dem Wirt nicht verargen könne, daß
er nicht für das Trinkwasser, das er unentgeltlich liefern müsse, besondere
Propaganda mache, so sei es gerade Aufgabe von solchen Wirtschaften,
welche nicht auf dem Prinzip des Gewinnes aufgebaut seien, sondern welche
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90 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
naoh dem Prinzip der Gemeinnützigkeit bewirtschaftet würden, dafür zu
sorgen, daß gutes Trinkwasser, wie man es jetzt in den deutschen Städten
durch die Wasserleitungen überall finde, mehr zu Ehren komme. Der Ver¬
ein Volkswohl, dem er als Vorstandsmitglied angehöre, habe in seinen Volks-
heimen die sehr praktische Einrichtung getroffen, daß neben dem Bierhahn,
an dem der Gast sich sein Glas Bier abzapfen lasse, gleich ein Wasserhahn
angebracht sei, wo jeder Eintretende unentgeltlich und ohne zu bitten von
den danebenstehenden Gläsern Gebrauch machen könne, um sich ein Glas
frischen Quellwassers dort gleich einzuschänken. Diese Einrichtung habe
sich sehr bewährt, und auch von der Straße kommen häufig Kinder herein,
um sich ein Glas Trinkwasser geben zu lassen.
Schließlich wolle er nicht unterlassen, denjenigen Herren, die Interesse
an der Gasthausfrage und auch wohl an der Alkoholfrage haben, zu emp¬
fehlen, sich auch mit den Veröffentlichungen und den Bestrebungen des
Vereins „Gasthausreform a etwas bekannt zu machen, in dessen von Dr. Bode
redigiertem Organ man viel Anregung finden werde, wie ein Gasthaus hygie¬
nisch, sozial und wirtschaftlich mustergültig zu behandeln und zu bewirt¬
schaften sei.
Vorsitzender, Gflhoimorat Stübben:
„Es hat sich niemand mehr zum Worte gemeldet. Die Verhandlung
ist also geschlossen, und ich habe in aller Namen noch den herzlichen Dank
auszusprechen für den so überaus sorgfältigen, ausführlichen Vortrag, in
dem eine solche Menge von vortrefflichem Material zusammengestellt und
uns dargelegt worden ist. Ich möchte für meinen Teil — und ich glaube
auch in dem Sinne aller zu sprechen — die Hoffnung hinzufügen, daß
aus dem Vortrage und aus dieser Verhandlung namentlich eine erhebliche
Verbesserung gerade unserer Gasthöfe in Sommerfrischen und ähnlichen
Orten hervorgehen möchte, über die oft sehr viel zu klagen ist.
„Ich schließe damit die heutige Versammlung/
(Schluß der Sitzung 3 Uhr.)
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch.
91
Zweite Sitzung.
Donnerstag, den 17. September, vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender, Gflheimerat Stübben eröffnet die Sitzung und stellt
den dritten Gegenstand der Tagesosdnung zur Verhandlung:
Die gesundheitliche Überwachung des
Verkehrs mit Milch.
Es lauten die von dem Referenten Professor Dr. Dunbar (Ham¬
burg) anfgestellten
Leitsätze:
1. Die derzeitigen städtischen Milchversorgungsverhältnisse genügen nicht
den hygienischerseits zn stellenden Anforderungen.
2. Aus der Tatsache allein schon, daß im Deutschen Reiche jährlich etwa
150000 künstlich ernährte Säuglinge an dem Genüsse verdorbener Milch
sterben, geht hervor, daß die Sanierung der Milch Versorgungsverhältnisse
eine Aufgabe darstellt, die an Bedeutung keiner anderen Aufgabe der Städte¬
hygiene nachsteht.
3. Bei dem hohen Entwickelungsstande der milchwirtschaftlichen Technik liegt
die Möglichkeit vor, zur Versorgung der Städte mit einer allen gesund¬
heitlichen Anforderungen genügenden, insbesondere auch für die Kinder¬
ernährung geeigneten Milch zu demselben Preise, der zurzeit für die
Marktmilch bezahlt wird.
4. Daß diese Möglichkeit unbenutzt bleibt, liegt begründet in der auf Un¬
kenntnis beruhenden Gleichgültigkeit der städtischen Konsumenten und in
der Tatsache, daß die städtischen Behörden noch keinen genügenden Ein¬
fluß auf die Milchproduktions- und Transportverhältnisse besitzen.
5. Die übliche Überwachung des Milchverkehrs ist ungenügend. Die Unter¬
suchung von Milchproben, welche aus dem Verkehr entnommen werden,
hat zwar den Nutzen, daß durch sie einer erheblichen Herabsetzung des
Nährwertes der Milch und namentlich auch einer Anwendung von Konser¬
vierungsmitteln erfolgreich entgegengetreten werden kann. Für die Be¬
urteilung der Milch hat solche Untersuchung im übrigen aber nur den
Wert, den die Untersuchung einer eingelieferten Brunnenwasserprobe haben
könnte. Diese aber würde kein Hygieniker als ausreichende Grundlage
anerkennen für die Beurteilung etwaiger Gesundheitsschädlichkeit des
Brunnens, aus welchem die Probe stammte. Ebensowenig gibt uns die
chemische, bzw. bakteriologische Untersuchung der aus dem Verkehr ent¬
nommenen Milchprobe einen genügenden Aufschluß über etwaige, am Pro¬
duktionsorte der Milch vorliegende Infektionsgefahr.
6. Die Schwierigkeiten, welche einer einheitlichen Überwachung der ganzen
Produktions-, Transport- und Verkehrsverhältnisse der für den städtischen
Konsum bestimmten Milch entgegenstehen, sind auf reichsgesetzlichem Wege
zu beseitigen.
7. Diese Überwachung würde sich regeln lassen durch Einsetzen von Kom¬
missionen, in welche Mitglieder der Regierung, der Landwirtschaftskammern,
sowie auch Vertreter der Städte zu entsenden wären. Den Kommissionen
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92 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
müßte ein Landwirt, ein Tierarzt und ein Arzt angehören. Sie hätten den
zuständigen Aufsichtsbehörden bei Lizenzerteilungen für den Milohhandel
als beratende Instanz zur Seite zu stehen.
8. Bis zur Erledigung der unter 6 und 7 bezeichneten Aufgaben sollten die
städtischen Behörden es sich zur Pflicht machen, dafür zu sorgen, daß
wenigstens für sämtliche künstlich zu ernährenden Säuglinge eine gesund¬
heitlich einwandsfreie Milch zum heutigen Preise der Marktmilch zur Ver¬
fügung steht.
Referent: Professor Dr. Dnnbar:
„Unser Vorstand hat mich mit dem Referat über ein Thema betraut,
das bislang allzusehr zu denjenigen Aufgaben gerechnet wurde, die ihre
Erledigung in dem Schoße einzelner Behörden, insbesondere der Polizei¬
behörden zu Anden hätten. Ich möchte den Versuch machen, Ihnen zu be¬
weisen, daß die Fragen, welche mit der städtischen Milch Versorgung Zu¬
sammenhängen , das Interesse und die Mitarbeit der weitesten Kreise
erheischen, und Sie davon zu überzeugen, daß die Inangriffnahme der damit
zusammenhängenden Arbeiten eine weitere Verzögerung nicht erleiden darf,
wenn wir nicht zugeben wollen, daß Zustände weiter herrschen, die der
Humanität Hohn sprechen und durch die unsere öffentliche Gesundheits¬
pflege, die sich, wie wir gestern von Herrn Geheimrat Gaffky gehört haben,
nach verschiedenen Richtungen hin recht erfreulich gestaltet, auf einem sehr
wichtigen Gebiete in einem recht bedenklichen Lichte erscheinen muß. Zur
Begründung dieser meiner Meinung führe ich nur folgende Zahlen an: Im
Deutschen Reiche werden jährlich etwa zwei Millionen Kinder geboren. Die
Hälfte hiervon, vielleicht eine noch größere Zahl, wird nicht auf natürlichem
Wege ernährt, an die Mutterbrust gelegt, sondern mit Kuhmilch künstlich
großgezogen. Von diesen künstlich ernährten Säuglingen sterben jahraus
jahrein nicht weniger als 150000 infolge des Genusses verdorbener Milch.
Unser deutscher Nachwuchs wird also annähernd dezimiert infolge des un¬
zureichenden Standes unserer Milchversorgungsverhältnisse.
„Angesichts dieser Zahlen und Tatsachen bedarf das Vorgehen unseres
Vorstandes keiner näheren Begründung, der die Frage der Milchversorgung
innerhalb vier Jahren zum dritten Male auf seine Tagesordnung setzte.
„Die Sanierung unserer Milchversorgungsverhältnisse stellt ohne Zweifel
eine der wichtigsten, wenn nicht die bedeutungsvollste Aufgabe der modernen
Wohlfahrtsbestrebungen dar. Deshalb hat sie der Deutsche Verein für
öffentliche Gesundheitspflege mit großen Lettern auf seine Fahne geschrieben
und er wird sie mit der ihm eigentümlichen Zähigkeit vertreten und verfolgen
bis zum Ziele. Dieses Ziel konnte nach dem Gesamteindruck, den die
Rostocker und Trierer Verhandlungen hinterließen, als noch in weiter Ferne
liegend erscheinen. Gar zu sehr schien man sich davor zu scheuen, mangel¬
hafte Zustände zu tadeln und an Bestehendem zu rütteln. Herr Geheim¬
rat Löffler hat in seinem Rostocker Vortrage aber mit Recht hervorgehoben,
daß der Hygieniker sich von seiner Aufgabe, die der Gesundheit nachteiligen
Momente herauszufinden und aufzudecken und dadurch (Jie Möglichkeit zur
Abhilfe zu schaffen, nicht abhalten lassen darf durch die Erwägung, daß er
in der Verfolgung seines Zieles manchen verletzen und die vitalsten Inter¬
essen einzelner Erwerbszweige berühren könnte. Und wenn irgendwo, so
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93
Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch.
wird rückhaltlose Offenheit gerechtfertigt erscheinen, wo es sich am die Er¬
örterung einer Aufgabe von solcher Größe und Bedeutung handelt, wie sie
die Sanierung der städtischen Milchversorgungsverhältnisse darstellt
„In den drei mörderischen Feldzügen, welche dev Einigung des Deut¬
schen Reiches voraufgingen, wurden im ganzen annähernd 56000 deutsche
Jünglinge und Männer geopfert, wovon etwa 34 000 den erhaltenen Wunden,
die anderen verschiedenen Seuchen erlagen. Noch heute erfüllt uns der
Gedanke an diese herben Verluste mit dem Gefühle tiefsten Bedauerns, und
doch, was bedeuten ihre Zahlen gegenüber der Tatsache, daß von den
400000 Säuglingen, welche im Deutschen Reiche jährlich sterben, nicht
weniger als 150000 an mangelhafter oder verdorbener Nahrung zugrunde
gehen. Diese Ärmsten erleiden einen rühmlosen Tod. Sie verfallen dem
Moloch unhygienischer Zustände, der seine Opfer mit Vorliebe aus der ersten
Blüte der Menschheit fordert.
„Wennessich darum handelt, diese entsetzliche Opferstätte auszurotten,
muß man, meine ich, jede Rücksicht auf solche Sonderinteressen fallen
lassen, die dem Fortschritt und der nach großen Gesichtspunkten aufgefaßten
Humanität im Wege stehen könnten.
„Die Aufgabe, die hier zu lösen ist, erscheint mir nicht weniger be¬
deutungsvoll als die großen sozialgesetzlichen Maßnahmen, welche dem
Alter und der Invalidität Schutz und Schirm brachten und mit Recht als
eine der größten Taten unseres ersten Kaisers betrachtet werden. Sie ist
unzweifelhaft ebenso bedeutungsvoll wie der Kampf gegen die Tuberkulose,
dem sich jetzt eine große Zahl von humanitären Bestrebungen beseelter
Männer und Frauen Deutschlands unter der persönlichen Fürsorge unserer
erhabenen Kaiserin widmen.
„Von Generation zu Generation hat sich infolge der durchgreifenden
Umwälzungen, denen unser soziales Leben unterlegen hat, die Möglichkeit
zur natürlichen Ernährung der Säuglinge in zunehmendem Maße verringert,
hat die Konstitution des größeren Teiles unserer Frauen eine Veränderung
erfahren, welche die Mutter brüst zum Versiegen brachte. Für hinreichen¬
den Ersatz ist aber — wenigstens soweit die breitesten Schichten unserer
städtischen Bevölkerung in Betracht kommen —, nicht gesorgt worden. Wir
haben uns den veränderten Verhältnissen noch in keiner Weise angepaßt
und müssen dafür innerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches mit den
erwähnten enormen Opfern an Menschenleben büßen. Die Tuberkulose
fordert, wie wir gestern gehört haben, jährlich etwa 120000 Opfer. Für die
Bekämpfung derselben werden schon jetzt im Deutschen Reiche jährlich
mehr als 100 Millionen Mark aufgewendet und sind für die Zukunft, wie
sich aus den Worten der Herren Geheimräte Gaffky und Kirchner ent¬
nehmen ließ, erfreulicherweise noch größere Aufwendungen zu erwarten.
Zum Schutz unserer Säuglinge ist aber noch nichts getan, was im Hinblick
auf die Bedeutung dieser Aufgabe an dieser Stelle überhaupt genannt
werden dürfte.
„Der statistisch nachweisbare Schade, den unsere Nation erleidet durch
das große Säuglingssterben, das sich jahraus jahrein in unvermindertem
Maße wiederholt, ist es nicht allein, der uns mit Entsetzen erfüllt, sobald
wir uns diesen Verhältnissen zuwenden, sondern viel mehr noch ist es der
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94 XXV11I. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Gedanke, daß jährlich 150000 Mütter aus vermeidbaren Ursachen ihr Kind
verlieren, das in vielen Fällen der einzige Lichtblick war, der sich ihnen in
ihrem bedrängten Dasein bot.
„Wenngleich ich über die gesundheitliche Überwachung des gesamten
Milchverkehrs zu referieren habe und nicht allein über die Versorgung der
Säuglinge mit gesunder Milch, so hebe ich diese letztere doch so sehr her¬
vor und betone ich sie so stark, weil sie mir zurzeit noch als der Kern der
ganzen Milchversorgungsfrage erscheint. Sind erst die Grundlagen für eine
unseren heutigen Kenntnissen und dem derzeitigen Stande der milchwirt¬
schaftlichen Technik entsprechende Milchversorgung für die künstlich zu
ernährenden Säuglinge geschaffen, so werden damit alle übrigen mit der
städtischen Milchversorgungsfrage zusammenhängenden Fragen ihre Erledi¬
gung ohne weiteres gefunden haben. Die ganzen mit der städtischen
Milchversorgungsfrage zusammenhängenden Aufgaben spitzen sich auf die
Frage zu, wie könnten wir es ermöglichen, die künstlich zu ernährenden
Säuglinge, welche in unseren großen Städten die Hälfte, ja bis zu zwei
Drittel der gesamten Säuglingszahl ausmachen, mit einwandfreier Milch zu
versorgen.
„Ich meine, es müßten doch wohl Schwierigkeiten ganz besonderer Art
sein, welche uns an der Erfüllung derjenigen Pflichten hindern könnten, die
uns aus dem geschilderten großen Säuglingssterben erwachsen.
„Bei näherem Zusehen stellt sich aber heraus, daß diese Schwierigkeiten
in gar keinem Verhältnis stehen zu der Bedeutung der zu lösenden Auf¬
gabe. Mir will scheinen, als ob sich selten eine Gelegenheit geboten hätte,
so Großes, wie hier zu leisten ist, mit so geringer Mühe zu verwirklichen.
Die reife Frucht fällt uns fast in den Schoß von einem Baume, der, vor mehr
als drei Jahrzehnten gepflanzt, von den Städten fast unbemerkt heran¬
gewachsen ist und herrliche Blüten und Früchte getrieben hat.
„Auf milchwirtschaftlichem Gebiete sind im Laufe der letzten Jahr¬
zehnte eminente Fortschritte zu verzeichnen gewesen. Die erzielten Erfolge
sind aber der städtischen Milchversorgung bislang nur in recht dürftigem
Maße zugute gekommen.
„Man pflegt wohl darauf hinzuweisen, daß bis zu 90 Proz. derjenigen
Produzenten, welche unsere Städte zurzeit mit Milch versorgen, kleine
Bauern seien, welche nicht die Mittel besäßen, die für die Verbesserung
ihrer Anlagen und für die Beschaffung der notwendigen apparativen Ein¬
richtungen erforderlich sein würden. Sind wir denn aber gehalten, gerade
diejenigen Produkte zur Deckung des städtischen Milchbedarfs zu verwenden,
die sich unter den denkbar ungünstigsten Verhältnissen ergeben? Damit
würden wir geradezu erklären, daß uns das Schlechteste gut genug ist,
während das Beste kaum eben ausreichen kann, um die Lücke auszufüllen,
welche durch die starke Abnahme der natürlichen Ernährung unseres Nach¬
wuchses entstanden ist.
„Wir sind gewohnt, zu hören, daß die Milch für die ärmere städtische
Bevölkerung zu teuer werden würde, wenn man auch bei den für sie be¬
stimmten Produkten die Erfüllung aller hygienischen Forderungen verlangte.
Ich bin aber der Überzeugung, daß wir eine gesundheitlich unschädliche
Milch erhalten könnten, ohne überhaupt höhere Preise zu zahlen, als die-
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch.
jenigen sind, die heute die ärmere Bevölkerung für schlechte Milch zu
zahlen hat.
„Bis vor etwa 30 Jahren hätten Bedenken nach dieser Richtung wohl
noch gerechtfertigt erscheinen können, zurzeit fehlt ihnen aber jedweder
Schein der Berechtigung.
„Die Frage, ob eine gesundheitlich einwandfreie Milch ohne Erhöhung
des derzeitigen Preises der Marktmilch tatsächlich zu beschaffen sei, ist von
fundamentaler Bedeutung för unser Thema. Ich bitte deshalb mir gestatten
zu wollen, daß ich auf den Entwickelungsgang, den die milchwirtschaftlichen
Verhältnisse in Deutschland genommen haben, etwas näher eingehe.
„Vor reichlich 20 Jahren hatte ich als Eleve auf einem größeren Gute
Gelegenheit, einen gründlichen Einblick in die damals herrschende Molkerei¬
technik zu gewinnen. Unvergeßlich bleibt mir die unsaubere Magd, die
mit ihrem besudelten Stühlchen, einem Eimer von zweifelhafter Reinheit
und einer Laterne ausgerüstet, sich in aller Frühe in den dunkeln Stall be¬
gab, die in ihrem Kote lagernden, mit dicken Kotkrusten an den Schenkeln
und am Bauche behafteten Kühe aufstörte und ohne weitere Formalitäten
an ihr Melkgeschäft ging. Damals konnte solches noch als das typische
Bild der herrschenden Meiereiverhältnisse gelten. Heute ist es, wenn auch
noch nicht eine seltene Ausnahme, so doch, Gott sei Dank, auch nicht mehr
die Regel.
„Im Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts, also vor reichlich
30 Jahren, hat der Altmeister auf milch wirtschaftlichem Gebiete, Benno
Martiny, begonnen, auf die wachsende Bedeutung hinzuweisen, welche der
Milchwirtschaft für die deutsche Landwirtschaft zukäme. Seit der genannten
Zeit hat er mit nie ermüdendem Eifer gegen die eben skizzierten verwahr¬
losten Zustände mit Wort und Schrift gekämpft. Er gründete die Danziger
„Milchzeitung“, die er als Organ für seine Bestrebungen benutzte, und unter
seiner Beteiligung und Anregung entstand im Jahre 1874 zu Bremen der
„Deutsche milch wirtschaftliche Verein 4 , als dessen hervorragende Mit¬
glieder Herr ökonomierat Boysen und Herr Geheim rat Fleischmann,
sowie deren Mitarbeiter unentwegt auf die Verbesserung der milchwirtschaft-
licben Verhältnisse hinwirkten, und zwar in erster Linie nicht sowohl aus
ideellen und rein hygienischen Gesichtspunkten heraus, sondern im finan¬
ziellen Interesse der Landwirte selbst. Sie suchten den Landwirten be¬
greiflich zu machen, daß die Bestrebungen zur Hebung der Milchproduktion
nicht sowohl auf eine bloße Vermehrung der Kopfzahl des Milchviehbestandes
binauslaufen dürften, sondern daß es Mittel und Wege gäbe, die Erträgnisse
jeder einzelnen Kuh zu vergrößern und sogar auf das Mehrfache des bis
dahin geltenden Durchschnittes zu bringen durch sachgemäße Auswahl der
Milchkühe, Pflege und Ernährung derselben, reinliche Gestaltung des Melk¬
geschäftes und sachgemäße Behandlung der gewonnenen Milch.
„Sie wiesen nach, daß die praktisch noch überall zur Geltung kommende»
althergebrachte Auffassung, als ob der Kuhstall die beste Düngerlagerungs¬
stelle sei, fallen müsse. Wenn die Kühe unausgesetzt auf dem fuß-, ja
meterhoch unter ihnen sich ansammelnden Dünger stehen oder liegen und
wenn sie die Ausdünstungen dieser monatelang unter ihnen lagernden, sich
faulig zersetzenden Fäkalien atmen müssen, so wird dadurch nachgewiesener-
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96 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
maßen nicht nur ein nachteiliger Einfluß auf die Größe der Milcherträgnisse
ausgeübt, infolge herabgesetzter Freßlust der Kühe, sondern solche Auf¬
stallungsart bringt naturgemäß auch die Erkrankungsgefahr der Kühe mit
sich und damit einhergehende finanzielle Verluste. Auch erleidet selbst¬
verständlich die Reinlichkeit des ganzen Melkgeschäftes unter solchen Stall¬
verhältnissen große Einbuße, und diese wieder wirkt ungünstig auf die Halt¬
barkeit und damit auf die Verwertbarkeit der Milch zurück.
„In früheren Jahrzehnten galt es als ein gar nicht seltenes Vorkommnis,
daß sich in der Milch bestimmter Kuhhaltungen ZersetzungsVorgänge ver¬
schiedenster Art epidemisch einnisteten, die man als Milchkrankheiten be-
zeichnete. Die Milch solcher Stallungen nahm beim Stehen alsbald eine
blaue, rote oder andere Farbe an, bedingt durch die Wucherung gewisser
Bakterienarten in ihr. Diese, wie auch andere Fehler, welche die Milch
fast unverkäuflich machten, waren Jahre hindurch aus den betreffenden
Stallungen nicht auszurotten. Solche Vorkommnisse sind mit Geschick be¬
nutzt worden, um die Landwirte immer wieder darauf hinzuweisen, daß eine
Sanierung der Milchproduktions Verhältnisse und damit eine Steigerung der
finanziellen Erträgnisse ohne Sanierung der Kuhställe überhaupt undenkbar sei.
„Wenn auch die vorhin geschilderte Aufstallungsart noch nicht voll¬
ständig aus der Welt geschafft ist, so kann sie doch heute, wie ich schon
erwähnte, bei weitem nicht mehr als die Regel gelten. Man trifft selbst in
kleinen Bauernhöfen jetzt schon Stallkonstruktionen an, welche verhindern,
daß die Kühe sich mit ihrem Euter in ihre eigenen Fäkalien legen, und man
sieht tatsächlich selbst in kleineren Gehöften schon Bestände von Kühen,
die jederzeit reinlich aussehen und frei sind von den ekelerregenden, die
ganzen Hinterschenkel bedeckenden, trockenen Kuhfladen, deren Vorhanden¬
sein früher als selbstverständlich galt.
„Auch diejenigen Bestrebungen der milchwirtschaftlichen Vorkämpfer
sind nicht ohne Erfolg geblieben, welche auf eine rationelle Gestaltung der
Fütterungs- und Tränkvorrichtungen in den Kuhställen, auf eine gute Ven¬
tilation und auf sonstige hygienische Vervollkommnungen hinauszielten.
„Ich will Sie heute nicht ermüden durch ein näheres Eingehen auf
alle die hygienisch-tierärztlichen Anforderungen, welche an die Ausgestaltung
der Kuhstallungen gestellt werden sollten und könnten. In dem unter
Leitung des Herrn Physikus Sieveking für die hamburgische hygienische
Milchausstellung geschriebenen Werke „Die Milch und ihre Bedeutung für
Volkswirtschaft und Volksgesundheit 44 finden Sie nicht nur lesenswerte Aus¬
führungen über Stallhygiene, sowie auch über andere Fragen, die uns noch
zu beschäftigen haben werden, sondern auch reichliche Literaturnachweise.
„Die eminent wichtigen und angesichts der bestehenden starken Durch¬
seuchung unseres ganzen Milchviehbestandes sehr zeitgemäßen Bestrebungen
zur Sanierung der Milchkuhbestände, insbesondere zur Tilgung der Rinder¬
tuberkulose, entwickeln sich erfreulicherweise in zunehmendem Maße zu
einer rein wirtschaftlichen Frage. Nachdem der Landwirt das erst einge¬
sehen hat, können wir mit Bestimmtheit auf eine weitere energische Ver¬
folgung dieser Bestrebungen rechnen, durch welche eine der wichtigsten
hygienischen Forderungen, die regelmäßige, gründliche tierärztliche Unter¬
suchung des Milchviehbestandes, erfüllt werden dürfte.
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 97
„Zwei Errungenschaften der Neuzeit haben umwälzend auf die milch-
wirtschaftlichen Verhältnisse und zugleich vorbereitend für die Sanierung
der städtischen Milchversorgung gewirkt, die Einführung der Milchkühlung
und die Zentrifuge. Auch diese beiden Neuerungen verfolgten zunächst
lediglich wirtschaftliche Zwecke, sie haben sich aber ebenfalls sanitär von
unberechenbarem Nutzen erwiesen. Die Anregung zur Einführung des
Kühlverfahrens in den milchwirtschaftlichen Betrieb wird auf den schwe¬
dischen Gutsbesitzer Swartz zurückgeführt. Die Milchzentrifuge verdanken
wir dem deutschen Ingenieur Lefeldt.
„Die Bedeutung der Milchkühlung wird uns klar, wenn wir bedenken,
daß die Milch ein ausgezeichnetes Nährmedium für Bakterien aller Art ist,*
nicht allein für die sogenannten Saprophyten, sondern auch für wichtige
Krankheitserreger, wie z. B. Typhusbazillen. Schon in den Ausführungs¬
kanälen der Zitzen, wo hinein sie von außen dringen, treten Bakterien mit
der Milch in Berührung. Beim Melkgeschäft gelangen von den Händen
der Melkenden, von dem Kuheuter, von der Bauchhaut der Kühe, sowie
auch aus der oft staub- und bakterienreichen Luft des Stalles weitere Mikro¬
organismen in sie, und bei jeder folgenden Manipulation kommen in den
vorher nicht ausgekochten Geräten und Gefäßen weitere Mikroorganismen
in die Milch.
„Die Milch verläßt die Kuh mit einer Temperatur, welche gerade die
günstigsten Bedingungen für die Vermehrung aller dieser Bakterien bietet*
Kühlt man sie aber nach der Gewinnung möglichst annähernd auf den Ge¬
frierpunkt ab, so sistiert man dadurch das Wachstum der weitaus größten
Zahl dieser Bakterien und dadurch zugleich die Zersetzung, welche durch
die Bakterienentwickelung sonst bewirkt wird. Hierin liegt die große Be¬
deutung des Milchkühlverfahrens, das inzwischen durch Helm, Casse und
andere vervollkommnet ist und ohne Zweifel einer großen Zukunft ent*
gegensieht.
„Wenn es durch das Kühlverfahren gelingt, der Zersetzung der Milch
anch nur für einen Tag entgegen zuwirken, so liegt darin schon ein großer
sanitärer Gewinn. Den Städtern würde dadurch die Möglichkeit gegeben
werden, sich in ihren Bezügen etwas unabhängiger zu stellen und die Milch,
wenn nötig, aus größeren Entfernungen zu beziehen, als es ohne Kühlung
möglich wäre.
„Auch auf das Melkgeschäft könnte die allgemeine Einführung eines
rationellen Kühlverfahrens reformierend wirken. Zurzeit erfolgt das erste
Melken in den frühesten Morgenstunden, fast zur Nachtzeit, sehr häufig im
dunkeln Stall, also unter Verhältnissen, welche eine reinliche Durchführung
dieses wichtigen Geschäftes kaum zulassen. Dieser Brauch leitet sich zum
Teil daher ab, daß der Produzent bestrebt ist, die Milch so früh nach der
Stadt zu liefern, daß sie dort schon für das erste Frühstück zur Verfügung
steht, zum Teil freilich aber auch daher, daß es für nötig erachtet wird, das
Melkgeschäft zu erledigen, ehe die mit Verunreinigungen mancher Art ein¬
hergehende erste Fütterung der Kühe erfolgt.
„Der Hygieniker könnte sich prinzipiell damit einverstanden erklären,
daß die Abendmilch, sofern sie einer rationellen Kühlung unterworfen wurde,
erst am folgenden Morgen zum Konsumenten gelangt. Zurzeit schon er-
Vierteljehreechrift für Gesundheitspflege, 1904. 7
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98 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
hält der Konsument in der Regel nicht die reine Morgenmilch, sondern ein
Gemisch der inzwischen aufgerahmten und entrahmten Abendmilch mit der
Morgenmilch.
„Die Forderung, daß das Melkgeschäft im hellen Stalle, womöglich bei
Tageslicht, erfolgt, auf die der Hygieniker den größten Wert legen muß,
wurde hierdurch für viele Fälle leichter erfüllbar werden. Wo das nicht
der Fall ist, da wird der Hygieniker auf ausreichende künstliche Beleuch¬
tung des Kuhstalles dringen müssen.
„Die Einführung des Kühl Verfahrens erfolgte nicht aus hygienischen,
sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Dasselbe sollte günstige Bedingungen
für den Aufrahmungsprozeß schaffen. Durch die Einführung der Zentrifuge
ist aber die Notwendigkeit fortgefallen, die Milch zwecks Abscheidung des
Fettes längere Zeit stehen zu lassen. Durch sie vermag man die Entrahmung
schon sofort nach der Gewinnung in jedem gewünschten Maße, ohne nennens¬
werten Zeitverlust, zu vollziehen. Dieser Vorteil kommt in sanitärer Be¬
ziehung direkt mehr den Nebenprodukten, dem Rahm, der Magermilch, der
Buttermilch und der Käsebereitung, zugute, nicht aber der städtischen
Versorgung mit Vollmilch. Indirekt hat aber die Zentrifuge auch nach
dieser Richtung hin in eminenter Weise vorbereitend gewirkt. Ihre Ein¬
führung war zu kostspielig, als daß jeder kleine Milchproduzent die Zentri¬
fuge für sich allein hätte zur Anwendung bringen können. Martiny und
seine Mitarbeiter haben die Milchproduzenten deshalb auf die Gemeinsam¬
keit ihrer Interessen hingewiesen und auf ihren Zusammenschluß zu Ge¬
nossenschaften hingewirkt, und zwar mit dem Erfolge, daß zurzeit schon
mehrere tausend Molkereigenossenschaften in Deutschland existieren.
„Der ganze wirtschaftliche Segen, den die Gründung von Zentral¬
molkereien in sich barg, konnte erst in vollem Maße in Erscheinung treten,
nachdem noch weitere ergänzende Schritte getan und gewisse Schwierig¬
keiten überwunden waren, auf die ich jetzt eingehen möchte.
„In den Molkereien pflegt man die Milch mittels Zentrifuge sofort za
entrahmen, den Rahm zur weiteren Verarbeitung zurückzubehalten, die
Magermilch aber dem Produzenten zur eigenen Verwendung zurückzugeben.
Enthielt nun die angelieferte Milch auch nur eines einzigen Gehöftes Krank¬
heitserreger, wie z. B. diejenigen der Maul- und Klauenseuche, Tuberkulose
oder des Typhus, so wurden diese der ganzen Tageslieferung der betreffen¬
den Molkerei sofort mitgeteilt und in der Magermilch über sämtliche Gehöfte
der genossenschaftlichen Produzenten verbreitet. Auf Grund von mancher¬
lei bedauernswerten Vorkommnissen solcher Art hat man sich entschließen
müssen, die Milch einer Art Desinfektionsprozeß zu unterwerfen. Man erwärmt
sie bis zu Temperaturen, welche die sichere Abtötung sämtlicher in Frage
kommender Krankheitserreger gewährleisten, ohne den Geschmack der Milch
nachteilig zu verändern, in der Regel auf etwa 60° bis 85° Celsius. Auch
diese Sicherheitsmaßregel hat sich unerwarteterweise von unabsehbarem
wirtschaftlichem Nutzen erwiesen. Es hat sich herausgestellt, daß der
pasteurisierte Rahm nicht allein sich ebensogut verbuttern läßt wie der
nicht erhitzte, sondern daß er sogar eine Butter von weit besserer Qualität
und Haltbarkeit liefert. In Dänemark, welches Deutschland in milchwirt¬
schaftlichen Dingen überflügelt hat, ist deshalb die Herstellung der Butter
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 99
aus pasteurisiertem Rahm schon allgemein durchgeführt worden. Wo man
die Butter aus saurem Rahm herzustellen wünscht, vermag man bei dem
zurzeit hoch entwickelten Stande der Milchbakteriologie, zu deren Auf-
nahme die Arbeiten von Pasteur, Duclaux und Hüppe den Anstoß ge¬
geben haben, die Ansäuerung mittels Reinkulturen geeigneter Säurebakterien
zu bewerkstelligen. Gewisse aromatische Substanzen lassen sich durch Aroma
erzeugende Bakterien darstellen. Man ist deshalb nicht mehr gezwungen,
als Säurewecker Milch zu verwenden, welche sich spontan zersetzt hatte.
„Diese Vorgänge haben sich also in der Milchwirtschaft ähnlich ent¬
wickelt wie im Bäckerei betrieb, wo man auch nicht mehr allgemein den mit
Bakterien aller Art behafteten Sauerteig anwendet, sondern die fast reine
Preßhefe, und wie im Brauereibetriebe, wo man zurzeit bekanntlich fast
überall mit Reinkulturen der Gärungserreger arbeitet.
„Es hat sich herausgestellt, daß man die Vernichtung der in der Milch
enthaltenen Bakterien am leichtesten erreicht, sowie auch die eben besprochene
bakteriologische Technik am besten zu beherrschen vermag, wenn man das
Melkgeschäft so reinlich wie möglich durchführt und die trotz aller Rein¬
lichkeitsmaßnahmen in die Milch gelangten Schmutzbestandteile durch
geeignete maschinelle Vorrichtungen, Kiesfilter, oder besser noch Ent¬
schmutzungszentrifugen, so bald wie möglich aus ihr wieder entfernt, und
wenn man schließlich durch geeignete Konstruktion und reinliche Haltung
sämtlicher Milchgefaße und Geräte eine erneute Verunreinigung der Milch
ausschließt.
„Die eben beschriebene Entwickelung der Dinge ist hygienisch insofern
▼on größter Bedeutung, als die Temperaturen, welche angewandt werden
müssen, wenn man die spontane Zersetzung der Milch, soweit notwendig,
sistieren und die Erreger der Maul- und Klauenseuche, der Rindertuber¬
kulose und anderer Krankheiten abtöten will, auch genügen, um alle die¬
jenigen Infektionserreger zu vernichten, welche für den Konsumenten der
Trinkmilch von Bedeutung sind. Die Technik gestattet uns, wie gesagt,
dieses Ziel zu erreichen, ohne daß darunter der Geschmack der Milch im
geringsten leidet.
„Neuerdings erweckt ein Verfahren, das von Gaulin in Paris ersonnene
sogenannte Homogenisieren der Milch, berechtigtes Aufsehen, indem durch
dasselbe die Möglichkeit gegeben zu sein scheint, die Milchkügelchen so
weit zu verkleinern und zu zerstäuben, daß eine spätere Aufrahmung und
damit auch eine auf Fälschung hinauszielende Entrahmung der Milch aus¬
geschlossen wird.
„Das Verfahren erweist sich in erster Linie von Bedeutung für die
Herstellung von Milchkonserven, die nach der Homogenisierung nicht mehr
verbuttern, was sich ohne dies Verfahren schwer vermeiden ließ. Insbesondere
wird, wie ich voraussetze, der Homogenisierungsprozeß auch Bedeutung für
die Säuglingsernährung gewinnen.
„Wir sehen also, daß die fortschreitende Entwickelung, welche die
milchwirtschaftliche Technik im Interesse der Produzenten genommen hat,
ohne weiteres die Befriedigung sämtlicher seitens der Hygieniker an die
Milchproduktion gestellten Anforderungen mit sich bringt. Namentlich aber
zeigt sich, daß die unter Berücksichtigung der hygienischen Forderungen
7*
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100 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
gewonnene Milch sich nicht teurer stellt als die Milch, bei deren Gewinnung
man die eben beschriebenen Fortschritte gänzlich außer acht läßt. Die
Mitglieder mustergültiger Genossenschaftsmolkereien erhalten für ihre Pro¬
dukte nicht einmal den Preis, den der Produzent erhält, welcher eine
schlechte Milch nach der Stadt liefert.
„Die Erfolge der eben geschilderten Fortschritte sind der städtischen
Milchversorgung in kaum nennenswerter Weise zugute gekommen. Die
milchtechnischen Fortschritte haben sich in erster Linie dort entwickelt,
wo sich für die Milch städtische Abnehmer nicht fanden. Die hohe Ent¬
wickelung der milchwirtschaftlichen Technik ist zurückzuführen auf das
Verlangen der Landwirte, auch dort einen angemessenen Nutzen aus der
Milch zu ziehen, wo deren Verkauf als Trinkmilch ausgeschlossen erschien.
Die getroffenen Maßnahmen haben sich also aus rein wirtschaftlichen
Gesichtspunkten heraus entwickelt ohne irgend welche Rücksichtnahme auf
etwaige sanitäre Forderungen. Sie müssen sich bezahlt gemacht haben.
Sonst wäre die erstaunliche Entwickelung, welche die Molkereigenossen¬
schaften genommen haben, völlig unerklärlich. Es wäre also vollständig
unberechtigt, zu behaupten, daß diejenigen Milchproduzenten, welche ihre
Produkte nach der Stadt liefern, finanziell nicht in der Lage wären, das¬
selbe zu leisten. Sie haben bislang aus dem Grunde ja gerade nichts
geleistet, weil sie, ohne daß sie der Entwickelung der milchwirtschaftlichen
Technik folgten, ihre Produkte jederzeit zu hohen Preisen an die Städter
verkaufen konnten, die sie so, wie sie waren, kritiklos hinnahmen. Erst
neuerdings beginnen auch die nach den Städten liefernden Landwirte sich
zusammenzuschließen und Zentralmolkereien zu gründen, und zwar keines¬
wegs, um den sanitären Anforderungen zu genügen, sondern um sich den
enormen täglichen Schwankungen, die sich im städtischen Milchverbrauch
zeigen, ohne große Verluste anzupassen, ihre Restbestände in geeigneter
Weise verwerten zu können. Somit beginnen denn die Fortschritte der
milch wirtschaftlichen Technik allmählich auch den Städten zugute zu
kommen. Jedoch kann man hier erst von den allerersten Anfängen
sprechen.
„Ich schließe meine Ausführungen über die Milchproduk-
tionsverhältnisse, wie sie tatsächlich liegen, und wie sie aus
sanitären Gründen zu fordern wären, mit der Erklärung, daß
jede Stadt mit voller Berechtigung fordern dürfte, daß nach ihr
ausschließlich solche Milch geliefert wird, die unter völliger
Berücksichtigung sämtlicher Fortschritte produziert wurde,
welche die landwirtschaftliche, die milchwirtschaftliche und die
tierärztliche Technik aufzuweisen hat.
„Die größeren Städte vermögen ihren Bedarf an Milch seit geraumer
Zeit schon nicht mehr aus der näheren Umgebung zu decken, sondern sie
holen sie von weit her, aus Entfernungen von 100 km und mehr.
„Durch gütiges Entgegenkommen des Herrn Regierungsrat Grunow
in Altona und des Herrn Dr. Beukemann in Hamburg bin ich in der
Lage, Ihnen die vorzüglichen einschlägigen Übersichten vorzuführen, welche
die genannten beiden Herren in mühevollster Arbeit auf Grund von nur
durchaus authentischen Auskünften zusammengestellt haben. Aus der großen
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 101
Granowachen Tabelle ersehen Sie, daß die Milchzufuhrstraßen von Berlin
and Dresden einerseits und von Berlin und Hannover andererseits sich
kreuzen, daß Berlin Milch ans Gegenden bezieht, die jenseits Stettin liegen.
Des weiteren zeigt dieses Kartenmaterial, daß den St&dten im Laufe des
Jahres eine ganz ungeheure Menge von Milch durch Eisenbahnen zugetragen
wird.
„Ich komme auf die Schwierigkeiten, welche durch diese Tatsache in
bezug auf die Regelung der Milchkontrolle erwachsen, später zurück.
„Nach den Eisenbahnstationen wird die Milch zurzeit vielfach in
Kannen gebracht, die man in der Regel nicht hoch über die Räder stellt,
sondern zwischen dieselben hängt, um sie nicht so hoch heben zu müssen.
Dabei werden die Kannen naturgemäß von den Rädern her mit Schmutz
beworfen. Wer je als Radfahrer ohne Schutzstreifen an einem nassen Tage
gefahren ist, der kann sich ein ungefähres Bild davon machen, was so ein
Rad innerhalb kurzer Zeit an Schmutz aufzuwerfen vermag. Die Milch¬
transportwagen , die ich gesehen habe, waren durchweg ohne Schatz¬
streifen, und die Kannen waren nicht immer so dicht verschlossen, daß der
gegen und auf sie geworfene Schmutz nicht auch in die Milch hätte ge¬
langen können.
„Nach den Darlegungen von Hans Braun, „Beiträge zur Milch¬
frage mit besonderer Berücksichtigung der Erlanger Marktmilch tt , Berlin
1898, wurden die Milchkannen in manchen Gegenden vor kurzem noch
gelegentlich mit einem Strohwisch zugestopft oder aber mit Lappen zu¬
gebunden, die von Schürzen und anderen Wäscheartikeln stammten. Wo
die Zufuhr der Milch nach den Städten durch die Eisenbahnen geschieht,
da erfolgt die Verladung noch häufig oder gar vorwiegend auf offenen
Waggons, auf denen die, wie schon erwähnt, nicht immer dichten Milch¬
kannen der prallen Sonne, dem Staub oder dom Regen, je nach der
Witterung, während des oft vielstündigen Transportes schutzlos prois-
gegeben sind.
„In den Vereinigten Staaten von Nordamerika werden Austern in
Spezialwagen verschickt, die mit schlechten Wärmeleitern und mit Eis¬
packung versehen sind, welch letztere auf dem tagelangen Transport regel¬
mäßig ergänzt wird. Auch werden Südfrüchte in Amerika schon unter
diesen Vorsichtsmaßregeln verschickt Sollte die Einführung solcher Vor¬
kehrungen für den Transport unseres wichtigsten Nahrungsmittels da wohl
noch für undurchführbar gehalten werden können?
„Die zunehmende Ausdehnung des Milchversorgungsgebietes
unserer Städte läßt eine Verbesserung der Transportvorkeh¬
rungen als durchaus notwendig erscheinen.
„Man sollte meinen, daß die per Wagen, Schiff oder Eisenbahn nach
der Stadt zusammengefahrene Miloh an den Eingangspforten der sanitären
Kontrolle seitens der städtischen Aufsichtsorgane ohne weiteres zugänglich
sein müßte. Das ist aber nicht immer der Fall. Nach gerichtlichen Ent¬
scheidungen befindet sich dann die Milch noch nicht im Verkehr. Der
Händler braucht sich die Untersuchung der Milch in manchen Städten, wie
z. B. noch in Hamburg, nicht gefallen zu lassen, ehe er sie in seinen Laden
gebracht und ausdrücklich für den Verkehr bestimmt hat.
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102 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Dresden.
„Da die städtischen Behörden außerhalb ihres Gebietes, auf dem Lande,
nicht ohne weiteres das Recht der Kontrolle haben, somit die vorhin ge¬
schilderte Art von Transportverhältnissen nicht zu überwachen vermögen,
auch selbst nicht immer an den Eingangspforten mit ihrer Kontrolle ein-
setzen können, so sind sie unter Umständen noch durchaus auf die Kon¬
trolle des Zwischenhandels angewiesen.
„Vergleicht man an Hand der vorhin erwähnten Beukemannschen
Diagramme die Menge der in den Städten täglich konsumierten Milch mit
der Zahl der Milchhändler, so findet man — wenigstens in Hamburg ist
das der Fall — daß ein Zwischenhändler pro Tag durchschnittlich weniger
als 200 Liter Milch zum Verkauf bringt. Nach den mir gewordenen In¬
formationen soll es gar nicht wenige Milchhändler geben, die nur etwa
100 Liter Milch pro Tag verkaufen. Durch einen reell durchgeführten
Handel mit täglich 100 Litern Milch, oder sagen wir 200 Litern Milch pro
Tag, lassen sich nun aber schlechterdings keine Einnahmen erzielen, welche
gestatteten, Räumlichkeiten zu mieten und in gutem Zustande zu erhalten,
wie sie hygienischerseits für den Milchhandel zu fordern sind. Der Händler
soll doch auch seine Familie ernähren. Der kleine Gewinn, den der reelle
Handel mit 100 bis 200 Litern Milch täglich abwirft, kann aber kaum hierzu
genügen. Darüber hinaus können die nicht geringen Spesen, welche ord¬
nungsmäßig au8ge8tattete Lager-, Spül- und Verkaufsräume erfordern, nicht
auch noch aus solchem Gewinn bestritten werden.
„Ich will nicht so weit gehen, wie diejenigen, welche den Milchzwischen-
handel gewissermaßen zu einem unehrlichen Gewerbe stempeln wollten und
meinten, daß der Kleinhandel durchweg in den Händen von Leuten läge,
die keine Bedenken trügen, sich auf betrügerische Weise zu ernähren. Das
aber darf behauptet werden, daß unter den Zwischenhändlern sich viele
Leute finden, welche die Sachkenntnis, die ihr verantwortungsvoller Beruf
verlangt, nicht besitzen. Wenn bei irgend einem Beruf, so erscheint
mir gerade bei dem Milchhändler ein Befähigungsausweis not¬
wendig.
„In der völligen Verständnislosigkeit für die Forderungen, welche
hygienischerseits an den Milchhandel zu stellen sind, findet ein großer Teil
der mangelhaften Zustände seine Erklärung, die wir heutzutage noch in
manchen städtischen Milchhandlungen antreffen. Da der Verkauf einer so
geringen Milchmenge, wie sie durchschnittlich auf den einzelnen Milch¬
händler entfällt, wie erwähnt, einen genügenden Gewinn nicht abwirft und
abwerfen kann, so sucht der Milchhändler allerlei Nebenbeschäftigungen,
welche er in den Räumen der Milchhandlung betreibt. Da die Gesamtein¬
nahme zur Anmietung zweckmäßiger Räume auch dann in der Regel noch
nicht ausreicht, so findet man den Milchvorrat gelegentlich in den Wohn-,
ja in den Schlafräumen der Familie, wo Hunde und Kinder zwischen den
Kannen herumlaufen. Unter solchen äußerlichen Verhältnissen läßt sich,
selbst wenn der Milchhändler von den reellsten Absichten beseelt ist, eine
Behandlung der Milch, wie sie zu fordern ist, schlechterdings nicht durch¬
führen. Nun ist es aber ja leider eine nicht zu verleugnende Tatsache, mit
der wir auf Grund aller gemachten Beobachtungen zu rechnen haben, daß sich
unter den Zwischenhändlern auch Leute finden, die ihr Gewerbe nicht auf
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 108
reeller Basis betreiben, und da stehen wir denn vor der Frage, ob die¬
jenigen Organe, welche berufen sind, den Milchhandel zu kontrollieren, eine
wirksame Beaufsichtigung des Milchverkehrs unter den geschilderten Ver¬
hältnissen überhaupt durchzuführen in der Lage sind. Ich behaupte: nein.
Ich meine, es ist selbst für die eifrigsten und bestgeschulten Polizeiorgane
ein Ding der Unmöglichkeit, den verzettelten Milchverkehr, wie er in den
meisten Städten noch besteht, wirksam zu kontrollieren.
„Wenn wir von Milchkontrolle hören, so denken wir unwillkürlich an
den Schutzmann, der den Milchhändler auf der Straße anhält und einen
Areometer in seine Milchkannen steckt. Diese Manipulation schließt ja,
wie ich nicht erst zu betonen brauche, nicht alles in sich ein, was die Milch-
nntersuchungstechnik bietet. Leider beschränkt sich aber die Milchkon¬
trolle vielerorten tatsächlich fast noch ganz auf die eben bezeichnete
Tätigkeit des Schutzmannes. Ich halte eine solche Art der Kontrolle —
die natürlich mit geringen Kosten die Beschaffung einer reichlichen Unter¬
suchungsstatistik ermöglicht — nicht allein für ganz nutzlos, sondern sogar
für gefährlich. Denn der Milchhändler braucht gar nicht besonders sach¬
verständig zu sein, um sich trotz kräftiger Fälschung den areometrischen
Anforderungen anzupassen. Und wenn man gelegentlich sieht, wie die
Händler, nachdem der Schutzmann fort ist, mit aller Gemütsruhe den Inhalt
verschiedener Kannen zusammenschütten, so muß der Nutzen einer der¬
artigen Untersuchungsweise völlig illusorisch erscheinen. Wer sollte wohl
kontrollieren, ob der Händler das als Vollmilch zu verkaufende Produkt
nicht zum Teil aus dem mit Magermilch bezeichneten Gefäß entnimmt,
oder die sogenannte Vollmilch aus dem mit Halbmilch bezeichneten Gefäß
schöpft, wo solche noch zugelassen wird?
„Ich will nicht so weit gehen, wie es gelegentlich geschieht, und sagen,
daß eine im Stadium des Zwischenhandels durchgeführte Kontrolle über¬
haupt gar keinen Nutzen haben könnte. In solchen Städten, die ein
Nahrungsmitteluntersuchungslaboratorium eingerichtet haben und eine ge¬
nügende Anzahl von Nahrungsmittelchemikern beschäftigen, läßt sich ohne
Zweifel erreichen, daß die zum Verkauf gebrachte Milch durchweg von
äußerlich normaler Beschaffenheit ist, einen Fettgehalt aufweist, der nicht zu
sehr unter demjenigen der normalen Milch liegt, und daß die Milch nicht mit
Konservierungsmitteln oder anderen gesundheitsschädlichen Substanzen ver¬
setzt ist.
„Einen ganz besonderen Wert lege ich auf den Ausschluß der Konser¬
vierungsmittel. Der Versuchung, solche zu benutzen, ist der Händler im
höchsten Grade ausgesetzt, nicht allein durch die Anpreisungen der Präparate,
die an ihn herantreten, sondern namentlich auch dadurch, daß er die Milch
häufig in halb zersetztem Zustande erhält und seine liebe Not hat, sie an
den Mann zu bringen, ehe sie geronnen ist.
„Systematisch durchgeführte Untersuchungen des Zustandes, in welchem
die Milch sich befindet in dem Momente, wo sie an den Konsumenten ab¬
gegeben wird, haben ergeben, daß die Marktmilch in der Regel ein bis
zwei Millionen entwickelungsfähige Keime pro Kubikzentimeter aufweist
und daß man gar nicht selten [weit höhere Zahlen findet, 10 Millionen,
20, ja 30 Millionen Keime in 20 Tropfen Milch.
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104 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
n lm Hinblick auf die von Flügge und Lübbert festgestellte Tat¬
sache, daß die Milch nicht allein dann schädlich wirkt, wenn sie Infektions¬
erreger enthält, sondern daß sie auch durch die Tätigkeit solcher Mikro¬
organismen, die sich in jeder Marktmilch finden, in ein für Kinder giftiges
Produkt verwandelt werden kann, muß die Forderung unerläßlich erscheinen,
daß die Milch bei der Ablieferung an den Konsumenten nicht allein un¬
gefälscht, sondern auch frisch und unzersetzt sei.
„Das erhöhte Säuglingssterben, welches sich überall in der wärmeren
Jahreszeit bei den künstlich ernährten Säuglingen der ärmeren Klasse, und
zwar fast ausschließlich nur bei diesen einstellt, ist ohne Zweifel als eine
Folge des Genusses zersetzter Milch anzusehen. Alle Maßregeln, welche
auf eine Einschränkung der sich hieraus ergebenden ungeheuren Verluste
an Menschenleben hinzielen, müssen einsetzen mit der Verhinderung des
Verkaufs halb oder nahezu ganz zersetzter Milch. Vorschriften nach dieser
Richtung, d. h. Bestimmungen in bezug auf das Alter, welches die Milch
bei Ablieferung an den Konsumenten haben darf, habe ich auffallenderweise
in keiner Milchverordnung finden können. In der neuen Stettiner Polizei¬
verordnung, betr. den Verkehr mit Milch, welche mir dieser Tage zu Händen
kam, findet sich allerdings die ^Bestimmung, daß die Milch bei der Abliefe¬
rung die Alkohol- und die Kochprobe bestehen müsse, d. b. bei Zusatz von
Alkohol bzw. beim Aufkochen nicht gerinnen dürfe. In der Berliner Polizei¬
verordnung, betr. den Verkehr mit Kuhmilch und Sahne, findet sich die Be¬
stimmung, daß Milch, die älter als zwölf Stunden ist, nicht zur Herstellung
von sterilisierter Milch benutzt werden dürfe. Das sind die einzigen ein¬
schlägigen Bestimmungen, die ich aufzufinden vermochte, und doch scheint
mir gerade in der Forderung, daß die Milch frisch sein soll, einer der aller¬
wichtigsten Punkte der gesundheitlichen Überwachung des Milchverkehrs
zu liegen.
„Freilich bietet die Kontrolle nach dieser Richtung noch gewisse
Schwierigkeiten. Bei der Bestimmung des Keimgehalts steht das Resultat
frühestens nach zwei Tagen fest. Mit derartigen Schwierigkeiten haben
wir aber auch bei anderweitigen Kontrollmaßregeln, z. B. bei der Kontrolle
von Sandfiltern, zu rechnen, bei welcher die bakteriologische Kontrolle allein
uns einen sicheren Aufschluß über das Funktionieren der einzelnen Filter
gibt. Man kann natürlich die Milch bis zur Feststellung des Resultats nicht
außer Verkehr setzen. Findet man aber, wenn auch um zwei Tage ver¬
spätet, daß die aus bestimmten Handlungen stammende Milch sich stets
durch einen sehr hohen Keimgehalt auszeichnet, so ist man auf Grund
solcher Befunde in der Lage, Nachforschungen einzuleiten und die in sol¬
chen Fällen sicher vorhandenen Übelstände für die Zukunft abzustellen
Ich halte deshalb die Kontrolle der Keimzahl der Milch für sehr
wichtig und empfehlenswert.
„Nach meinen Erfahrungen gelingt es bei Beobachtung sämtlicher zu
fordernden Reinlichkeitsmaßregeln und bei sofortiger Kühlung der Milch
nach ihrer Gewinnung, die letztere selbst bei mehrstündigem Transport mit
einem Keimgehalt an den Konsumenten abzuliefern, der unter etwa 20000
pro Kubikzentimeter liegt und sich demnach von dem Keimgehalt der in
der Regel angetroffenen Marktmilch himmelweit unterscheidet.
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Miloh. 105
„Plaut hat eine Methodik ausgearbeitet, nach welcher die Milch auf
eine bestimmte höhere Temperatur erwärmt und nach Ablauf einer gewissen
kurzen Zeit auf Grund des inzwischen in beschleunigter Weise erreichten
Zersetzungsgrades Rückschlüsse gezogen werden sollen in bezug auf das
Alter, welches die Milch bei der Ablieferung hatte. Auf Grund von Nach¬
prüfungen, die ich mehrere Jahre durchgeführt habe, kann ich diese Me¬
thode nicht für rationell halten.
„Meines Erachtens würde es sich empfehlen, die Forderung aufzu¬
stellen, daß die Milch nach Ablieferung an den Konsumenten sich bei
Zimmertemperatur, etwa 23°C, 12 Stunden halten soll, ohne sich in grob-
sinnlich wahrnehmbarer Weise zu zersetzen.
„Angesichts der Tatsache, daß ja hygienischerseits allgemein darauf
gedrungen wird, daß die Milch sofort nach der Ablieferung aufgekocht wer¬
den sollte, könnte das Verlangen unnötig erscheinen, daß die Milch sich
12 Stunden nach Ablieferung halten soll. Ich halte die Forderung für
gerechtfertigt, daß jede Marktmilch nach Ablieferung abgekocht, bzw. pasteu¬
risiert werden sollte, sofern nicht volle Garantie dafür geboten werden kann,
daß diese Maßregeln schon in zuverlässiger Weise vorher getroffen wurden.
Man darf aber nicht vergessen, daß die Milch nachgewiesenermaßen erheb¬
licher bakterieller Zersetzung unterliegen kann, ohne daß diese grobsinnlich
wahrnehmbar in Erscheinung tritt, und einer so veränderten Milch kann
man durch Aufkochen ihre ursprüngliche normale Beschaffenheit nicht wieder¬
geben. Eine Milch, welche sich ohne künstliche Konservierungsmittel bei
23° C 12 Stunden lang hält, ohne sich in grobsinnlich nachweisbarer Weise
zu zersetzen, wird aber im Moment der Ablieferung, also zu der Zeit, wo
ihre Abkochung vorgenommen werden kann, nach allen Erfahrungen noch
keine nennenswerten Mengen von giftigen Zersetzungsprodukten enthalten.
Auch bei einer solchen Prüfungsweise kann die Milch bis zur Erledigung
der Untersuchung nicht außer Verkehr gesetzt werden. Der Erfolg dieser
Kontrolle muß, wie es ja überhaupt auf dem Gebiete der Nahrungsmittel¬
kontrolle sehr häufig ist, in der erzieherischen Wirkung gesucht werden.
„Die hygienischerseits an den Milchverkehr zu stellenden
Anforderungen bedürfen nach dem Gesagten dringend ergän¬
zender Bestimmungen in bezug auf das Alter, bzw. den Zer-
setzungsgrad, weiche die Milch bis zur Ablieferung an den Kon¬
sumenten nicht überschreiten darf.
„Mögen wir aber die Untersuchung der im Verkehr befindlichen Milch
anch noch so sehr verschärfen oder ausdehnen, zum Ziel werden wir damit
allein, wie gesagt, doch nie kommen können. Welcher Hygieniker würde
heute wohl noch auf Grund der Untersuchung einer ihm eingelieferten
Wasserprobe erklären, daß der Brunnen, aus welchem die Probe stammte,
hygienisch einwandfrei sei? Ohne eingehende Kenntnis der Brunnenanlage
und ihrer Umgebung kann niemand ein Urteil über die Schädlichkeit oder
Unschädlichkeit des daraus geschöpften Wassers fällen. Ebensowenig ver¬
mag man aber auf Grund einer ausgeführten Untersuchung darüber zu ent¬
scheiden, ob eine Milchprobe schädlich oder unschädlich sei. Die Hygieniker
haben sich fast ohne Ausnahme auf den Standpunkt gestellt, daß jede Milch¬
probe von vornherein als infektionsverdächtig anzusehen und daß deshalb
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106 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
die Abkochung der Milch zwecks Unschädlichmachung derselben erforderlich
sei. Die Milch enthält aber in dem Eiweiß eine Substanz, die durch die
Tätigkeit der in jeder Milch vorhandenen peptonisierenden Bakterien in ein
für Säuglinge tödlich wirkendes Gift verwandelt werden kann. Durch die
Abkochung läßt sich eine schon halb oder annähernd ganz zersetzte Milch
nicht wieder in ein Produkt von normaler chemischer Zusammensetzung
verwandeln, das wir unseren Säuglingen und Kindern darbieten dürften,
ohne ihre Gesundheit zu gefährden. Wir müssen also darauf bestehen, daß
die Milch in noch frischem, unzersetztem Zustande in die Hände des Kon¬
sumenten gelangt. Durch die zur Zeit möglichen Kon trollmaßregeln wird
die Erfüllung dieser wichtigen Forderung aber keineswegs gewährleistet.
„Auf Grund meiner Darlegungen gelange ich zu dem Re¬
sultat, daß eine befriedigende sanitäre Überwachung der städti¬
schen Milch Versorgungsverhältnisse sich nur in dem Falle
möglich erweist, daß die Kontrolle nicht in den Läden der ein¬
zelnen Milchhändler und auf der Straße beim Austragen der
Milch beginnt, sondern an der Produktionsstelle selbst einsetzt
und die Milch bis zur Ablieferung bei dem Konsumenten verfolgt.
„Fordern wir aber, daß die Kontrolle des Milchverkehrs schon an der
Produktionsstelle einsetzt, so beschwören wir dadurch Kompetenzkonflikte
schwerwiegendster Art herauf, die in den Zuständigkeitsverhältnissen der
staatlichen und städtischen Aufsichtsbehörden begründet liegen. Das ham-
burgische Milchgesetz gestattet z. B. den Vertretern der hamburgischen
Aufsichtsbehörden zwar, die auf hamburgischem Gebiete liegenden Milch¬
produktionsstellen zu betreten und zu kontrollieren. Der größte Teil der
in Hamburg konsumierten Milch stammt aber aus Preußen, und dort haben
die hamburgischen Beamten keinerlei Aufsichtsrecht.
„Die Vertreter preußischer Städte und der Städte anderer deutscher
Bundesstaaten haben auch ihrerseits keine Rechte jenseits der bundesstaat¬
lichen Grenzen, ja selbst oft nicht jenseits des Weichbildes der Stadt.
„Gewiß würden auch schon Maßnahmen der einzelnen Bundesstaaten
erheblich zur Verbesserung der bestehenden Zustände beitragen können.
Die Grenzen der Bundesstaaten decken sich aber nicht immer mit den
Grenzen der städtischen Milchzufuhr. Aus der Grünowachen Karte
können Sie ersehen, daß z. B. Berlin Milch aus Mecklenburg und aus
Sachsen bezieht. Die Möglichkeit einer Einschränkung der Milchzufuhr
aus fremden Bundesstaaten — etwa nach der Richtung, daß die Zu¬
fuhr von der Gestattung einer Kontrolle abhängig gemacht würde —
erscheint mir aber nach den herrschenden Verkehrsusancen, sowie auch
nach den in Kraft befindlichen gesetzlichen Bestimmungen ausgeschlossen.
Gründliche Abhilfe wäre hiernach nur von einem zu erlassenden
Reichsgesetz zu erwarten. Mit dem Gedanken, ein derartiges Gesetz
zu erlassen, haben sich die zuständigen Behörden schon vor vielen Jahren
beschäftigt. Sie sind aber zu der Ansicht gelangt, daß die Milchproduk¬
tionsverhältnisse in den verschiedenen Teilen des Reiches viel zu ver¬
schiedenartig seien, als daß sie einer einheitlichen reichsgesetzlichen Be¬
handlung zugänglich wären. Ich teile diese Bedenken, soweit es sich um
die Anforderungen an die chemische Zusammensetzung der Milch handelt,
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 107
bin aber der Meinung, daß gerade diejenigen Fragen, die uns Hygienikern
außer der Forderung einer normalen chemischen Zusammensetzung am
nächsten liegen — alle diejenigen Forderungen, welche sich auf die gesund¬
heitliche Überwachung des Milchviehes, auf die reinliche Aufstallung des¬
selben, auf die reinliche Durchführung des Melkgeschäftes und auf einen
rationellen Transport der Milch beziehen — einer einheitlichen Behandlung
für das ganze Reich zugänglich sind. Die eingangs dargelegten ganz un¬
haltbaren Zustände, welche in bezug auf die städtischen Milchversorgungs-
verhältnisse herrschen, sind ohne Zweifel dazu angetan, alle Bedenken, die
einer reichsgesetzlichen Regelung der Milchproduktionsverhältnisse im Wege
stehen könnten, zu beseitigen. Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß unsere
heutigen Verhandlungen dazu beitragen möchten, die zuständigen Stellen
von der Notwendigkeit eines solchen Vorgehens zu überzeugen.
„Eine reichsgesetzliche Regelung der Milchproduktionsverhältnisse wird
meines Erachtens aus dem Grunde auf keine erheblichen Schwierigkeiten
stoßen können, weil es zur Durchführung der notwendigen gesetzlichen
Bestimmungen keines großen Aufwandes bedarf. Die erforderlichen Ma߬
regeln werden sich in die bestehenden Verhältnisse ohne große Schwierig¬
keiten einfügen lassen. Ich kann es natürlich nicht als meine Aufgabe
betrachten, Ihnen einen fertigen Entwurf zu einem einschlägigen Reichs-
gesetz vorzulegen, vielmehr muß ich mich darauf beschränken, Ihnen anzu¬
deuten, wie etwa ich mir die reichsgesetzliche Regelung der Milchproduk¬
tions- und Verkehrsverhältnisse durchführbar denke.
„Bei näherer Überlegung gelangt man zu der Überzeugung, daß die
Hauptkontrolltätigkeit den Behörden der einzelnen Kreise zufallen müßte.
Eine sachgemäße Kontrolle der Milchproduktionsverhältnisse läßt sich nur
durchführen, wenn ein Landwirt, ein Tierarzt und ein Arzt zu dieser Tätig¬
keit herangezogen werden. Diese stehen aber den Landräten und den
KreiBausschüssen schon jetzt zur Verfügung. Die Oberleitung der Kontroll-
maßregeln würde den Regierungspräsidenten zufallen, bzw. den entsprechen¬
den Instanzen, welche in den landwirtschaftlichen Kammern, den Medizinal¬
räten und den zuständigen Tierärzten die geeigneten Sachverständigen zur
Hand haben. Die Maßnahmen würden voraussichtlich darauf binauslaufen
müssen, daß den geeignet befundenen Landwirten bzw. Händlern Lizenzen
zur Produktion bzw. zum Handel mit Trinkmilch zu erteilen wären. Auf
die Lizenzerteilung müßten die städtischen Behörden einen gewissen Ein¬
fluß haben. Vor allem müßte ein glatter Verkehr zwischen den Aufsichts¬
behörden der Stadt und des Landes gesichert sein.
„Wende ich mich nun denjenigen Maßregeln zu, welche seitens der Städte
getroffen werden müßten, um den vorhin geschilderten, aus dem verzettelten
Zwischenhandel entstehenden unkontrollierbaren Mißständen zu begegnen, so
liegt der schon von verschiedenen Seiten vorgetragene Gedanke sehr nahe, daß
der Verkehr mit Milch in ähnlicher Weise zentralisiert werden müßte, wie es in
bezug auf den Verkehr mit Fleisch schon geschehen ist. Die wirtschaftliche wie
auch die sanitäre Bedeutung der Milch würde solche Maßnahme mindestens
in ebenso hohem Maße rechtfertigen wie beim Fleisch verkehr. Einer ganz
analogen Zentralisierung des Milchverkehrs stehen Schwierigkeiten im Wege,
die in der leichten Zersetzlichkeit der Milch und in der Art der Milch-
Digitized by Google
108 XXVIIL Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
zufahr begründet liegen. Denken wir uns z. B. einen Städtekomplex wie
Berlin oder Hamburg, zu dem ein großer Teil der Milchzufuhr aus den
benachbarten Höfen und Gütern per Achse erfolgt, und stellen wir uns vor,
daß die Milch von allen Seiten zunächst nach einem Zentraldepot zu fahien
und von dort aus wieder über das ganze Stadtgebiet bis zu der äußersten
Peripherie verteilt werden soll, so kann uns eine derartige Verwirklichung
des Zentralisationsgedankens des Milchverkehrs kaum rationell erscheinen.
Für größere Städte würde sich die Einrichtung einer größeren Zahl von
Sammelstellen notwendig erweisen, die an geeigneten Punkten über das
ganze Stadtgebiet zu verteilen wären. Damit nähern wir uns deijenigen
Lösung, welcher die städtischen Milchversorgungsverhältnisse schon aus
rein wirtschaftlichen Gründen höchst wahrscheinlich entgegengehen werden,
sobald die städtischen Aufsichtsbehörden an den inneren Milchverkehr die¬
jenigen Anforderungen stellen, welche der Hygieniker im Hinblick auf die
vorhin geschilderten zurzeit herrschenden, ganz unkontrollierbaren Zustände
als durchaus unerläßlich betrachten muß. Ich will nicht so viel Wert
darauf legen, daß die Sammelstellen, die ich mir in der Art von städtischen
Zentralmolkereien denke, in allen Fällen unter städtischer Leitung stehen.
Die Kontrolle würde uns auch in dem Falle in genügendem Maße ermöglicht
werden, wenn diese städtischen Molkereien sich in Privathänden befänden.
Es erscheint mir gar nicht ausgeschlossen, daß die Milchhändler, die sich im
Lanfe der letzten Jahre zu einem großen deutschen Bunde zusammen-
geschlossen haben und offenbar einzusehen beginnen, daß sie auf eine
Hebung ihres Standesgefühls und auf eine rationelle Ausbildung ihrer Mit¬
glieder hinstreben müssen, sich mit der Zeit zu größeren Genossenschaften
vereinigen und selbst Zentralmolkereien errichten, sowie auch sonstige Vor¬
kehrungen schaffen werden, mit denen sich der Hygieniker und die städti¬
schen Aufsichtsbehörden einverstanden erklären könnten.
„Das Vertrauen, welches ich in die Kontrollierbarkeit solcher größeren
Anlagen setze, schöpfe ich aus Erfahrungen, die wir bei der Nahrungsmittel¬
kontrolle in Hamburg auch in solchen Fällen machen konnten, wo uns jede
gesetzliche Handhabe zur Beseitigung bestehender Mißstände fehlte. Als
Beispiel führe ich nur folgende Vorgänge an. Vor einer Reihe von Jahren
stellte sich heraus, daß einzelne hamburgische Brauereien ihren Produkten
Konservierungsmittel zusetzten. Diesem Vorgehen standen wir damals
ganz machtlos gegenüber, die Feststellung und Aufdeckung der Tatsache
allein genügte aber schon, um sämtliche Hamburger Brauereien zu der Er¬
klärung zu veranlassen, sie würden in Zukunft streng nach den Vorschriften
des bayerischen Braugesetzes verfahren. Tatsächlich sind seither in Ham¬
burg auf dem Gebiete der Bierproduktion durchaus erfreuliche Zustände zu
verzeichnen. Aus der eigenen Initiative der Brauereien selbst heraus ist
also mehr geschehen, als wir auf Grund unserer Gesetze verlangen konnten.
„Ganz ebenso werden sich, wie ich glaube, die MilchVersorgungsver¬
hältnisse gestalten, sobald die Milchhändler zu genossenschaftlichen Ver¬
bindungen zusammengetreten sind, größere Kapitalien in mustergültigen
Anlagen investiert und unter ihren Mitgliedern einen Reinigungs- und Auf¬
räumungsprozeß vorgenommen haben. Die größeren Unternehmungen
würden sich gegenseitig eifersüchtig überwachen, und ein jeder würde be-
Digitized by Google
Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 109
strebt sein, das Beste zu liefern, um der Konkurrenz die Spitze bieten zu
können.
„Ich bin also der Auffassung, daß die Übernahme der städtischen
Milchversorgung seitens der Stadtverwaltung nicht als ein unumgängliches
Erfordernis hingestellt zu werden braucht, sofern sich Private, welche über
die nötigen Kapitalien und über das nötige Sachverständnis verfügen, ent¬
schließen sollten, größere mustergültige Sammel- und Verteilungs-
Stellen zu schaffen. Ohne solche scheint mir eine gründliche Sanierung,
namentlich aber eine ausgiebige Kontrolle des städtischen Milchverkehrs
undenkbar.
„In solchen Städten, wo die Erfüllung der eben aufgestellten
Forderungen auf Schwierigkeiten stößt, sollten sich die Auf¬
sichtsbehörden meines Erachtens verpflichtet fühlen, die be¬
stehenden Mißstände wenigstens insoweit durch eigene Initiative
zu beseitigen, daß sie für die Deckung desBedarfs an Säuglings¬
milch. ev. auch an Milch für die eigenen städtischen Anstalten,
wie Waisenhäuser, Krankenhäuser usw., selbständig sorgten.
Zur Verwirklichung dieses Gedankens erscheint es mir nicht unumgänglich
nötig, daß die Städte selbst einen Bestand von Milchkühen anschaffen, ich
glaube vielmehr, daß sie durch Abmachungen mit geeigneten Produzenten
zum Ziel kommen könnten, durch welche ihnen die vorhin als durchaus
notwendig aufgestellte Ausdehnung der Kontrollmaßregeln bis zur Ursprungs-
stütte der Milch hin ermöglicht würde.
„Für je 100000 Einwohner würde bei dem derzeitigen Stande der
Säuglingsernährungsverhältnisse eine Viehhaltung von etwa 200 Köpfen
genügen, um die Beschaffung ausreichender Nahrung für sämtliche Säug¬
linge zu gewährleisten. Damit würde für jede Stadt von der bezeichneten
Einwohnerzahl die Möglichkeit gegeben, jährlich reichlich 300 Säuglingen
das Leben zu retten, die nach Ausweis unserer Statistiken sonst unrettbar
dem Tode verfallen sein würden. Voraussetzung hierbei wäre allerdings,
daß die betreffende Stadt nicht nur die Überwachung der Produktion, der
Zufuhr und der Verteilung der Milch übernähme, sondern auch die Sorge
dafür, daß diese Milch den Säuglingen in rationeller Weise verabreicht wird.
Auf die Schwierigkeiten in bezug auf den letzten Punkt komme ich gleich
zurück.
„Dadurch, daß die Städte besondere Vorschriften für die Kindermilch
aufstellen, werden sie ihren Pflichten unserem Nachwuchse gegenüber nie
Tollständig gerecht werden können. Die ärmere Bevölkerung wird nach
wie vor die Marktmilch kaufen und nicht die kostspieligere Kindermilch.
„Gewisse polizeiliche Verordnungen stellen in bezug auf die Fütterungs¬
art derjenigen Kühe, welche die sogenannte Kindermilch liefern sollen, For¬
derungen auf, welche notwendigerweise zu einer erheblichen Verteuerung
der Milch führen müssen. Eine solche Milch wird, wie mit Recht betont
worden ist, nur den Säuglingen der wohlhabenden Bevölkerung zugute
kommen können. Diese sind aber, sobald die bestehende und in Unkenntnis
begründete Gleichgültigkeit der Konsumenten den Milchversorgungsfragen
gegenüber fortfällt, zurzeit schon überall in der Lage, eine gesunde Milch
zu Vorzugspreisen zu erhalten. Ich habe auch nichts dagegen, daß man
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110 XXVIII. Versammlung d.D. Vereine f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
noch besondere Vorschriften für eine Vorzugsmilch erläßt. Als Hygieniker
lege ich aber größeren Wert darauf, daß die Städte mit einer gesundheitlich
einwandfreien Milch zu billigen Preisen genügend versorgt werden. Die
Fütterungstabellen, welche die Rüben vollständig ausschließen und nur Heu,
Grummet, Getreideschrot und Malzkörner als Futter zulassen, sind, wie ich
ohne weiteres zugebe, geeignet, die Erfüllung meiner Forderungen unmög¬
lich zu machen. Ich würde nichts dagegen haben, daß andere Futtersorten,
insbesondere Rüben, in mäßigem Maße mit zur Verwendung kommen, muß
es allerdings auf das entschiedenste verwerfen, daß Milchkühe mit Küchen¬
trank und anderen in Gärung befindlichen Stoffen, wie namentlich auch mit
Schlempe gefüttert werden.
„Gehen wir in unseren Anforderungen betreffend die Auswahl der
Futtermittel nicht zu weit, so können wir, wie ich glaube, Ihnen bewiesen
zu haben, die Erfüllung aller sonstigen hygienischerseits aufgestellten For¬
derungen verlangen, ohne befürchten zu müssen, daß der Preis der Markt¬
milch dadurch erhöht zu werden braucht, bzw. daß der Landwirt nicht auf
seine Kosten kommt.
„Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß sich in einer größeren Zahl
von Städten Vereine gegründet haben, zumteil auch von der städtischen
Verwaltung selbst Vorkehrungen getroffen sind, so z. B. in Halle, welche
sich die Versorgung der Säuglinge der ärmeren Bevölkerungsklassen mit
gesunder Nahrung zum Ziele gesetzt haben. Die Erfahrungen, die man bei
solchen Bestrebungen gemacht hat, sind zumteil außerordentlich günstige
gewesen. Man hört aber auch von unbefriedigenden Ergebnissen, die damit
größtenteils Zusammenhängen sollen, daß der Transport der Säuglingsmilch
Kindern anvertraut wurde, welche die Flaschen unterwegs öffneten, teilweise
austranken und mit Wasser wieder füllten, jedenfalls beschmutzten; ferner
damit, daß den Müttern der Säuglinge jedwede Kenntnis ihrer mütterlichen
Pflichten abging.
„Wenn ich auf dieses letztere Thema komme, so fallt es mir schwer,
mir die nötige Einschränkung aufzuerlegen und nicht eine bewegliche Klage
anzuheben über die irrationelle Erziehung, welche unsere städtische weib¬
liche Jugend zurzeit fast durchweg erfährt. Sie wird zum großen Teil ohne
jede Kenntnis irgend welcher häuslichen Pflichten aufgezogen. Ihre Un¬
kenntnis in bezug auf hauswirtschaftliche Aufgaben, in bezug auf die ele¬
mentarsten Küchenangelegenheiten, geht so weit, daß sie die Kontrolle über
die einfachsten alltäglichsten Ernährungsangelegenheiten nicht mehr selbst
auszuüben vermag. Die reichen Erfahrungen, welche eine langjährige Be¬
tätigung in der Nahrungsmittelkontrolle mir nach dieser Richtung zu sam¬
meln gestattete, haben in mir den Eindruck zurückgelassen, daß eine
Verbesserung unserer Säuglingssterblichkeit nicht allein von
einer ausgiebigen Sanierung und Kontrolle der Milchversor¬
gungsverhältnisse, sondern in nahezu demselben Maße von einer
rationellen Ausbildung unserer weiblichen Jugend abhängig
sein wird.
„Auch dieses Thema, auf das ich heute nicht näher eingehen darf,
obgleich es in innigster Beziehung zu den städtischen Milchversorgungs¬
verhältnissen steht, wäre wert, in das Repertoire unseres Vereins aufgenommen
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch.
zu werden. Mit einer rationellen Heranbildung unserer städtischen weiblichen
Jugend für die Pflichten einer Hausfrau würde die Gleichgültigkeit der Milch¬
konsumenten gegenüber allen beschriebenen Mißständen in Fortfall kommen.
Die vollständige Gleichgültigkeit der Milchkonsumenten scheint mir zurzeit
noch derjenige Punkt zu sein, an welchem der endgültige Erfolg aller Sanie¬
rungsversuche scheitern muß.
„Was die eben erwähnten Vereine anbetrifft, so wollte ich noch darauf
hinweisen, daß man in Frankreich unterscheidet zwischen „ Gouttes de Lait“
und „ Consultations de Nourrissons “.
„Die ersteren stellen nach ärztlichen Vorschriften Milchpräparate her
für die künstlich zu ernährenden Säuglinge, die letzteren befassen sich mit
Raterteilungen an die Mütter. Während die Vertreter der „ Gouttes de
Lait“ in dem Bereiche ihrer Tätigkeit die künstliche Ernährung der Säug¬
linge als selbstverständlich hinnehmen, haben die Vertreter der v Consid-
tations de Nourrissons w sich das Ziel gesetzt, zu erreichen, daß die natürliche
Ernährung der Säuglinge wieder eine allgemeine Aufnahme finde. Ihre
Bestrebungen nach dieser Richtung sind nicht erfolglos gewesen, und es muß
nach den gemachten Erfahrungen als eine Tatsache erscheinen, daß die
Möglichkeit zu einer natürlichen Ernährung auch in den Städten heutzutage
viel häufiger gegeben ist, als man gemeinhin annimmt. Auch scheint die
Bequemlichkeit allein nicht immer der Grund zu sein, daß die Mütter von
der natürlichen Ernährung ihrer Säuglinge absehen, wo ihnen von Natur
die Möglichkeit dazu gegeben wäre, sondern es scheint vielfach tatsächlich
mehr Nachahmung und Unkenntnis dabei im Spiel zu sein.
„Die Bestrebungen, welche auf die Wiederaufnahme der
natürlichen Ernährung der Säuglinge hinzielen, verdienen
unsere wärmste Unterstützung. Wir dürfen aber nicht so sanguinisch
sein, uns der Hoffnung hinzugeben, daß die Zeiten in absehbarer Zukunft
wiederkommen könnten, in denen die künstliche Ernährung die Ausnahme
bildete. Deshalb werden die vorbezeichneten Bestrebungen zur Beschaffung
einer gesunden Nahrung für die Säuglinge unserer gesamten städtischen
Bevölkerung ihre Bedeutung vorderhand nicht verlieren.
„Eine genügende Fürsorge für die künstlich zu ernährenden Säuglinge
und für das in erster Linie auf den Milchkonsum angewiesene Kindesalter
wird aber, wie ich schon darlegte, durch gesetzliche Bestimmungen allein
nicht zu verwirklichen sein. Der hierher fallende Teil der Kontrolle ist
ohne individualisierende Belehrung nicht denkbar. Auch hier können die
städtischen Aufsichtsbehörden, wie gesagt, durch geeignete Unterrichtung
der weiblichen Jugend und durch mancherlei andere erziehliche Maßnahmen
ohne Zweifel sehr segensreich wirken. Ohne die Betätigung von Privat-
kreisen, insbesondere der Ärzte, werden wir aber nicht imstande sein, das
gesteckte Ziel zu erreichen. Es bietet sich hier ein Arbeitsfeld, welches die
reichste Ernte verspricht, auf dem fast jedes Samenkorn sich entwickeln und
reiche Frucht tragen wird; ein Gebiet, auf dem namentlich derjenige Teil
unserer Frauenwelt, der durch häusliche Pflichten nicht völlig in Anspruch
genommen ist und sich nach befriedigender Betätigung sehnt, Aufgaben finden
wird, welche nicht einseitig den Geist, sondern, wie es bei jeder Frauentätig¬
keit sein sollte, auch das Herz beschäftigen.
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112 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Versetzen wir uns in das Stübchen einer Tagelöhnerin oder Fabrik-
arbeiterin, welche für sich und ihren Mann, der ein Säufer ist, das tägliche
Brot zu erwerben hat, in deren jammervolles trübes Dasein ein eben ge¬
borenes Kind den ersten Lichtblick werfen sollte. Die Mutterbrust versagt,
und die gekaufte Kuhmilch bekommt dem Säugling nicht, er erkrankt, und
mit ihm droht das einzige Glück, das der armen Frau beschieden war, zu
Grabe getragen zu werden. Sagen Sie nicht, es sei ein Segen für die arme
Frau, das Kind los zu werden. Wer diese oft gehörte Lebensanschauung
in solchen Lagen vorträgt, der hat noch nie einen Einblick erhalten in die
Tiefen der Mutterliebe, die schon beim Tier alle anderen Gefühle beherrscht
und zurückdrängt und sich nicht weniger beim Menschen, selbst in den
niedrigsten Schichten derselben und unter den bedrängtesten Lebensverhält¬
nissen bewährt, ja, abgesehen von seltenen Ausnahmen, eine viel höhere
Entwickelung erfährt. „Wer das Säuglingssterben als eine aus sozialpoliti¬
schen Gründen erwünschte, jedenfalls als eine nicht sehr zu bedauernde Er¬
scheinung hinstellt, der setzt sich über alle diejenigen Gefühle hinweg,
welche die Worte Mutterliebe und wahre Humanität in sich bergen.
„Der Fall, den ich eben skizzierte, findet sich in jeder Stadt, jederzeit
hundertfach und tausendfach vertreten. Hier zu helfen kann nicht Aufgabe
der Gesetzgebung allein sein, hier müssen die von patriotischen Gefühlen
getragenen und von humanitären Bestrebungen erfüllten Männer und
Frauen für jede Stadt und für jeden Fall individualisierend eingreifen.
Hier bietet sich für sie eine Aufgabe, wie sie poesievoller und gleichzeitig
sozialhygienisch bedeutungsvoller nicht gedacht werden kann, eine Aufgabe,
bei welcher sich nach allen bislang gemachten Erfahrungen Erfolge in über¬
raschend leichter Weise erzielen lassen, und nichts kann mir befriedigender
erscheinen, nichts scheint mir die Freude am eigenen Dasein so erhöhen zu
können, als der Gedanke, dazu beigetragen zu haben, daß solche kleinen
hilflosen Wesen dem Tode entrissen und dem Leben erhalten wurden.
„Als notwendigste Grundlagen, auf welchen sich eine ausreichende
gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch aufbauen könnte, sind
nach dem Gesagten anzusehen:
1. ein zu erlassendes Reichsgesetz, welches die allgemeinen
hygienischen Grundsätze der Milchproduktion, des Milch¬
transports und Verkehrs regelt;
2. landesgesetzliche Bestimmungen, bzw. behördliche Ver¬
ordnungen, welche die zu fordernde Zusammensetzung der
Milch, den lokalen Verhältnissen sich anpassend, ordnen;
3. städtischerseits zu treffende Maßregeln, welche den inne¬
ren Verkehr mit Milch im Bereich der Stadt kontrollierbar
gestalten und welche die Versorgung der künstlich zu er¬
nährenden Säuglinge der ärmeren Bevölkerung mit gesund¬
heitlich einwandfreier Nahrung gewährleisten;
4. schließlich die Bildung privater Vereine in jeder Stadt,
welche sich die Fürsorge für die Säuglings- und Kinder¬
ernährung zur Aufgabe machen.“
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113
Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch.
Hierauf eröffnet der Vorsitzende die Diskussion.
Professor Dr. Schlossmann (Dresden) wendet sich gegen die Be¬
hauptung des Referenten, daß die natürliche Ernährung der Säuglinge durch
die Mutterbrust im Abnehmen begriffen sei. Im ganzen Deutschen Reiche
ebenso wie in der übrigen Welt komme man mehr und mehr zu der Er¬
kenntnis, daß die natürliche Ernährung des Säuglings vom Hygieniker in
erster Linie gefördert werden müsse und gefördert werde, und daß infolge¬
dessen jetzt in allen Kreisen, besonders in Frankreich, ganz entschieden eine
Zunahme des Stillens festzustellen sei. Wenn dies in Hamburg nicht der
Fall sei, so liege das daran, daß in Hamburg die Pädiatrie auf einem ab¬
soluten Tiefstand stehe und dort als ein nebensächlicher Appendix der
inneren Klinik betrachtet werde. Aber dort, wo Pädiatrie wirklich betrieben
werde, könne man in dieser Beziehung Wirkungen vermerken. Zum an¬
deren beruhe die Behauptung des Referenten auch darauf, daß vielfach die
heutige Statistik eine außerordentlich mangelhafte sei. In Dresden habe
man die Sache jetzt so geordnet: der Todesschein enthalte nicht mehr die
Frage, ob das verstorbene Kind mit dieser oder jener Nahrung ernährt
worden sei, sondern man frage bei jedem im ersten Lebensjahr gestorbenen
Kinde, wie lange es gestillt worden sei. Auf diese Weise erhalte man einen
Einblick, wieviele Kinder und wie lange sie gestillt worden seien. Auch
sei neuerdings bei der zuständigen Behörde der Antrag gestellt worden, bei
der nächsten Volkszählung für sämtliche Kinder unter einem Jahr eine Rubrik
einzufOgen, ob das Kind zur Zeit der Zählung gestillt werde oder nicht.
Auf diese Weise werde man mit der Zeit eine Statistik erhalten, mit der
man werde rechnen können.
Weiter habe der Referent in Nr. 3 seiner Leitsätze gesagt, daß die
Möglichkeit vorliege, eine zur Kinderernährung geeignete Milch zu demselben
Preise zu liefern, der zurzeit für die Vollmilch bezahlt werde. Leider aber
habe der Referent nicht mitgeteilt, wie man das erreichen könne, und er
müsse es für eine Unmöglichkeit erklären, zu dem Marktpreis von 16 bis
18 Pfennig eine geeignete Kindermilch zu liefern. In einer vom Staat er¬
richteten, der Kgl. tierärztlichen Hochschule angeschlossenen und unter
Aufsicht der Kgl. Veterinärkommission stehenden Anstalt stelle sich der
Preis für das Liter Milch ab Stall auf 25 Pfennig, wobei die Verzinsung
und Amortisation der Ställe, ebenso wie die Löhne und Gehälter außer
Rechnung gelassen seien; die pure Ernährung der Tiere koste 25 Pfennige
pro Liter. Das seien allerdings auch ganz besondere Tiere, und die Stall¬
gebäude mit ihren massiven Mauern, mit ihren vorzüglichen elektrischen
Ventilationseinrichtungen, mit ihren ausgezeichneten Kühlvorrichtungen und
ihrer elektrischen Beleuchtung seien imstande, das Gefühl des Neides zu er¬
regen, daß man für die kranken Kinder kein solches Gebäude habe.
Über den Begriff „Kindermilch“ sei der Referent ziemlich leicht hin-
weggegangen, und dafür sage er ihm insofern Dank, als der Begriff Kinder-
milch ein Wort sei, das viel gebraucht werde, das aber eigentlich noch nicht
definiert sei. Heutzutage stehe man nicht mehr auf dem Standpunkt, daß
zu dem Begriff Kindermilch die Trockenfütterung gehöre.
In bezug auf das von dem Referenten gewünschte Reichsgesetz könne
Vierteljahnschrift Ar Gerondheitipflege, 1904. 3
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114 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
er ihn nur zu seinem politischen Optimismus beglückwünschen, er stehe auf
dem Standpunkte: der Himmel behüte uns vor einer reichsgesetzlichen Re¬
gelung dieser Sache. In Dresden wisse man schon ungefähr, was es heiße,
wenn eine Zentralbehörde oder Landesverwaltung sich in diese Frage hin¬
einmische. In Dresden habe man früher ein Milchregulativ gehabt, das drei
Prozent Mindestfettgehalt vorschreibe. Da sei eines Tages eine Ministerial-
verordnung erschienen, gleichmäßig für das ganze Land, und darin heiße
es, Milch, welcher nichts hinzugesetzt und auch nichts weggenommen sei,
welche auch sonst nicht verändert worden sei, sei als Vollmilch zu be¬
zeichnen — mit anderen Worten, es sei in die Hände der Landwirte
gelegt, wie fett sie ihre Milch machen wollen. Dazu sei zu bemerken,
daß diese Verordnung zustande gekommen sei ohne die sonst übliche
Befragung der ärztlichen Bezirks vereine und ohne Verhandlung in einer
öffentlichen Sitzung des Kgl. Landesmedizinalkollegiums. Das sei nur
eine Ministerialverordnung, ergehe aber erst ein Landesgesetz, so würde
dies einen Paragraphen enthalten: Wer an der Milch nörgelt, der wird ein¬
gesperrt. Er glaube, ganz abgesehen davon, daß gar nicht möglich sei, für
die verschiedenen Teile Deutschlands mit ihren verschiedenen landwirt¬
schaftlichen und industriellen Verhältnissen eine einheitliche gesetzliche
Regelung herbeizuführen, daß dieses Gesetz bei der heutigen Zusammen¬
setzung des Reichstags einen Schlag bedeuten würde, von dem man sich gar
nicht werde erholen können. In dieser Hinsicht müsse jede Stadt für sich
sorgen, denn sie nehme die Interessen der Konsumenten, die Landesver¬
tretungen nur die Interessen der Produzenten wahr, und das seien Gegen¬
sätze, die schwer zu vereinigen seien.
Am meisten Not tue, daß man in Deutschland lerne, was Milch sei.
Vielfach könne man beobachten, daß eine Milch, welche reinlich gewonnen
sei, dem Trinkenden fad schmecke, komme aber Stallduft oder Verunreini¬
gung durch Kuhschmutz hinein, so halte man sie für aromatisch. In dieser
Beziehung sei es nötig, die Leute zu erziehen, daß sie darauf halten, daß
ihnen überall eine anständige und gute Milch vorgesetzt werde. Jedes Land
habe die Milch, die es verdiene.
Professor Dr. A. Baginsky (Berlin) will vom Standpunkt des
Kinderarztes einige der zur Diskussion stehenden Punkte beleuchten. Ge¬
legentlich einer von den preußischen Ministerien gemeinsam angesetzten
Konferenz, der er als Delegierter des Kultusministeriums beigewohnt habe,
habe sich in den Verhandlungen ein heftiger Widerstreit der Interessen der
Milchproduzenten und der Milchhändler gezeigt, insbesondere sei die Frage,
wo und wie die Kontrolle auszuführen sei, Gegenstand der heftigsten Kon¬
troverse gewesen. Seitens der Milchhändler sei jede Verdächtigung der
Fälschung zurückgewiesen und auf der Prüfung der Milch im Stall bestan¬
den worden.
Von den ärztlichen Mitgliedern der Konferenz sei die Bedeutung der
Beschaffung einer wirklich tadellosen Kuhmilch für die Kinderernährung
betont worden, wobei sich herausgestellt habe, daß die üblichen Anfor¬
derungen an die Milch in keiner Weise für diejenige Milch ausreichen, welche
zur Säuglingsernährung dienen solle. Für letztere seien an die Reinlichkeit
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 115
der Milch, also an die Art der ursprünglichen Milchgewinnnng, weiter¬
gehende Forderungen gestellt worden; selbstverständlich sei überdies absolute
Intaktheit des Naturprodukts vorausgesetzt worden. Diesen Forderungen
gegenüber sei seitens der Produzenten der Einwand erhoben worden, daß
sie bei dem niedrigen Marktpreise der Milch unausführbar seien. Daraus
sei schon zu ersehen, daß man zwischen Eindermilch im engeren Sinne und
der einfachen Gebrauchsmilch wohl zu unterscheiden habe. An letztere
werde man nicht nötig haben, die für die Kindermilch notwendigen Postulate
zu stellen. Selbst in dem Kinderkrankenhause, dem er vorstehe, seien zwei
Milchsorten vorhanden, die Säuglingsmilch, welche mit 36 Pfg. per Liter,
und andere Milch für ältere Kinder und zum Kochverbrauch, die nur mit
16 bis 17 Pfg. bezahlt werde. Daraus sei schon ersichtlich, daß eine ein¬
heitliche, die Gesamtmilch betreffende Gesetzgebung gar nicht möglich sei.
Was nun die Kindersterblichkeit betreffe, so dürfe man doch wohl nicht
so weit gehen, wie der Referent es getan habe, alles auf die Milch zu
schieben, wenngleich gewiß die Diarrhoesterblichkeit im Sommer einen sehr
wesentlichen Anteil an der Sterblichkeit habe; aber es gebe doch auch noch
andere, auf sozialem Gebiet liegende, den Tod der Kinder befördernde Ur¬
sachen. Und endlich werde man, selbst wenn man die beste Fürsorge für
die Milchgewinnung treffe, nicht verhindern können, daß die Kinder doch
schlechte und verdorbene Milch erhalten, einfach deshalb, weil die beste
Milch im Haushalt verdorben werde, wenn man nicht verständig mit der
Milch und mit der Art ihrer Darreichung umzugehen gelernt habe. Tat¬
sächlich wisse nur ein geringer Teil der Mütter mit der normalen Behand¬
lungsweise der Milch im Hause und für das Kind Bescheid. So könne also
auch hier Gesetzgebung und Kontrolle nicht alles machen.
Weit wirksamer als die Gesetzgebung sei die Verbreitung hygienischer
Kenntnisse im Publikum und die mit dieser gewonnene Selbstkontrolle der
Produzenten und Konsumenten. Hier könne eine gute Vereinstätigkeit mehr
wirken als jede Gesetzgebung. So habe Amerika durch seine in den sog.
milk laboratories geübte Vereinstätigkeit geradezu ideale Milch Verhältnisse
für seine Kinderwelt geschaffen. Wenn er also auch Gesetzgebung und
Kontrolle nicht gerade in den Hintergrund drängen wolle, weil schließlich
gewisse Normen doch auch gesetzlich aufgestellt werden müssen, so lege er
doch auf die private Tätigkeit mehr Wert, die dahin gerichtet sein müsse,
einmal die Kindermilch gut zu bezahlen und dann die gewonnene Sach¬
kenntnis in das Praktische zu übersetzen.
Professor Dr. Fischer (Kiel) will nur eine Erfahrung mitteilen, die
er vor ganz kurzer Zeit gemacht habe, und die ein Bild gebe von der Ge¬
fahr, welche mit dem Genuß einer ungekochten oder mangelhaft erwärmten
Milch verbunden sein könne.
Ende Juli und Anfang August d. J. seien auf einem großen Gut in
Ostholstein kurz nacheinander 50 Personen an Erbrechen und heftigen Ko¬
liken erkrankt, mit Fieber und schweren Allgemeinerscheinungen; trotz¬
dem sei der Ausgang in allen Fällen ein günstiger gewesen. Die am Orte
angestellte Untersuchung habe kaum einen Zweifel darüber gelassen, daß der
Krankheitsstoff durch die Milch verbreitet worden sei, durch die Milch der
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116 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Gutsmeierei, welche entgegen den Betriebsbestimmungen entweder gar nicht
oder doch nur mangelhaft pasteurisiert gewesen sei. In den Ausscheidungen
der Erkrankten seien Bazillen nachgewiesen worden, welche für Versuchs¬
tiere in hohem Grade virulent gewesen seien, Bazillen, die den Typhus¬
bazillen ähnlich, von diesen aber doch mit Sicherheit zu unterscheiden ge¬
wesen seien. Auch sei bei einer großen Anzahl von Rekonvaleszenten der
Nachweis erbracht worden, daß das Blut derselben gerade auf diese Bazillen
in ganz bestimmter Weise reagiert habe. Von den milchliefernden Kühen
sei eine vor Ausbruch der Epidemie, eine zweite im Beginn derselben ge¬
fallen, und aus den Kadavern dieser beiden Tiere sei es gelungen, genau
dieselben Bakterien zu isolieren wie aus den Ausleerungen der Erkrankten.
Es handle sich hier um Bakterien, die zwar keine Sporen bilden, die aber
trotzdem recht widerstandsfähig seien, derart, daß sie noch nicht abgetötet
worden seien, wenn sie 30 Minuten lang einer Temperatur von 70° C aus¬
gesetzt gewesen seien. Gerade diese Beobachtung habe ihn in der Annahme
mit bestärkt, daß die Verbreitung der Krankheit durch die mangelhaft be¬
handelte Milch stattgefunden habe.
Vor zwei Jahren habe bekanntlich Robert Koch sich dahin ausge¬
sprochen, daß bei der Verbreitung der Tuberkulose nicht die Perlsucht als
Infektionsquelle in Betracht komme, sondern der tuberkulös erkrankte Mensch.
Diese Mitteilung habe vielfach zu der irrigen Auffassung geführt, daß man
heutzutage in betreff der Milch sich gleichgültiger verhalten könne, daß man
die Milch nicht mehr zu kochen, zu sterilisieren, zu pasteurisieren brauche.
Aber es gebe bei den Tieren eine ganze Anzahl von Krankheiten, bei welchen
die Krankheitserreger in die Milch und mit der Milch auf den Menschen
übergehen können. Je mehr man diese Verhältnisse studiere, um so größer
werde die Zahl von solchen Tierkrankheiten, um so größer müsse man die
Gefahr anschlagen, die mit der Aufnahme einer ungekochten oder einer
mangelhaft erhitzten Milch verbunden sei. Wie auch heute wieder erwähnt
worden sei, können aber in die Milch hinein auch die Krankheitskeime von
erkrankten Menschen gelangen, und das gelte für eine ganze Reihe von
menschlichen Krankheiten.
Nach den mitgeteilten Erfahrungen müsse man festhalteu an dem Auf¬
kochen, bzw. Pasteurisieren der Milch vor dem Genuß. Dieses Pasteuri¬
sieren dürfe aber nicht in der früher üblichen Weise durch 30 Minuten
langes Erhitzen der Milch auf 70° C erfolgen, da dies nach seinen Er¬
fahrungen in manchen Fällen nicht ausreichend sei zur Abtötung der Krank¬
heitserreger.
Dr. med. Möinort (Dresden) betont, daß man in bezug auf alle Milch¬
fragen außerordentlich vorsichtig sein müsse. Er erinnere an die Soxhlet-
periode. Als Soxhlet sein bekanntes Verfahren publiziert habe, habe überall
große Begeisterung geherrscht, namentlich auch unter den Ärzten. Nach
wenigen Jahren habe man behauptet, daß die Abnahme der Säuglingssterb¬
lichkeit mit dem Soxhletverfahren Zusammenhänge, obgleich es niemals in
diejenigen Kreise gedrungen sei, die unter der Säuglingssterblichkeit zu
leiden haben. Erst 12 Jahre später habe man eingesehen, daß der Nieder¬
gang der Kindersterblichkeit mit Temperaturverhältnissen Zusammenhänge,
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 117
daß eben zufällig in jener Zeit eine Kälteperiode eingetreten sei. Als später
wieder heiße Sommer gekommen seien, sei auch die Kindersterblichkeit
wieder in früherem Umfang aufgetreten. Aber das Soxhletverfahren habe
einen großen Nachteil gebracht, indem bei einstündigem Kochen der Milch
die betreffenden Kinder vielfach rachitisch geworden seien. Flügge habe
dann gezeigt, daß es vollständig genüge, die Milch zehn Minuten lang zu
kochen, und seitdem sei die Rachitis wieder im Rückgang.
Die Behauptung des Referenten, daß jährlich etwa 150000 künstlich
ernährte Kinder an dem Genuß verdorbener Milch sterben, sei nicht richtig.
Die große Sterblichkeit der Säuglinge sei im wesentlichen eine Hochsommer¬
krankheit, die ihren ganz besonderen Gesetzen folge. Trotzdem sei sie
wohl vermeidlich, aber nicht auf dem bisher eingeschlagenen Wege.
Im Jahre 1886 habe man in Dresden Untersuchungen angestellt über
die WohnungsVerhältnisse der Kinder, welche den Sommerdiarrhöen erlegen
seien, und unabhängig davon seien zur selben Zeit in Leicester ganz gleiche
Untersuchungen gemacht worden. Dabei habe sich nun ergeben, daß die
Säuglingssterblichkeit an gewisse Wohnungen gebunden gewesen sei, unab¬
hängig von der gleichen Milchversorgung und Milchbehandlung, daß in ge¬
wissen Wohnungen im Hochsommer klimatische Verhältnisse entstehen, in
denen zweifelsohne der Keim des Verderbens für die Kinder der untersten
Altersklasse liege. Es komme sehr auf die Dichtigkeit der Gebäude und
auf die Durchlüftbarkeit der Wohnungen an. Diese Tatsache sei später von
Prausnitzin Graz und von Engel Bei in Ägypten durch ihre dortigen Unter¬
suchungen bestätigt*worden. Diese Bestätigung durch Engel Bei sei des¬
halb so interessant, weil es sich in Ägypten ausschließlich um Brustkinder
handle, die also ganz den gleichen Gesetzen und Schädlichkeiten des Klimas
unterliegen wie in Deutschland.
Mit den von dem Referenten vorgeschlagenen Mitteln bekämpfe man
nur einen kleinen Teil der Säuglingssterblichkeit, für die größere Zahl müsse
man andere Wege finden, und diese Wege liegen auf dem Gebiet der
Wohnungshygiene, der Baupolizei, der allgemeinen Aufklärung und auch
der Stillungsfrage, denn es sei zweifellos, daß die künstlich ernährten Kinder
außerordentlich benachteiligt seien gegenüber den natürlich genährten Kin¬
dern. Das liege nicht lediglich an der Qualität der Milch, sondern an der
Physiologie der Nahrungsaufnahme der Säuglinge, die durch keine künst¬
liche Ernährungsweise ersetzt werden könne. Deshalb sei die Stillungs¬
frage sehr wichtig, und er stimme dem Referenten durchaus zu, wenn dieser
sage, man könne viel mehr Frauen zum Selbststillen erziehen. Daß die
Frauen zu einem nicht unerheblichen Teil das Stillungsvermögen verloren
haben, daran sei schuld die jahrhundertelange Wirkung der engen Kleidungs¬
stücke, die die Brustdrüsen, den Brustkorb zusammendrücken, und ferner
sei schuld daran der Alkoholismus der Männer, welcher die Verkümmerung
der Milchdrüsen bei den erzeugten Töchtern verschulde. Das seien alles
Zustände, gegen die man ankämpfen müsse.
Sanitätsrat Dr. Ältschul (Prag) fügt einige statistisch-epidemiolo¬
gische Erfahrungen an, die er in seiner Vaterstadt, Prag, gesammelt habe,
and die, wie seine gestrigen Darlegungen, bewiesen, wie reformbedürftig die
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118 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Medizinalstatistik sei. Aus den mitgeteilten Kurven betr. Säuglingssterb¬
lichkeit sehe man das starke Ansteigen der Kurve im Sommer; die Säuglings¬
sterblichkeit sei im Sommer eine ganz enorme. Das sei ein Typus für die
deutschen Städte, nicht aber für Prag, dort habe man keine so kolossale
Kindersterblichkeit. Bei der Säuglingssterblichkeit spiele bekanntlich die
Verdünnung der Milch mit Wasser eine Rolle; in Prag habe man kein gutes
Trinkwasser, die Stadt sei wenig saniert, und doch sei die Säuglingssterb¬
lichkeit eine sehr geringe. Die Ursache sei, daß es in Böhmen Landessitte
sei, die Kinder zu stillen; die künstliche Ernährnng der Säuglinge sei eine
weit geringere als in Deutschland, und daher die geringe Säuglingssterb¬
lichkeit.
Die Säuglingssterblichkeit einer Stadt hänge in erster Linie zusammen
mit der Geburtenhäufigkeit. Prag habe eine sehr hohe Geburtenziffer,
37 Promille, und doch nur eine Säuglingssterblichkeit von 19 bis 20 Proz. aller
Verstorbenen. Das sei eine Tatsache, die bei den schlechten sozialen Ver¬
hältnissen der dortigen Arbeiterbevölkerung und bei den sonstigen wenig
guten hygienischen Verhältnissen der Stadt immerhin auffällig sei, die aber
zum Teil ihre Erklärung darin finde, daß Prag eine große Landesgebär¬
anstalt mit 3000 Geburten im Jahr habe. Diese Anstalt bringe natürlich
die Zahl der Geburten in die Höhe, ohne daß das wirklich die Geburten¬
häufigkeit von Prag bedeute. In Prag seien 47 Proz. aller Geburten un¬
ehelich, aber von den 47 Proz. entfallen 42 Proz. auf die Gebäranstalt. Die
Bevölkerung sei somit eine ganz anständige, die Statistik aber sage, es sei
eine unanständige Bevölkerung. Es beweise dies, daß man bei einer Statistik
der Säuglingssterblichkeit doch Momente berücksichtigen müsse, die man von
den Rohzahlen aus häufig nicht beurteilen könne. Wer in der Lage sei,
Statistik zu treiben und Rohzahlen in die Hand zu bekommen, der werde
einsehen, wie notwendig es sei, eine einheitliche Bearbeitung dieser Roh¬
zahlen zuwege zu bringen, denn aus denselben Rohzahlen könne man oft
ganz verschiedene Verhältniszahlen herausrechnen. Alle Welt baue auf die
Statistik und gewiß mit Recht, Statistik sei nötig, erst durch die Statistik
der großen Säuglingssterblichkeit sei man auf die Milchversorgungsfrage
gekommen. Die Statistik sei älter als die Hygiene, sie sei die Beraterin
der Hygiene gewesen und solle es bleiben. Heutzutage aber sei sie nur eine
Krücke, die zurechtgeschnitten werde, wie man wolle und wie man könne.
Auf die Methode der Statistik komme ungemein viel an, und die Statistik
könne nur eine wahre und echte sein, wenn sie einheitlich geordnet sei.
Man brauche ein anderes Morbiditätsschema und einen ganz anderen Be¬
rechnungsmodus, und auch bei der Statistik der Säuglingssterblichkeit sei
es nötig, auf einheitlicher Basis zu arbeiten. Heute arbeite jede Stadt nach
ihrer eigenen Statistik, und wenn diese Statistiken verglichen werden, komme
man zu falschen Resultaten.
Stadtarzt Direktor Dr. Petruschky (Danzig) teilt mit, daß man
selbstverständlich auch in Danzig sich mit der Frage der Säuglingssterblich¬
keit und der eng damit verbundenen Frage der Milchverderbnis eingehend
beschäftigt habe. Bei den im dortigen Institut vorgenommenen Unter¬
suchungen in betreff der Keimzahl der Milch sei man zu ganz anderen Re-
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 119
sultaten gelangt als der Herr Referent, und zwar deshalb, weil man das ge¬
wöhnlich benutzte Gelatineplatteny erfahren als unzulänglich erkannt habe.
Man habe für die Milch dasselbe Verfahren der Keimbestimmung ange¬
wandt wie das für die Kloakenabwässer der Stadt eingeführte und sei da¬
mit zu dem Ergebnis gekommen, daß die gewöhnliche Verkaufsmüch nicht
etwa weniger, sondern noch sehr viel mehr Bakterienkeime enthalte, wie es bei
den Kloaken wässern der Fall sei. Während das Kloakenabwasser einer
Stadt durchschnittlich zwei bis drei Millionen, also nur wenige Millionen
Bakterienkeime im Kubikzentimeter enthalte, habe man in den untersuchten
Milchproben nicht nur 20 bis 30 Millionen, wie der Herr Referent angegeben
habe, sondern mehrere hundert Millionen im Kubikzentimeter gefunden,
auch selbst in diesem kühlen Sommer. Das Bakterium, welches bei weitem
am häufigsten vorgekommen sei, sei der Streptokokkus, der gerade bei der
Gelatineplattenzählung vollständig entgehe, weil er hier durch andere
Keime überwuchert werde. Es seien also in der Sommermilch immer einige
hundert Millionen Streptokokken pro Kubikmeter enthalten, mehr als in gut
gewachsenen Bouillonkulturen des Streptokokkus, und da der Streptokokkus
zu seiner Entwickelung bekanntlich ziemlich hoher Temperatur bedürfe, so sei
es erklärlich, daß gerade die Sommerwärme es sei, die ihn in der Milch zur
Entwickelung bringe. Auch nach den Beobachtungen in Danzig gehe die
Zahl der an Darmerkrankungen zugrunde gehenden Säuglinge mit der
Sommerwärme auf und nieder, es sei also ganz zweifellos, daß die Einwir¬
kung der Hitze der Hauptfaktor für die sommerliche Säuglingssterblichkeit
sei, und deshalb sei der Kampf mit diesem Faktor, der Kampf gegen die
Milch Verderbnis durch die Hitze, sei es auf dem Wege der Gesetzgebung
oder der Sanitätspolizei, der Stallkontrolle und aller anderen vorgeschlagenen
Maßregeln ein vollkommen verzweifelter und aussichtsloser. Wolle man
die Kühlmaßregeln in einerWeise durchführen, daß sie die Sommerhitze
vollkommen ausschalten, so führe dies zu Milchpreisen, die für das Volk
unerschwinglich seien. Es gebe nur einen Weg, um den Faktor der Hitze
auszuschalten, nämlich die Benutzung von Milchkonserven in der heißen
Jahreszeit. Wie die Hamburger Ausstellung gezeigt habe, gebe es eine
ganze Anzahl solcher Konserven, und er möchte befürworten, einmal den
Versuch im großen zu machen, für die heiße Zeit die gewöhnliche Milch für
die Säuglingsernährung vollständig auszuschalten und dafür die Ernährung
durch Milchkonserven einzuführen, solange die hohe Temperatur anhalte.
Ob er mit diesem Vorschläge recht habe, das könne nur die Zukunft ent¬
scheiden; aber er glaube, sie werde ihm recht geben, daß es besser sei,
Kinder in der Hitzzeit mit guten und billigen Konserven, als mit verdorbener
und dazu teurer Milch zu ernähren.
Aber die Einwirkung der Hitze auf die Milch sei es nicht allein, welche
die Sterblichkeit verursache, sondern auch die Einwirkung der Hitze auf
den Säugling, und namentlich auf den unsauberen Säugling. Es sei
zweifellos, daß zersetzter Urin in sehr viel Fällen eine Quelle von Säug¬
lingserkrankungen werden könne, wenn der Säugling unsauber gehalten
werde, ebenso auch zersetzter Schweiß. In der heißen Jahreszeit sei es un¬
vermeidlich, daß der Säugling stark schwitze, und daß, wenn er nicht mehr¬
mals täglich, vier- bis sechsmal, gewaschen werde, er dann Unreinlich-
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120 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Dresden.
keiten ausgesetzt sei, die auf seine Ernährung ganz unzweifelhaft einwirken
müssen.
Man besitze also auch ohne gesetzliche Maßnahmen zwei sehr einfache
Mittel, um die Sterblichkeit der Säuglinge im Sommer einzuschränken: die
Benutzung von Milchkonserven und Reinlichkeit.
Stadtrat Ffitter (Halle) gibt einige Mitteilungen über die Fürsorge
der Säuglinge in Halle. Hier habe die Sterblichkeit der Säuglinge erheblich
abgenommen, seitdem man im Jahr 1900 die Ziehkinderkontrolle durch be¬
soldete Waisenpflegerinnen und einen besoldeten Ziehkinderarzt eingeführt
habe. Durch diese Maßnahmen seien allerdings nur die Ziehkinder, d. b.
die bei fremden Leuten untergebrachten Kinder berührt, und man habe
deshalb darauf gesonnen, auch diejenigen Kinder zu bedenken, die bei ihren
Müttern seien. Zu diesem Zwecke lasse man die sterilisierte Milch aus den
Molkereien zu einem Preise liefern, der zwei Pfennige billiger sei als bei
der gewöhnlichen Vollmilch.
Die Organisation sei folgende: Die Stadt habe dem Frauenverein für
Armen- und Krankenpflege im vorigen Jahr die Summe von 1000 Mark, in
diesem Jahr 2000 Mark gegeben und ihn ersucht, Milchmarken an die
Mütter der Säuglinge zu verteilen. Diese Milchmarke erhalte die Mutter
in der Apotheke, die Milch selbst hole sie aus Niederlagen, die über die
ganze Stadt verbreitet seien; in einem sehr entfernten Stadtteil fahre ein
Milchwagen herum und gebe dort die Milch gegen die Marken ab. In der
Apotheke werde der Name der Mutter notiert und an den Frauen verein
abgegeben, deren Mitglieder sich zu den betreffenden Müttern begeben, sie
kontrollieren und instruieren über das Wärmen der Milch, über die Rein¬
lichkeit der Sauger u. s. w., die gleichzeitig dafür sorgen, daß das Kind
ordnungsmäßig behandelt und das Zimmer gelüftet werde u. dgl.
Bei der Bestellung der Milch habe sich die bemerkenswerte Tatsache
ergeben, daß, als man in diesem Frühjahr an die Molkerei herangetreten sei,
von der im Sommer vorher die Milch geliefert worden sei, diese sowohl wie
eine andere Konkurrenzmolkerei erklärt habe, so viel sterilisierte Milch
könne sie nicht liefern. Nur durch Heranziehung zweier weiterer aus¬
wärtiger Molkereien habe man dasjenige Quantum sterilisierter Milcb be¬
kommen können, welches notwendig gewesen sei, um die Kinder zu ver¬
sorgen.
Bemerken wolle er noch, daß die Gewährung dieser Milch sich nicht
als Armenunterstützung darstelle, daß also das Bürgerrecht dadurch in
keiner Weise beeinträchtigt werde. Zur Vermeidung jedes Zweifels in
dieser Richtung und weil man glaube, daß es für die Mütter angenehmer
sei, durch einen Frauenverein als durch Organe der Armenverwaltung
instruiert zu werden, habe man die Sache an den Frauenverein abgegeben.
Von diesem erhalte die städtische Behörde die Resultate und Rechnungs¬
legung, nicht aber die Namen der Milchempfänger, so daß eine deminutio
capitis des Wählers gar nicht stattfinden könne.
ProfüSSOr Dr. Wy98 (Zürich) teilt mit, daß man in Zürich seit etwa
30 Jahren bereits das Augenmerk auf die Kindersterblichkeit gerichtet und
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 121
immer danach gestrebt habe, dieselbe herabzumindern und eine bessere
Ernährung der Kinder zu erzielen. Im Jahre 1893 sei die Stadt Zürich mit
ihren Außengemeinden vereinigt worden und habe jetzt 150000 Einwohner.
Seit jener Zeit habe man in Zürich eine städtische Statistik, auch über
die Kindersterblichkeit, und man habe gehofft, es werde diese im Lauf der
Jahre zurückgehen, um so mehr, als ja Zürich durch Kanalisation, Wasserversor¬
gung u a. sehr viel für sanitäre Verbesserungen getan habe. Aber statt
der erhofften Abnahme habe sich in den letzten Jahren eine anfangs
geringe Zunahme der Säuglingssterblichkeit eingestellt, und plötzlich im
Jahre 1898 sei diese auf eine seit langen Jahren nicht vorhandene Höhe
gestiegen. Als Grund habe sich ergeben, daß in der Umgebung von Zürich,
zunächst in der nächsten Nähe, aber zum Teil auch in größerer Entfernung
eine Seuche unter den Milchtieren verbreitet gewesen sei, die trotz mög¬
lichster Bekämpfung seitens der Landwirte doch eine ziemliche Ausdehnung
erreicht habe. Diese gesteigerte Kindersterblichkeit habe sich damals
nirgends anderswo in der Schweiz, nur im Kanton Zürich gezeigt. Außer
in dem Bezirk Zürich, der zunächst die meiste Milch nach Zürich liefere,
habe die Seuche auch in einer Anzahl anderer Bezirke des Kantons Zürich
geherrscht. Es sei ihm gelungen, in 23 von 29 Gruppen von Erkrankungen
der Tiere nach Landesbezirken und Monaten geordnet nachzuweisen, daß
im gleichen Kalenderjahr oder in dem darauf folgenden Jahr eine gesteigerte
Sterblichkeit der Säuglinge vorhanden gewesen sei. Man sei so zu dem
Resultat gekommen, daß die Blasenseuche der Tiere da, wo sie aufgetreten
sei, und besonders in Zürich eine höhere Sterblichkeit der Säuglinge hervor-
gerufen habe, und zwar nicht unmittelbar nach ihrem Auftreten, sondern
erst längere Zeit nachher. Dies erkläre sich daraus, daß die Milch von
blasenseuchekranken Tieren nicht auf den Markt gebracht werden dürfe,
daß dann aber, nach einem halben oder drittel Jahr, wenn die Tiere an¬
scheinend wieder gesund geworden, sie wieder in den Handel gebracht
werde, zu einer Zeit, wenn sie noch nicht wieder völlig normal sei. Aus
dieser Beobachtung resultiere, daß die Erkrankungen der Milcbtiere an
Blasenseuche von großem Einfluß auf die Säuglingssterblichkeit seien.
Deshalb müsse überall, wo Milch als Kindernahrung verwendet werde, die
strenge Vorschrift bestehen, daß Milch von kranken Tieren nicht in den
Handel gebracht werden dürfe, wie es in dem Züricher Kantonalgesetz von
1898 auch vorgeschrieben sei. Auch abgesehen von der Tuberkulose sei es,
wie auch die Mitteilung, die Herr Prof. Fischer vorhin gemacht habe, be¬
stätige, erforderlich, daß Gesetz oder Verordnung es ausspreche, daß der Land¬
wirt kein Recht habe, Milch von kranken Tieren in den Handel zu bringen.
Stadtbezirksarzt Dr. Pötter (Chemnitz) glaubt, daß mit der von
dem Referenten geforderten Lieferung einer einwandfreien Milch noch nicht
viel genützt sei, wenn nicht als weitere Forderung daneben gestellt werde,
daß die einwandfrei gelieferte Milch auch im Haushalt ordnungsmäßig und
sachgemäß behandelt werde. Selbst wenn man sterilisierte Milch liefern
wolle, wie es in Halle geschehe, so sei es auch nicht ausgeschlossen, daß im
Haushalt durch viele unsachgemäße und schlechte Manipulationen auch diese
Milch schlecht werde.
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122 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
In Chemnitz habe man versucht, durch Einwirkung auf die Bevölkerung
und vor allen Dingen auf die Berater der Bevölkerung — das seien mehr
noch als die Ärzte die Hebammen — dahin zu wirken, die Bevölkerung
aufzuklären, wie sie mit der Milch in richtigerWeise umzugehen habe. Bei
der vorgeschriebenen halbjährigen Vorstellung der Hebammen bei dem
Bezirksarzt werde diesen von ihm dringend ans Herz gelegt und zur Pflicht
gemacht alle Vorsichtsmaßregeln, die zur Verbesserung der Ernährung und
vor allen Dingen zur Behandlung der Milch im Haushalt erforderlich seien.
In erster Linie empfehle er den Hebammen, auf das Stillen der Mütter hin¬
zuwirken, und dabei habe er die Erfahrung gemacht, daß es auf diese Weise
gelinge, die Zahl der stillenden Frauen beträchtlich zu erhöhen, so daß das
Vermögen zum Stillen entschieden nicht abgenommen habe; das Nichtstillen
habe meist ganz andere Gründe als das Unvermögen der Brüste: Bequem¬
lichkeit der Frau, Armut, die die Frau nötige, arbeiten zu gehen, wohl
auch Eitelkeit des Mannes, der glaube, die Frau werde durch Stillen an
ihrer Schönheit einbüßen u. dgl. m.
In zweiter Linie habe man dann versucht, durch Einwirkung auf die
gesamte Bevölkerung die Kenntnis über die Behandlung der Milch zu ver¬
mehren, und zu diesem Zweck habe der Stadtrat auf seinen Antrag Be¬
lehrungen herausgegeben, welche Vorschriften enthalten, wie die Milch
zu behandeln sei, und welche auf die Wichtigkeit des Stillens aufmerksam
machen u. a. m. Diese Belehrungen seien an die Ärzte und Hebammen
verteilt und werden bei jeder Meldung einer lebenden Geburt vom Standes¬
beamten den Leuten eingehändigt, und man glaube in Chemnitz auch schon
den Beweis in Händen zu haben, daß sich die Kenntnisse bezüglich der
Behandlung der Milch entschieden gemehrt und verbessert haben.
Eine große Bedeutung für die Kenntnis der Milchernährung und der
richtigen Behandlung der Milch im Haushalte habe auch das Ziehkinder¬
wesen. Es sei in Chemnitz Vorschrift, daß alle Ziehkinder regelmäßig dem
Bezirksarzt vorgestellt werden; es seien etwa 600. Bei dieser Gelegenheit
werde der Ziehmutter eine Vorlesung gehalten, wie sie mit der Milch um¬
zugehen habe. Es sei auffällig, wie gerade durch diese Ziehmütter die
Kenntnis in der Bevölkerung weiter verbreitet werde. Da es es aber von
Wichtigkeit sei, nicht auf einmalige Belehrung sich zu beschränken, sondern
fortwährend die Kenntnis zu ergänzen und neue Anregung zu geben, habe
er jetzt bei der Stadt die Errichtung eines sogenannten Kinderasyls be¬
antragt, wie ein solches in Dresden bestehe, in dem nicht nur kranke Säug¬
linge behandelt werden sollen, sondern das geradezu als Schule diene
zunächst für die Ziehmütter und dann auch weiter für andere Bevölkerungs¬
klassen.
Stadtrat Thiessen (Königsberg) stimmt Herrn Schlossmann bei,
daß die Regelung der Frage und die Beseitigung der Schwierigkeiten, welche
in bezug auf den Milchhandel und den Milchkonsum vorhanden seien, auf
reichsgesetzlichem Wege schwer sein werde. Andererseits sei es aber auch
nicht möglich, daß die Städte allein sich helfen, da die Überwachung der
Milch an den Produktionsstätten von der allerwesentlichsten Bedeutung sei,
und diese Produktionsstätten sich meist nicht innerhalb der Städte, sondern
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. 123
auf*dem Lande befinden, also dem Einfluß der Stadtverwaltung direkt ent¬
zogen seien. Deshalb erstrebe man jetzt in Königsberg für den Regierungs¬
bezirk eine solche Verordnung, welche insbesondere auch scharfe Über¬
wachung der Milchproduktionsstätten bezwecke. Er glaube nicht, daß der
Widerstreit der Interessen zwischen Produzenten und Konsumenten ein so
großer sei. Zu der Gesundheitskommission, in der die Milchfrage beraten
worden sei, habe man einige der bekannten ostpreußischen Agrarier
hinzugezogen, also Produzenten, und habe bei ihnen ein großes Entgegen¬
kommen gefunden. Und in der Tat walte bei einem großen Teil dieser
Gutsbesitzer das Bestreben vor, in bezug auf Sauberkeit und hygienische
Beschaffenheit der Ställe, der Milchproduktionsstätten das Möglichste zu
erreichen zu suchen.
Als er in die Gesundheitskommission eingetreten sei, habe er sich über
die ihm als Jurist ziemlich fern liegende Frage zu orientieren gesucht, was
Milch sei, und dabei habe er die Überzeugung gewonnen, daß Milch das
bei weitem gefährlichste Genußmittel sein müsse, das existiere. Wenn man
nämlich die Hygieniker und Bakteriologen höre, so müsse man als Laie die
Überzeugung gewinnen, daß die Milch vom Euter der Kuh bis zum Munde
des Säuglings mindestens vier- bis fünfmal verderbe und vier- bis fünfmal
hygienisch in einen Zustand gebracht werden müsse, um sie nicht lebens¬
gefährlich wirken zu lassen. Dadurch sei man auch in Königsberg zu der
Meinung gekommen, daß die Belehrung der Mütter und aller deijenigen, welche
mit Säuglingen, insbesondere mit deren Ernährung zu tun haben, durchaus
notwendig sei, und man habe dann einen Weg gewählt, der vielleicht auch
bei anderen Stadtverwaltungen um deswillen eingeschlagen werden könnte,
weil er sich mit sehr geringen Kosten und auf sehr einfache Art hersteilen
lasse. Mit Hilfe des dem Magistrat im Ehrenamt angehörigen Hygienikers
der Universität habe man eine Belehrung ausgearbeitet und diese Belehrung
durch die Standesämter bei der Anzeige einer Geburt verteilen lassen.
Damit glaube man immerhin einen kleinen Schritt vorwärts getan zu haben,
denn es genüge nicht, daß die Milch keimfrei in das Haus geliefert werde,
sondern die Milch verlange eine derartig subtile Behandlung, daß nur eine
ganz spezielle Kenntnis der Art der Behandlung zu einem Resultat führen
könne.
Noch einen Punkt wolle er zum Schluß erwähnen. Die Milch und die
bei der Prüfung und beim Genuß derselben aufgewandte Sorgfalt könne
nicht allein den Grund liefern, die Sterblichkeit der Säuglinge zu heben
oder zu vermindern. Unmittelbar vor den Toren Königsbergs liege ein
kleiner Vorort, der noch zum Stadtbezirk gehöre. In diesem Vorort, in dem
die hygienischen Verhältnisse bei weitem nicht so gute seien als innerhalb
der Stadtenceinte selbst, seien auch Milchproduktionsstätten. Diese Ställe
seien durchaus nicht in so gutem Zustande wie die Ställe auf den großen
Gütern, im Gegenteil, sie seien ziemlich schlecht. Trotzdem sei festgestellt
worden, daß die Kindersterblichkeit gerade in diesem Vorort, in welchem
Milch absolut nicht in hygienisch einwandfreier Weise produziert werde,
eine ganz unverhältnismäßig geringere sei als in der Stadt selbst. Es frage
sich also, ob nicht das sogenannte Stadtgift, das allgemein in großen Städten
als vorhanden bezeichnet werden müsse, eine gewisse Disposition bei den
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124 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. offentL Gesundheitspflege zu Dresden.
Kindern schaffe, welche för sie den Genuß der Milch besonders gefährlich
mache.
Professor Dr. Elsner (Berlin) erwähnt, daß der Referent in seinen
Ausführungen mit Recht das größte Gewicht auf diejenige Milch gelegt
habe, die von auswärts in die Städte geliefert werde, und dann die Ma߬
nahmen angegeben habe, wie diese Milch am Produktionsorte kontrolliert
werden könne, am besten dadurch, daß sich große Genossenschaften bilden
und die Kontrolle von den Regierungsorganen, den zuständigen Kreisärzten
u. s. w. ausgeübt werde. Er wolle aber auf die kleinen Betriebe aufmerksam
machen. In Berlin z. B. habe man 800 Kuhställe in der Stadt, welche mit
einem Durchschnittsbestand von etwa 20 Kühen täglich über 100000 Liter
Milch abgeben. Diese Milch sei gerade bei den kleinen Haushaltungen sehr
beliebt, aber eine dauernde sichere Kontrolle dieser Milch durch die be¬
treffenden Kreisärzte und Kreistierärzte lasse sich nicht wirksam durchführen.
Von diesen 800 Molkereibesitzern in Berlin habe ein großer Teil, etwa 650,
sich zu einem „Verband der Berliner Molkereibesitzer tt zusammengetan, und
dieser Verein habe beschlossen, wesentlich auf Drängen der Ärzte, eine
freiwillige Kontrolle seiner Molkereien durch Ärzte und Tierärzte einzu¬
führen; das sei bei der Menge von kleinen Betrieben wohl auch das einzig
Mögliche.
Außerdem sei es sehr empfehlenswert, wenn nach dem Vorschlag von
Herrn Baginsky in großen Städten sich Vereine bilden, welche sich die
Beschaffung von einwandfreier, billiger Milch angelegen sein lassen, und er
glaube, die hier heute gegebene Anregung werde nicht auf unfruchtbaren
Boden gefallen sein. In Berlin wenigstens werde es nicht lange dauern, bis
derartige Bestrebungen an die Öffentlichkeit gelangen.
Herr J. Lnley (Berlin), Vertreter des Verbandes deutscher Milch¬
händlervereine, will als Milchhändler und gleichzeitig Milchproduzent dem
Gesagten noch einige Worte zufügen. Leider sei es ja nicht möglich, alle
in der Milch Versorgung brennenden Fragen hier zur Erörterung zu bringen,
und er werde sich daher mit einigen kurzen Hinweisungen begnügen
müssen.
Es sei schwer, Kindermilch aus weiteren Entfernungen nach den
Städten zu bringen. Er habe es versucht, Kindermilch auf dem Lande
produzieren zu lassen unter Beobachtung aller amtlichen Vorschriften, um
diese Milch dann in den Verkehr zu bringen. Es sei dies nicht gelungen,
wie bei den meisten ähnlichen Versuchen, weil eine sachgemäße Behandlung
und besonders die nötige Sorgfalt in den Kuhställen auf dem Lande nicht
ausgeübt werde. Das liege daran, daß der Produzent tatsächlich noch gar
nicht die Bedeutung dieses hochwichtigen Nahrungsmittels richtig schätzen
gelernt habe. Komme man aufs Land, an die Hauptprodnktionsstellen, so
werde man immer finden, daß gerade der Milch die geringste Sorgfalt zu¬
gewendet werde. Es sei bereits erwähnt, daß der milchwirtschaftliche
Aufschwung gerade zugunsten der Landwirtschaft sich vollzogen habe,
und in der Tat sei in Gegenden, in denen man früher nicht den sechsten
Teil der Milch produziert habe wie heute, durch den Fortschritt der Milch-
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125
Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch.
technik ein ganz gewaltiger Aufschwung in der Landwirtschaft zu ver¬
zeichnen. Um so mehr müsse der gerügte Mangel Verwunderung erregen.
Bei der Eindermilch komme die Behandlung derselben in allererster
Linie in Betracht. Vorhin sei mit Recht auf die Tiefkühlung hingewiesen
worden. In Berlin, wo der tägliche Milchkonsum sich auf 700000 Liter
belaufe, habe man in den vom Vorredner erwähnten Molkereien von dem
Kühlen der Milch bis jetzt nichts gewußt und nichts gekannt, man habe die
Milch kuhwarm in den Verkehr gebracht, und dadurch sei zweifellos manches
Unheil gestiftet worden. Es sei vorgekommen, daß Milch, die eine Ent¬
fernung von 100 bis 160km zurückgelegt habe, sich einwandfrei gehalten
habe, dagegen die frische Milch, die morgens gemolken worden sei, um
11 Uhr vormittags bereits sauer gewesen sei. Also sei die Tiefkühlung ein
Faktor, auf den besonderes Gewicht zu legen sei. Gleich nach dem Melken
Tiefkühlung, dann möglichst rasche Beförderung an den Konsumenten«
welcher seinerseits auch die sogen. Kühlhygiene anzuwenden habe, um die
gut in die Küche gelieferte Milch dort durch falsche Behandlung nicht zu
verderben.
Fast in allen Städten bestehe die Kalamität der Kindermilchfrage. Ein
richtiger Faktor hierbei seien die Futtermittel. Bedauerlicherweise sei die
Anzahl der zulässigen Futtermittel bei Kindermilch eine allzu eng begrenzte;
einwandfreie und notwendige Futtermittel, die das Tier haben müsse, seien
verboten. Es sei längst bekannt, daß von dem Wohlbefinden des Tieres
auch die Beschaffenheit der Milch abhänge. Wenn ein Tier von der eng¬
begrenzten Zahl von Futtermitteln, die gegenwärtig nur erlaubt seien, tag¬
täglich immer wieder dieselbe Ration bekomme, so verliere es die Freßlust.
Deshalb sei eine neue Regelung, am besten eine reichsgesetzliche, erforder¬
lich. In Hamburg beispielsweise seien getrocknete Rübenschnitzel als Futter¬
mittel für Kindermilchkühe erlaubt, in Berlin seien sie verboten, während
umgekehrt in Hamburg getrocknete Treber verboten, in Berlin erlaubt seien.
Die Wahl der Futtermittel sei aber von besonderem Einfluß auf das Wohl
der Tiere. Man könne der Kuh nicht zumuten, immer dasselbe zu genießen,
sie verlange, genau wie der Mensch, auch einmal eine kleine Abwechselung,
und das sei nach den amtlichen Bestimmungen absolut verboten.
Was nun den Preis der Kindermilch anlange, so sei dies eine schwierige
Frage. Eine Kindermilch, die allen hygienischen Anforderungen entspreche,
zu demselben Preis herzustellen wie eine gewöhnliche Marktmilch, sei un¬
möglich. In Berlin habe man jetzt eine Genossenschaft gegründet, die be¬
müht sei, einwandfreie Milch auf genossenschaftlichem Wege zu einem billigen
Preise — als solchen müsse er 30 Pfennig bezeichnen — an die Konsumenten
und besonders an die ärmeren Bevölkerungsklassen abzugeben; bei Anstalten,
Krippenvereinen, Asylen u. 8. w. ermäßige man den Preis um fünf Pfennige.
Es sei also von seiten der Milchhändler bereits in die Hand genommen, auf
genossenschaftlichem Wege die Kindermilchfrage möglichst zu fördern.
Nach einer kurzen Bemerkung von Prof. B&ginsky, der Herrn Mein er t
gegenüber anführt, daß man nicht als wissenschaftlich feststehend betrachten
dürfe, die Anwendung des Soxhletverfahrene erzeuge Rachitis, und Herrn
Petruschky gegenüber sich gegen die Anwendung von Milchkonserven
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126 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
ausspricht, — wird die Diskussion geschlossen, und es erhält das
Schlußwort
Referent, Professor Dr. Dunbar:
„Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die mir gestellte Aufgabe
war insofern eine sehr undankbare, als ich nicht über Arbeiten berichten
konnte, die sich im Flusse befinden, oder über Erfolge, die erzielt wären,
vielmehr habe ich Ihnen nachweisen müssen, daß eins der wichtigsten Ge¬
biete der Städtehygiene, die städtische Milchversorgung, furchtbar vernach¬
lässigt worden ist. Die auf dem Gebiete der Milchversorgung herrschenden
geradezu unerhörten Zustände habe ich mit rückhaltloser Offenheit ge¬
schildert. Im Anschluß daran habe ich nach verschiedenen Richtungen hin
Forderungen für die gesetzgebenden Körperschaften sowohl, als auch für
die staatlichen und städtischen Aufsichtsbehörden aufgestellt.
„Nun hatte ich erwartet, daß entweder der Versuch gemacht werden
würde, mir nachzuweisen, daß ich die bestehenden Zustände zu schwarz ge¬
schildert hätte, oder daß mir die Unerfüllbarkeit der aufgestellten und als
dringend notwendig bezeichneten Forderungen bewiesen würde. Man kann
sich doch kaum vorstellen, daß die entsetzlichen Zustände, die auf dem Ge¬
biete der städtischen Milchversorgung, namentlich der Säuglingsversorgung,
herrschen, stillschweigend anerkannt und geduldet worden wären, wenn man
zugibt, daß sich eine wesentliche Verbesserung in so leichter Weise erzielen
ließe, wie ich es behauptete.
„Daß die derzeitigen städtischen MilchversorgungsVerhältnisse von mir
zutreffend beurteilt worden sind, wurde in der Diskussion allgemein zu¬
gestanden. Nach dieser Richtung brauche ich meine Reservetruppen also
nicht mehr ins Gefecht zu führen.
„Meine Verbesserungsvorschläge haben dagegen Widersprüche von ver¬
schiedenen Seiten hervorgerufen. Aber auch diese bieten mir ihrer Natur
nach, wie auch nach der Art, wie sie begründet wurden, nur teilweise Anlaß
zu eingehender Widerlegung. Die Diskussion bewegte sich zum großen
Teile auf Gebieten, die mit unserem Thema, wie ich es aufgefaßt habe, nur
in losem Zusammenhänge stehen. Ich möchte auf die zahlreichen erörterten
Nebenfragen schon aus dem Grunde nicht näher eingehen, weil ich be¬
fürchten muß, dadurch den Rahmen des Bildes, das ich Ihnen recht scharf
umschrieben vor Augen zu führen bemüht war, zu sehr zu verwischen. Mir
lag es daran, die Notlage zu schildern, in welcher sich der ärmere Teil der
städtischen Bevölkerung in bezug auf die Kinderernährung, insbesondere die
Säuglingsernährung, befindet, und die Wege und Mittel darzulegen, durch
welche Abhilfe möglich wäre. Aus diesem Grunde möchte ich auf alle die¬
jenigen Fragen, welche sich mit der Beschaffung guter Milch zu Vorzugs¬
preisen befassen, die der ärmeren Bevölkerung niemals allgemein zugänglich
sein wird, jetzt überhaupt nicht eingehen, so sehr mich auch dieser Gegen¬
stand interessiert. Ich wiederhole nur, daß die Bedürfnisse desjenigen Teils
unserer Bevölkerung, der Vorzugspreise bezahlen kann, sich selbst in den
Großstädten zurzeit schon leicht befriedigen lassen.
„Der rote Faden, der sich mehr oder weniger sichtbar durch meine
ganzen gebrachten Darlegungen spinnt, ist die Beweisführung dafür, daß
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Miloh. 127
der derzeitige Stand unserer milchwirtschaftlichen Technik uns gestattet,
auch den Kindern der ärmeren Bevölkerung zu billigen Preisen eine gesund¬
heitlich einwandfreie Mileh zu beschaffen, sofern nur die gesetzgebenden
Körperschaften und die Aufsichtsbehörden, die staatlichen sowohl als auch
die städtischen, ihre Pflichten erfüllen, und sofern seitens der Stadt¬
verwaltungen und aus privaten Kreisen heraus für eine Aufklärung der
Mütter gesorgt wird.
„Ich hatte mich, wie gesagt, auf einen schweren Kampf vorbereitet, um
diese meine Hauptthesen zu vertreten. Ich finde aber, daß ich mein schweres
Geschütz gar nicht ins Gefecht zu führen brauche. Nur an zwei oder drei
Punkten bedarf es desselben, im übrigen wird es sich nur um ein leichtes
Geplänkel handeln. Ehe ich mich diesem zuwende, möchte ich meiner
Freude darüber Ausdruck geben, daß Herr Luley, der als Vertreter des
Verbandes deutscher Milchhändlervereine das Wort ergriff, meine Darlegungen
mit ruhiger Objektivität aufgefaßt hat. Dem von ihm vertretenen Stande
habe ich, sehr zu meinem Bedauern, vorwerfen müssen, daß er die hygie-
nischerseits an ihn gestellten Forderungen fast durchweg nicht zu erfüllen
imstande ist.
„Sodann möchte ich nicht verfehlen, denjenigen Herren, welche sich
schon wie Herr Stadtrat Pütter und Herr Stadtbezirksarzt Dr. Pötter
eifrig mit der Sanierung der Säuglingsmilchversorgung befaßt haben, dafür
zu danken, daß sie es mir nicht übel genommen haben, wenn ich dasjenige,
was auf dem uns heute interessierenden Gebiete in Deutschland bislang ge¬
schehen ist, so gering veranschlagte. Damit wollte ich die Verdienste der¬
jenigen, die sich bislang um die Verbesserung unserer Milchversorgungs¬
verhältnisse bemüht haben, durchaus nicht schmälern, nur wollte ich betonen,
daß das bisher Geleistete in gar keinem Verhältnis stände za der Größe der
Aufgabe, die hier zu lösen ist. Die Zahl deijenigen, die sich mit dieser
wichtigen Aufgabe befassen, erscheint mir noch weit zu gering. Im Zu¬
sammenhänge hiermit möchte ich die Mitteilungen des Herrn Professor
Baginsky, wonach man glauben könnte, daß in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika durch die Tätigkeit eines Vereins schon zufriedenstellende
Zustände auf dem uns interessierenden Gebiete geschaffen wären, dahin be¬
richtigen, daß die von ihm geschilderte Vereinstätigkeit doch noch lange
nicht einen solchen Umfang angenommen hat. Ich glaube, daß wir die ver¬
schiedenen in Deutschland zu verzeichnenden Bestrebungen unterschätzen,
wenn wir annehmen, daß der von Herrn Baginsky erwähnte Verein schon
qualitativ oder quantitativ weit mehr geleistet hätte als die deutschen Vor¬
kämpfer auf diesem Gebiet.
„Es hat mich mit Genugtuung erfüllt, daß ein so erfahrener Sach¬
verständiger, wie Herr Stadtrat T hi essen, mir darin recht gibt, daß die
Stadtverwaltungen allein unmöglich die nötigen Vorkehrungen zur Über¬
wachung der Milch an den Produktionsstellen zu treffen in der Lage seien.
Zwar hält Herr Stadtrat Thiessen eine reichsgesetzliche Regelung dieser
Aufgaben für schwierig. Ich bin aber zufrieden mit der Konstatierung der
Tatsache, daß die Städte sich nicht allein helfen können. Gibt man dieses
zu, so leitet sich daraus die Notwendigkeit einer reichsgesetzlichen Regelung
ohne weiteres ab. Ich habe Ihnen an der Hand der Grunowschen Karten
Digitized by Google
128 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
zeigen können, daß die städtische Milchzufuhr sich nicht an die bundes¬
staatlichen Grenzen hält. Alle Vorschläge zur Verbesserung der derzeitigen
Zustände müssen, wie ich in meinem Vortrage hervorgehoben habe, mit
dieser Tatsache rechnen. Ich gebe gern zu, daß die Stadt Königsberg ohne
ein Reichsgesetz auskommen kann. Sie bezieht ihre ganze Milch aus einem
und demselben Bundesstaat. Nicht so liegen die Verhältnisse für Berlin,
Hamburg, Dresden und andere Großstädte. Daß sich durch Verständigung
mit den Landwirtschaftskammern oder sonstigen zuständigen Instanzen sehr
beachtenswerte Erfolge erzielen lassen, haben wir auch in Hamburg erfahren,
wo im Zusammenhang mit unserer in diesem Jahre stattgehabten hygienischen
Milchausstellung unter Mitwirkung der Landwirtschaftskammer zu Kiel eine
Stallkontrollkommission eingesetzt wurde, deren Tätigkeit sich nicht nur
auf hamburgisches, sondern auch auf preußisches Gebiet erstreckte. Solche
Abmachungen sind aber von dem guten Willen einzelner Personen abhängig,
und wie schwer es hält, auf solchem Wege zu befriedigenden Verhältnissen
zu gelangen, zeigt sich, sobald man den Wunsch ausspricht, eine ständige
Kontrollkommission einzusetzen.
„Widersprüche gegen meine Darlegungen sind nach folgenden Rich¬
tungen laut geworden:
„1. Wurde behauptet, eine gesundheitlich einwandfreie Milch lasse sich
nicht so billig beschaffen, wie ich es angenommen habe.
„2. Wurde die Möglichkeit einer reichsgesetzlichen Regelung des Milch¬
verkehrs bezweifelt.
„3. Meinte man, die große Sterblichkeit, welche unter den künstlich er¬
nährten Säuglingen der ärmeren Bevölkerungsschichten im ganzen Deutschen
Reiche herrscht, sei nicht sowohl auf den Genuß verdorbener Milch zurück¬
zuführen, als vielmehr auf andere schädigende Momente.
„Andere Einwände, die mir gemacht wurden, hängen znm Teil, wie
eingangs erwähnt, mit unserem Hauptthema zu lose zusammen, als daß ich
auf sie eingehen möchte, zum Teil sind sie auf eine mißverständliche Auf¬
fassung meiner Darlegungen zurückzuführen. Ich beschränke mich in fol¬
gendem deshalb auf eine Besprechung der eben bezeichneten drei Gruppen
von Einwänden.
„Nur muß ich Herrn Professor Schlossmann vorher noch folgendes
erwidern: Ihm ist es entgangen, daß ich auf die zurzeit an vielen Orten
im Flusse befindlichen Bestrebungen zur Hebung der natürlichen Ernährung
der Säuglinge hingewiesen und betont habe, daß diese Bestrebungen in
erster Linie zu unterstützen und zu fördern seien. Auf die Frage, ob die
Versuche zur Hebung der natürlichen Ernährung zurzeit schon von statistisch
nachweisbaren Erfolgen gekrönt seien, bin ich gar nicht eingegangen. Ich
habe nur konstatiert, daß die Hälfte bis zu zwei Drittel aller Säuglinge unserer
Großstädte zurzeit nicht an der Mutterbrust, sondern künstlich mit Kuh¬
milch ernährt werden, und ich habe darauf hingewiesen, daß ich, so sehr
ich auch den Bestrebungen zur Hebung der natürlichen Ernährung Erfolg
wünsche, doch nicht glauben kann, daß wir in absehbarer Zeit damit rechnen
können, daß die künstliche Ernährung wieder die Ausnahme bilden wird, wie
es vor einigen Generationen noch der Fall war.
„Von verschiedenen Seiten wurde mir entgegengehalten, eine gute
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Miloh. 129
Säuglings- bzw. Kindermilch lasse sich nicht so billig beschaffen, wie ich es
angenommen hätte. Diese Widersprüche leiten sich, wie ich ans der Art
entnehme, wie sie begründet wurden, alle daher, daß man sich unter Säug¬
lingsmilch ungefähr dasjenige vorstellte, was ich unter dem Namen „ Vorzugs¬
milch“ besprochen habe.
„Ich glaube, Ihnen in überzeugender Weise nachgewiesen zu haben,
daß die größeren Molkereigenossenschaften bei dem derzeitigen Stande der
Technik zu billigen Preisen eine Milch liefern können, welche künstlich ge¬
reinigt , pasteurisiert und gekühlt worden ist. Nach den von mir ein-
gezogenen Erkundigungen sind diese Molkereigenossenschaften zum Teil
froh, wenn sie für ein derartiges Produkt etwa neun Pfennig pro Liter er¬
zielen. Ich stehe nun auf dem Standpunkt, daß wir mit einer solchen
Milch das wichtigste Ziel, welches uns vor Augen schwebt, die Herabsetzung
der Säuglingssterblichkeit, erreichen können, und ich habe deshalb ausdrück¬
lich hervorgehoben, daß man an die für die ärmere Bevölkerung bestimmte
Milch zunächst nicht weitergehende Forderungen stellen sollte. Ich gebe
gern zu, daß es wünschenswert wäre, allen Säuglingen eine Milch zu ver¬
schaffen, die noch weitergehenden Ansprüchen genügt, jedoch mußte ich
mich auf einen praktischen Standpunkt stellen. Ich durfte nicht das Un¬
erreichbare fordern. Solange wir eine Marktmilch zulassen, die nicht als
einwandfreie Säuglingsnahrung angesehen werden kann, und daneben eine
Kindermilch für einen höheren Preis, wird die ärmere Bevölkerung ihren
Säuglingen stets die Marktmilch darreichen. Ihnen wird die sog. Kinder¬
milch nicht zugute kommen. Wir müssen also zunächst anstreben, daß die
Marktmilch den von mir gestellten Forderungen genügt und allgemein ge¬
sundheitlich einwandfrei geliefert wird. Sehen wir aber von einer zu
starken Einschränkung der für die Milchkühe zugelassenen Futtermittel ab,
so kann tatsächlich eine allen gesundheitlichen Forderungen genügende
Milch für den Preis der heutigen Marktmilch geliefert werden. Der Preis
der Marktmilch schwankt ja, wie ich nicht besonders darzulegen brauche,
in verschiedenen Gegenden des Reiches ganz gewaltig, zwischen etwa 14 und
25 Pfennig pro Liter. Eine gesundheitlich einwandfreie Milch läßt sich, wie
ich zugebe, nicht überall für neun Pfennig produzieren. Nach den Aussagen
sachverständiger Produzenten muß ich aber annehmen, daß sich selbst
unter den teuren Produktionsverhältnissen, die in der Umgebung von Ham¬
burg vorliegen, ein Produkt, welches alle die von mir gestellten Forderungen
erfüllt, für etwa 14 bis 16 Pfennig pro Liter herstellen läßt. Da der Preis
unserer Marktmilch oder besser gesagt „Vollmilch“ 25 Pfennig pro Liter
beträgt, so kann der Transport und Vertrieb dieser Milch die ganz unver¬
hältnismäßig hohe Summe von etwa 10 Pfennig pro Liter verschlingen,
ohne daß der Preis der Marktmilch überschritten wird. Ich weiß sehr wohl,
daß die Milch sich nicht unter 30 bis 35 Pfennig, oder gar mehr, pro Liter
produzieren läßt, wenn man als Futter für die Kühe nur Heu, Grumt,
Getreideschrot und Malzkörner zulassen will. Deshalb bin ich, wie ich in
meinem Vortrage betont habe, dafür, daß man auch die Verfütterung an¬
gemessener Mengen von Rüben und anderen einwandfreien billigen Futter¬
mitteln gestattet.
„Der von Herrn Professor Schlossmann angeführte Fall, wonach in
Vierteljabrsschrift für Gesundheitspflege, 1904. 9
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130 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
einer Milchviehhaltung, deren Stallungen weit schöner sind als die Wohnungen,
die wir den unbemittelten Menschenklassen zu bieten vermögen, ein Liter
Milch 25 Pfennig Produktionskosten verursacht, ist wirklich nicht dazu an¬
getan, meine Behauptungen zu entkräften. Ich wundere mich nur, daß
die Milch sich dort nicht noch teurer stellt. Solche Stallungen zu verlangen,
wäre höchst irrationell.
„Ich behaupte also nach wie vor, daß man eine gesundheitlich einwands¬
freie Milch, welche den Forderungen der Hygiene genügt, so billig produ¬
zieren kann, daß sie für den heutigen Preis der Marktmilch verkäuflich ist.
Wer gegen diese meine Behauptung Stellung nehmen will, der muß mir
nachweisen, daß mustergültig betriebene Molkereien einen höheren Preis für
ihre Milch erzielen, oder aber, daß sie, bzw. die Genossenschaftler mit Unter¬
bilanz arbeiten.
„Auch die verschiedenen Bedenken, welche gegen die Möglichkeit einer
reichsgesetzlichen Regelung der Milchverkehrsverhältnisse vorgebracht wur¬
den, kann ich nicht als stichhaltig anerkennen. Ich habe in meinem Vor¬
trage selbst dargelegt, daß es gewisse Punkte gibt, wie z. B. die Anfor¬
derungen an die chemische Zusammensetzung der Milch, die einer reichs¬
gesetzlichen Regelung nicht zugänglich sind. Keiner von den Herren Red¬
nern hat aber den überzeugenden Beweis dafür zu erbringen vermocht, daß
die Fragen allgemein hygienischer Art, welche mit der Aufstellung, Pflege
und Kontrolle des Milchviehs, sowie mit der Behandlung, dem Transport
und dem Verkauf der Milch Zusammenhängen, einer reichsgesetzlichen Re¬
gelung nicht zugänglich wären. Die hierher gehörigen Aussprüche des
Herrn Professor Schlossmann veranlassen mich, meiner Überzeugung
dahin Ausdruck zu verleihen, daß wir unseren gesetzgebenden Körperschaften
und unseren zuständigen Reichsbehörden sehr wohl Zutrauen dürfen, daß
sie imstande sind, ein Gesetz zu entwerfen, welches frei ist von solchen un¬
sinnigen Bestimmungen, wie sie Herr Schlossmann anführte. Ich kann
nur mein Bedauern darüber ausdrücken, daß Herr Schlossmann in die
Erörterung eines so außerordentlich wichtigen Themas so banale Redens¬
arten hineingetragen hat.
„Wende ich mich nunmehr der dritten Gruppe von Ein wänden zu, die
gegen meine Ausführungen erhoben wurden, so hat mir Herr Sänitätsrat
Altschul, der eigentlich das Gegenteil beweisen wollte von dem, was ich
gesagt hatte, durch Mitteilung der in Prag gemachten Erfahrungen meine
Aufgabe ganz außerordentlich erleichtert.
„Es war behauptet worden, die Zahl derjenigen Todesfälle unter den
Säuglingen, welche auf Darreichung verdorbener Kuhmilch zurückzuführen
seien, wäre weit geringer, als ich es angenommen hätte. Andererseita
wurde die Tatsache, daß die Todesfälle unter den künstlich ernährten Säug¬
lingen der ärmeren städtischen Bevölkerung fast ausschließlich die anormal
hohe Säuglingssterblichkeit bedingen, von verschiedenen Rednern zurückge¬
führt auf Sommerwärme, schlechte Wohnungen, auf Unreinlichkeit und an¬
dere Momente. Ich gebe ohne weiteres zu, daß alle diese Umstände an dem
großen Säuglingssterben mit schuld sind. Sie sind aber nur indirekt daran
beteiligt, insofern, als sie zum Verderben der für die Säuglinge bestimmten
Kuhmilch mit beitragen. Wäre diese Auflassung nicht richtig, so müßte ea
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Die gesundheitliche Überwachung des Verkehrs mit Milch. l8l
ja völlig unerklärlich bleiben, daß nicht auch die natürlich ernährten Säug¬
linge der ärmeren Bevölkerung in so großer Zahl zugrunde gehen.
„Herr Sanitätsrat Altschul hat uns erzählt, daß die hohe Sommer-
Sterblichkeit der Säuglinge, welche in anderen Städten die Mehrzahl der
Opfer fordert, in Prag völlig fehle. Nun frage ich mich, ist es in Prag
weniger heiß als in den deutschen Großstädten, sind die Wohnungen in
Frag hygienisch vollkommener als in unseren deutschen Großstädten, ist
die ärmere Bevölkerung in Prag reinlicher als diejenige unserer deutschen
Städte, werden in Prag die Säuglinge der ärmeren Bevölkerung, so wie
Herr Direktor Petruschky es fordert, täglich sechs- bis achtmal gewaschen
oder gebadet? Meine Damen und Herren, alle diese Fragen sind mit
„nein“ zu beantworten. In Prag werden die Säuglinge aber, wie Herr
Altschul uns darlegte, noch fast ausnahmslos an der Mutterbrust ernährt.
Das ist das ausschlaggebende Moment, und darin liegt der Beweis dafür, daß
fast ausschließlich die künstliche Ernährung Schuld trägt an der hohen
Sommersterblichkeit, daß es also, wie meinerseits behauptet wurde, die un¬
zureichende verdorbene Milch ist, welche das Massensterben unter unseren
Säuglingen zurzeit noch verursacht. Daß es nicht die Kuhmilch an und
für sich ist, die so verderblich wirkt, sondern nur die zersetzte Kuhmilch,
das ersehen wir ja daraus, daß in den besser situierten Familien auch die
künstlich ernährten Säuglinge nicht in so unverhältnismäßig großer Zahl
sterben, daß insbesondere die Todesfälle an Magen-Darmkrankheiten bei ihnen
so gut wie gänzlich fehlen, auf welche bei den künstlich ernährten Säug¬
lingen der ärmeren Bevölkerung, wie Sie aus dem aufgehängten Karten¬
material ohne weiteres entnehmen können, die größte Masse der Säuglings¬
todesfälle zurückzuführen ist. Wir können es schließlich daraus entnehmen,
daß auch die künstlich ernährten Säuglinge der ärmeren Bevölkerung am
Leben erhalten blieben, wo immer man ihnen eine sorgfältig präparierte
Kuhmilchnahrung verschaffte.
„Möchten unsere heutigen Verhandlungen dazu beitragen, daß die zu¬
ständigen Behörden und private Vereine zusammentreten Und sich die Auf¬
gabe stellen, unserem Nachwuchs allgemein eine gesundheitlich einwand¬
freie Nahrung zu verschaffen und den Müttern das richtige Verständnis für
die Behandlung der Säuglinge beizubringen.“
Pause von 12 l / 4 bis \2 l / % Uhr.
Nach der Pause stellt der Vorsitzende den vierten Gegenstand der
Tagesordnung zur Verhandlung:
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132 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
Es lauten die von dem Referenten, Geheimen Regierungsrat Dr. Ohl-
mfiller (Berlin), aufgestellten
Leitsätze:
1. Das Ozon wirkt auf Bakterien im Wasser, auch auf Sporen von solchen,
vernichtend unter gewissen Bedingungen.
2. Krankheitserreger, wie die der Cholera, des Typhus und der Ruhr, unter¬
liegen im allgemeinen rascher der Ozon Wirkung als die Wasserbakterien.
3. Die keimtötende Wirkung des Ozons ist von der Menge und Beschaffenheit
der im Wasser befindlichen leblosen, oxydablen Stoffe, der organischen
und anorganischen, abhängig; weniger kommt die Höhe der Keimzahl in
Betracht. Diese Eigenschaften sind bei der Auswahl eines Wassers, dessen
Reinigung durch Ozon beabsichtigt wird, besonders zu berücksichtigen.
4. Sichtbare Schwimmstoffe müssen vor der Ozoneinwirkung durch eine
Schnellfiltration von dem Wasser abgeschieden werden, teils aus ästhetischen
Rücksichten, teils weil die von diesen eingeschlossenen Bakterien der Ozon¬
wirkung schwerer zugänglich sind,
5. Der Konzentrationsgrad der ozonisierten Luft, d. h. deren Gehalt an Ozon,
ist nach der Menge der oxydablen Stoffe des Wassers zu bemessen.
6. Eine zuverlässige Wirkung des Ozons tritt nur dann ein, wenn eine innige
Berührung des Ozons mit dem Wasser gewährleistet ist.
7. Entsprechend der Vergrößerung der Einwirkungsoberfläche und der dadurch
erzielten feineren Verteilung des Wassers daselbst kann nach Umständen
(Menge der oxydablen Stoffe des Wassers) die Ozonkonzentration vermindert
werden.
8. Das gelieferte Ozon wird bei der Wasserreinigung nur zum geringeren Teil
verbraucht. Die Zirkulation der ozonisierten Luft im Apparate ist daher
vorteilhaft; nur ist für Nachschub frischer Luft zu sorgen, um die Ozon¬
konzentration auf bestimmter Höhe zu halten.
9. Vor der Planung einer Ozonwasserreinigungsanlage sind die in Frage
kommenden Eigenschaften des Wassers festzustellen; das Ergebnis ent¬
scheidet über die Zweckmäßigkeit der Anlage und bestimmt die Art der
technischen Einrichtung derselben.
10. Jede fertiggestellte Anlage ist, bevor sie dem Betriebe übergeben wird,
einer Prüfung bezüglich ihrer bakteriologischen, physikalischen und che¬
mischen Wirksamkeit zu unterziehen. Diese ist bei eintretenden Ver¬
änderungen der Beschaffenheit des zu reinigenden Wassers, beispielsweise
bei Vermehrung des Eisengehaltes oder bei zunehmender Verunreinigung,
nach Bedarf zu wiederholen.
Referent, Geh. Regierungsrat Dr. Ohlmiiller:
„Das Ozon ist schon kurz nach seiner Entdeckung durch Schoenbein
1840 Gegenstand eifrigster Forschung gewesen. Es ist hier nicht der Platz,
den langwierigen Streit der zahlreichen chemischen Autoritäten über das
Wesen des Ozons zu entwickeln, ich will nur erwähnen, daß erst 14 Jahre
nach der Entdeckung seine Konstitution als eine allotrope Modifikation des
Sauerstoffs durch Soret 1 ) festgelegt worden ist. Anfänglich beschränkte
*) Comptes rendus LXI, S. 941.
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Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
133
man die Darstellung des Ozons auf den chemischen Weg und den der
Elektrolyse: doch war auch das Vorkommen des Ozons in der atmosphärischen
Luft zu gewissen Zeiten schon Schoenbein bekannt, und es ist von ihm
zum Nachweis desselben ein Ozonometer konstruiert worden.
„Vermöge seiner starken oxydierenden Wirkung erachtete man das
Ozon als einen wesentlichen Faktor zur Reinigung der Luft, zumal Carius *)
nachgewiesen hatte, daß es in der Luft Ammoniak zu salpetriger und
Salpetersäure oxydiert. Damit war auch die erste Veranlassung gegeben,
daß sich die hygienische Wissenschaft eingehend mit dem Ozon befaßte.
Ich darf vor allem an die heute noch mustergültigen Untersuchungen von
Wolffhügel 8 ) erinnern. Durch Verbesserung des Schoenbeinschen
Ozonometers konnte er die Ursachen aufklären, welche den Wechsel der
Ozonmenge in der Atmosphäre bedingen. Die Beobachtung, daß das Ozon
nach Gewittern mit starken Regengüssen mehr vertreten war und länger
anhielt, führte ihn zu der Überzeugung, daß es in der Luft bei Gegenwart
organischer und anderer oxydabler Stoffe rasch zur Oxydation verbraucht
wird. Diese Tatsache bewies er durch das Experiment, indem er nachwies,
daß die Luft an Ozongehalt rasch abnahm, wenn er Straßenstaub auf¬
wirbelte, daß dies aber nicht mehr der Fall war, wenn der Staub vorher
geglüht war. So erklärte er auch seine Beobachtung, daß Ozon in Wohn-
räumen nicht immer aufzufinden war oder in diesen rasch verschwand. Auf
den vielverschlungenen Wegen durch das Mauerwerk und dergleichen (natür¬
liche Ventilation) und in den Räumen selbst fand das Ozon reichlich Ge¬
legenheit zur Oxydation. War die natürliche Ventilation durch starken
Wind, hohe Temperaturdifierenzen begünstigt, waren damit die Verhältnisse
für einen Nachschub günstiger, so war immer der Ozongehalt der Zimmer¬
luft reichlicher und anhaltender.
„Diese Wahrnehmungen Wolffhügels wurden von Fox 8 ) bestätigt,
der fand, daß die Luft beim Durchleiten durch eine lange Glasröhre weniger
an Ozon einbüßt, wenn sie vorher einen Wattepfropfen passiert hat.
„In Laienkreisen ist man auch heute noch vielfach der Ansicht, daß
Ozon besonders heilkräftig sei, wiewohl schon Schoenbein nnd seine Zeit¬
genossen, wieHouzeau, Thenard, Dewar, Kendrick u. a., bereits erkannt
hatten, daß es bei der Einatmung einen starken Reiz auf die Schleimhäute
ausübt und bei kleineren Tieren den Eintritt des Todes im Gefolge hat 4 ).
„Es unterliegt keinem Zweifel, daß das Ozon einen wesentlichen Faktor
zur Reinigung der atmosphärischen Luft darstellt, und von diesem Gesichts¬
punkte aus ist seine Anwesenheit in der Luft von hygienischer Bedeutung;
eine direkte gesundheitsfördernde Wirkung kommt ihm aber nicht zu. Schon
Wolffhügel führte den günstigen Einfluß der ozonreichen See- oder Land¬
luft mehr auf die veränderte Lebensweise zurück. Es will mir jedoch
scheinen, daß das Ozon in der großen Verdünnung, in der wir es in der Luft
atmen, anregend wirkt, ähnlich wie der aromatische, würzige Geruch in den
Tannenwäldern.
*) Mitgeteilt bei En gier, Historisch-kritische Studien über das Ozon, S. 38.
*) Zeitschrift für Biologie, Band XI, S. 422.
s ) Ozone and antozone, 8. 268.
4 ) Mitgeteilt bei En gier, Historisch-kritische Studien über das Ozon, S. 57.
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184 XXVIII. Versammlung d.D. Vereine f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Die hohe Oxydationskraft des Ozons hat auch zu dem Gedanken ge¬
führt, daß seine Anwesenheit in der Luft auf den Verlauf von Epidemieen
von Einfluß sein kann. Von der früheren Voraussetzung ausgehend, daß
gewisse Infektionskrankheiten durch Miasmen ausgelöst werden, nahm man
an, daß diese organischen Stoffe durch das Ozon zerstört werden können.
Die Bestimmungen der Ozon menge der Luft verglichen mit den statistischen
Aufzeichnungen der Erkrankungs- und Todesfälle, speziell bei Cholera, führten
aber zu ganz wechselnden Ergebnissen.
„Inzwischen hatte uns die bakteriologische Wissenschaft gelehrt, daß
die Infektionskrankheiten und auch die Fäulniserscheinungen auf geformte
Elemente, auf Mikroorganismen, zurückzuführen sind. Nunmehr war auch
die Anregung gegeben, die Einwirkung des Ozons auf diese kleinsten, pflanz¬
lichen Lebewesen zu studieren, um so mehr, als Werner von Siemens 1 )
durch die Konstruktion seines Ozonapparates im Jahre 1857 einen Weg zur
bequemen Darstellung des Ozons aus Sauerstoff gezeigt hatte. Versuche in
dieser Richtung liegen vor. So haben beispielsweise Großmann und
Meyerhausen 3 ) mit Heu- und Froschinfusen, Krukowitsch s ) mit
Fäulnisbakterien aus Hühnereiweiß, Szpilmann 4 ) mit anderen Fäulnis¬
bakterien, Sonntag 5 ) und Oberdoerffer 6 ) mit Milzbrandsporen und
-Bazillen, Lukaschewitsch 7 ) mit Kommabazillen, Milzbrandbazillen,
Bacillus subtilis, Labb6 und Oudin 8 ) mit Tuberkelbazillen gearbeitet.
Die Ergebnisse stimmen nicht überein, wohl deshalb, weil die Versuchs¬
bedingungen nicht einheitlich waren.
„Es blieb noch übrig, zu ermitteln, unter welchen Umständen Ozon
auf Bakterien vernichtend wirkt. Die Vornahme solcher Untersuchungen
erschien um so mehr angezeigt, als Frölich und seine Mitarbeiter Erl wein,
Howe und Tietzen-Hennig im Berliner Laboratorium der Firma
Siemens & Halske Apparate gebaut hatten, vermittelst derer durch elek¬
trische Energie aus atmosphärischer Luft Ozon in größerem Maßstabe
hergestellt werden kann 9 ). Damit bestand vor allem die Aussicht, das Ozon
in die Desinfektionspraxis einzuführen.
„Ich hatte im Jahre 1892 im Kaiserlichen Gesundheitsamte Gelegenheit,
mit den Frölich sehen Apparaten Versuche über die Einwirkung des Ozons,
vielmehr der ozonisierten Luft auf Bakterien anzustellen 10 ). Um einen
Einblick zu gewinnen, ob das Ozon zur Desinfektion von Gegenständen oder
Räumen Verwendung Anden kann, wurden Bakterien verschiedener Arten
auf Gewebestoffe, Holz, Glas und andere Materialien aufgebracht und in
feuchtem oder trockenem Zustande wechselnden Konzentrationen ozonisierter
Luft verschiedene Zeiten lang ausgesetzt. Diese Versuche bestätigten die
l ) Poggendorffs Annal. d. Phys. u. Chem. Band CII, 8. 120.
*) Pflügers Archiv für die gesamte Physiologie, Band XV, 8. 265.
8 ) Zeitschrift für Hygiene, Band IX, 8. 92.
4 ) Zeitschrift für physiologische Chemie, Band XIV, 8. 365.
5 ) Zeitschrift für Hygiene, Band VHI, 8. 119.
•) Über die Einwirkung des Ozons auf Bakterien. Inaug.-Dissert. Bonn 1889.
7 ) Zeitschrift für Hygiene, Band IX, 8. 93.
8 ) Comptes rendus CXIII, S. 143 (1891).
9 ) Elektrotechnische Zeitschrift (Zentralblatt für Elektrotechnik) 1891, Heft 26.
10 ) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, Band VIH, 8. 229.
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135
Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
früheren oder stellten sie richtig; sie ergaben, daß das Ozon auf die Bak¬
terien einen schädigenden oder vernichtenden Einfluß ausübt. Jedoch war
der Erfolg nicht so sicher, daß man die Anwendung des Ozons hätte zu
solchem Zwecke empfehlen können. Aussichtsreicher waren die Ergebnisse
bei der Einwirkung des Ozons auf Bakterien, die im Wasser aufgeschwemmt
waren. Wurden Milzbrandsporen und -Bazillen oder Typhusbazillen in
destilliertem und sterilisiertem Wasser aufgeschwemmt und in diese Flüssigkeit
ozonisierte Luft eingeleitet, so trat nach kurzer Zeit eine vollständige Ver¬
nichtung der Mikroorganismen ein; wurde dagegen Kanalwasser, eine
Gartenerdeaufschwemmung oder Spreewasser mit Ozon behandelt, so trat
ein Erfolg in diesem Maße nicht ein *).
„Auf eine größere Widerstandsfähigkeit der Bakterien in diesen
Flüssigkeiten konnte ein solcher Befund nicht allein zurückgeführt werden.
Denn es war nicht anzunehmen, daß die hier vorliegenden Bakterien re-
eistenter waren als die vorher benutzten Milzbrandsporen, welche durch
strömenden Dampf während einer Dauer von sieben Minuten in ihrer
Lebensfähigkeit noch nicht beeinträchtigt wurden. Am ehesten wäre eine
solche Annahme vielleicht noch bei der Gartenerdeaufschwemmung gerecht¬
fertigt gewesen; aber in dieser trat die Vernichtung der Keime früher ein
als in der Kanaljauche. Auch in der Höhe der Keimzahl der drei Flüssig¬
keiten kann die Erklärung der Ursache dieses Ergebnisses nicht liegen;
denn das Spreewasser hatte eine viel höhere Keimzahl als die Gartenerde¬
aufschwemmung, und dennoch wurde bei ersterem nach einem geringeren
Ozonverbrauch Sterilität erzielt. Es blieb somit nur übrig, den verschieden¬
artigen Ausfall der Versuche mit dem Grade der Verunreinigung der an¬
gewandten Flüssigkeiten in Beziehung zu bringen. Von diesem bekommen
wir ein annähernd richtiges Bild durch die Bestimmung der Oxydierbarkeit
solcher Wässer mit Kaliumpermanganat. Tatsächlich verlief nun die Wirkung
des Ozons auf die Bakterien ganz gleichmäßig mit der Höhe der Oxydations¬
größen: sie trat früher und energischer ein bei dem Spreewasser, welches
die niederste Oxydierbarkeit hatte, als bei der Gartenerdeaufschwemmung
und bei dieser wieder entsprechend rascher als bei der Kanal jauche, deren
Oxydationsgröße die höchste war.
„Nun ist bekannt, daß die organischen Stoffe, welchen wir in ver¬
unreinigtem Wasser begegnen, vermöge ihrer verschiedenartigen chemischen
Beschaffenheit ungleichmäßig durch den vom Kaliumpermanganat ab¬
gespaltenen Sauerstoff oxydiert werden. Die Ergebnisse von Oxydierbarkeits¬
bestimmungen sind daher nur relative Größen. Da aber in den erwähnten
Ozon versuchen Wässer verschiedener Herkunft angewendet wurden, so waren
deren Oxydationsgrößen nicht direkt vergleichbar. Es war sonach mit einem
einheitlichen und gleichmäßigen Material noch der Beweis zu erbringen, daß
Höhe der Oxydierbarkeit und Ozon Wirkung von einander abhängig sind; als
solches wurde eine Aufschwemmung von Milzbrandsporen in destilliertem,
sterilisiertem Wasser benutzt, der bestimmte Mengen von Hammelserum in
ansteigendem Maße zugesetzt wurden. In allen Proben nahm sonach die
Oxydationsgröße gleichmäßig zu. Diese Versuche bewiesen in einwandfreier
l ) Ebenda 8. 242 and 245.
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136 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Dresden.
Weise, daß die Ozonwirkung von der Höhe der Oxydierbarkeit abhängig
ist. Hierdurch erklärt sich auch der Befund, den Großmann und Meyer¬
hausen 1 ) bei ihren Versuchen gewannen; sie hatten Heu- und Froschiufuse
im hängenden Tropfen in der Engel mann sehen Kammer mit Ozon be¬
handelt, nach einigen Minuten stellten die Bakterien ihre Beweglichkeit ein;
in der geringen Menge von Flüssigkeit war eben die Menge der organischen
leblosen Masse sehr klein, das angewandte Ozon reichte hin, diese zuerst
zu oxydieren und dann die Bakterien in ihrer Lebensäußerung zu schädigen.
In gleichem Sinne muß auch ein Versuch von Binz 3 ) gedeutet werden.
Binz hatte in etwa 500 ccm defibrinierten Blutes eine Stunde lang ozonisierte
Luft eingeleitet; das Blut veränderte sich in seinem äußeren Ansehen, im
mikroskopischen Bilde und in spektroskopischer Hinsicht keineswegs. Er
schloß hieraus mit Recht, „daß das Ozon sich zuerst an die gelösten, orga¬
nischen Verbindungen des Blutes heranmacht, ehe es die geformten Träger
des Farbstoffes angreift“.
„Nach diesen Versuchen mit Hammelserumverdünnungen, welche noch
bestätigt wurden durch solche, bei denen sterilisierter Kanaljauche in ab¬
nehmender Konzentration Typhus- und Cholerabakterien zugesetzt waren,
konnte ich den Satz aufstellen, daß das Ozon bei der Anwendung auf
Wasser zuerst die leblosen oxydablen Stoffe angreift und erst
dann, wenn dieser Vorgang bis zu einem gewissen Grade ge¬
diehen ist, in kräftiger Weise auf das Leben der Bakterien ver¬
nichtend wirkt.
„Es war sonach nicht daran zu denken, mit Ozon stark verunreinigtes
Wasser, etwa Abwasser, zu sterilisieren, es bot vielmehr die Nutzbarmachung
des Ozons nur da Aussicht auf Erfolg, wo es sich um wenig verunreinigtes
Wasser handelte. Mit dieser Erfahrung war der Weg gezeigt, auf dem es
gelingen würde, im Trinkwasser die Bakterien zu vernichten. Es be¬
durfte nur noch des technischen Ausbaues der Erzeugungs- und Anwendungs¬
art des Ozons, um das Verfahren in die Praxis zu übertragen.
„Diese Anregung fiel auf einen fruchtbaren Boden.
„Tindall war der erste, der, unterstützt von Schneller, im Jahre
1893 in Oudshorn bei Leyden eine größere Versuchsanlage erbaute. Dort¬
selbst wurde Wasser vom „Alten Rheine“ mit Ozon behandelt, van Er-
mengem 3 ) unterzog diese Anlage einer Prüfung und stellte fest, daß ihre
Leistung den Erwartungen vollständig entsprach. Das Wasser enthielt bei
einer Oxydierbarkeit von 2*5 mg (Sauerstoffverbrauch) für das Liter 385 Keime
im Kubikzentimeter; durch die Ozonbehandlung wurde es vollkommen steril.
Eine weitere Anlage erbaute dann Tindall in Blankenberghe. Im Jahre
1895 führte er auf der hygienischen Ausstellung zu Paris einen Apparat
vor, dessen Größe auf die Ozonisierung von 2 cbm Wasser in der Stunde
bemessen war. Das Verfahren fand Anklang; seit 1895 beschäftigten sich
Abraham und Marmier 4 ) eingehend mit dem Ausbau einer zweck¬
entsprechenden Anwendungsart. In dieser Richtung verdienen namentlich
*) A. a. O.
*) Zentralblatt für die med. Wissenschaften 1882, 8. 722.
*) Annales de l’Institut Pasteur 189.% Tome IX, p. 673.
4 ) Bulletin de la soeiätö internationale des 61ectriciens, Tome XVII, p. 414.
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137
Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
auch die Arbeiten von Otto 1 ), Gosselin 9 ), Andreoli 8 ) und Vosmaer 4 )
besondere Erwähnung. Die Apparate von Otto, von Loir und Fern¬
bach 5 ) geprüft, lieferten befriedigende Resultate; ebenso waren die Befunde
mit Apparaten der anderen Autoren günstig.
„Diese Versuchsanlagen waren sämtlich auf praktische Verhältnisse
eingerichtet, und es gebührt ihren Erfindern das Verdienst, zu der Über¬
zeugung von der Brauchbarkeit des Ozons zu dem gedachten Zwecke bei¬
getragen zu haben. So entstand dann auch bald die erste Anlage zur
Reinigung von Trinkwasser für zentrale Versorgung. Im Jahre 1898 er¬
bauten Abraham und M armier im Aufträge der Stadt Lille ein Ozon werk,
um das Quellwasser von Emmerin zu reinigen; dieses war auf eine Leistungs¬
fähigkeit von 35 cbm in der Stunde angelegt. Nach Fertigstellung wurde
das Werk von einer wissenschaftlichen Kommission unter dem Vorsitze von
Calmette 6 ) in bakteriologischer und chemischer Beziehung einer eingehenden
Prüfung unterzogen. Der Keimgehalt des Quellwassers von Emmerin
wechselte bei einer sehr niedrigen Oxydation von 0*8 mg (Sauerstoffverbrauch)
für das Liter zwischen 988 bis 2000 im Kubikzentimeter; nach der Behandlung
mit Ozon waren nur vereinzelte Exemplare des Bacillus subtilis nachzuweisen;
in chemischer und physikalischer Hinsicht erfuhr das Wasser eine Ver¬
besserung. Das Werk ist aus nicht bekannten Gründen zur Zeit nicht mehr in
Betrieb. — Das System Abraham und Marmier war auch auf der Welt¬
ausstellung zu Paris 1900 vorgeführt.
„Eine weitere Anlage wurde in Schiedam bei Rotterdam errichtet;
diese ist nach dem System Vosmaer erbaut und kann stündlich 20cbm
Wasser reinigen.
„Die Firma Siemens & Halske in Berlin, welcher unstreitig das
Verdienst gebührt, das Ozon der technischen Verwertung zugänglich ge¬
macht zu haben, hat sich nach der gegebenen Anregung, Trinkwasser durch
Ozon zu reinigen, angelegentlich mit dem Ausbau von Apparaten befaßt.
Bei solchen Vorversuchen hatte Weyl 7 ) die chemischen und bakteriologischen
Untersuchungen übernommen und stellte ebenfalls eine befriedigende Wirkung
des Ozons fest. Die gesammelten Erfahrungen führten die Firma dann im
Jahre 1901 zur Errichtung einer größeren Versuchsanlage mit einer
Leistungsfähigkeit von 10 cbm in der Stunde an der nordwestlichen Grenze
von Berlin zu Martinikenfelde. In ihrer ganzen inneren Einrichtung war
diese Versuchsanlage auf die praktischen Verhältnisse zugeschnitten, sie
bildete gewissermaßen das Vorbild für zu erbauende Ozon Wasserwerke. Die
*) L’industrie de l’ozone. Extrait des m^moires de la sociätö des ing^nieurs
civils de France (Bulletin de f6vrier 1900).
*) Quelques considerations nur la production de Tozone et son application a
la Sterilisation des eaux.
3 ) Ozone, its commercial production, its application.
4 ) Zeitschrift für Elektrochemie 1902, 8. 504.
*) Epuration et Sterilisation industrielle des eaux par Teiectricite.
•) Rapport sur la Sterilisation industrielle des eaux potables par Tozone
(Procedäs et appareils de Marmier et Abraham). Annales de l’lnstitut Pasteur
1899, Tome XIII, p. 344.
7 ) Schillings Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung 1899, S. 809
und 826, und Zentralblatt für Bakteriologie u. s. w. I. Abteilung, Band XXVI, S. 16.
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188 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
später entstandenen Ozonwasserwerke zu Schierstem bei Wiesbaden und
Paderborn stellen Kopien derselben in größerer Ausmessung dar. Die ge¬
nannte Versuchsanlage wurde zunächst von den Sachverständigen der Firma
selbst in technischer Hinsicht und bezüglich ihrer Wirkung geprüft. Die
gewonnenen Erfahrungen hat Erl wein *) in einer Abhandlung „Trinkwasser¬
reinigung nach dem System Siemens & Halske“ niedergelegt. Später
wurde dieselbe von Prall und mir 2 ) einer Prüfung unterzogen. Die hierbei
gewonnenen Ergebnisse bezüglich der Einwirkung des Ozons auf pathogene
Mikroorganismen sind dann von Schüder und Proskauer 3 ) sowohl be¬
stätigt, wie auch erweitert worden. Auf diese Arbeiten werde ich später
des näheren eingehen.
„Im Jahre 1902 errichteten die Herren Velten in ihrer Brauerei zu
Marseille eine Anlage zur Sterilisierung des Wassers; diese wurde von
Rietsch 4 ) neuerdings geprüft und in ihrer Leistung als gut befunden.
„Zunächst einige Worte über die Darstellung des Ozons aus der atmo¬
sphärischen Luft. Im wesentlichen beruht das Prinzip auf der Herbei¬
führung der sogenannten Glimmentladung, welche durch hochgespannte
elektrische Wechselströme erzeugt wird; streicht Luft durch die Zone der
Glimmentladung, so wird der Sauerstoff derselben in Ozon umgewandelt.
Der Vorgang verläuft energischer, wenn die Luft vorgetrocknet wird. Man
hat dies mittels Durchleiten durch Schwefelsäure oder Chlorcalcium oder
durch Erniedrigung der Temperatur an einer Kälteerzeugungsmaschine be¬
werkstelligt. Für die Praxis ist die Verminderung des Wassergehaltes der
Luft nicht absolut erforderlich.
„Zur Erzielung der Glimmentladung hat sich der
Vorschlag Werner vonSiemens’ der Anwendung eines
Dielektrikums am besten bewährt. Als solches verwandte
Froelich bei seiner Ozonröhre Glas (Fig. 1).
„Zwei Glasröhren sind konzentrisch übereinander
geschoben, so daß sie zwischen sich einen Luftraum von
allseitig gleichem Abstand lassen. Beide Röhren sind oben
miteinander luftdicht verbunden, die innere ist unten
geschlossen, die äußere zu einem oben gebogenen Rohre
ausgezogen und mit einem seitlichen Tubus versehen, so
daß durch den Raum zwischen beiden Röhren Luft hin¬
durchgeleitet werden kann. Der Apparat wird in ein
Gefäß mit Wasser gesetzt, zu welchem der eine Pol
eines Wechselstromes geführt ist; der andere, der Hoch¬
spannungspol, taucht in die mit Wasser gefüllte innere
Röhre. Bei Schließung des elektrischen Stromes findet
in dem Zwischenräume zwischen beiden Röhren eine Glimmentladung statt;
die hindurchgeleitete Luft wird ozonisiert.
*) Schillings Journal für Gasbeleuchtung und Wasserversorgung 1901, 8. 552.
# ) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte Band XVIII, S. 417.
s ) Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten Band XXI, 8. 227.
4 ) Sur l’äpuration bact6rienne de l’eau. Extrait du Marseille-M4dical, 15 Mai
et 15 Juin 1903.
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Reinigung des Triokwassers durch Ozon.
139
„Nach dem gleichen Prinzip ist der für die Praxis bestimmte Apparat
<ler Firma Siemens & Halske gebaut (Fig. 2). Die hierzu verwendeten Ozon¬
röhren haben folgende Konstruktion: Ein hohler Metallzylinder ist in ein
<*lasrohr mit gleichem Luftabstand eingesetzt und nach unten und oben
isoliert. Mehrere solche Röhren sind in einen luftdicht geschlossenen, gu߬
eisernen Kasten eingesetzt und werden durch eine Wasserspülung gekühlt.
Die Luft tritt am oberen Ende des Kastens ein, streicht durch die Ozon¬
röhren hindurch und verläßt in ozonisiertem Zustande den Kasten am
unteren Ende. Um den Apparat ungefährlich gegen Berührung zu
machen, ist der eine Pol des Hochspannungsstromes unter Vermittelung der
Fig. 3.
Eisenteile des Einschlußkastens geerdet, der andere ist isoliert und ver¬
bindet in Parallelschaltung die Metallzylinder der Ozonröhren. Eine in
die Vorderwand des Einschlußkastens eingelassene, starke Spiegelglas¬
scheibe läßt den Vorgang der Glimmentladung jederzeit überblicken. Der
Apparat wird mit einem Wechselströme von 8000 Volt bedient.
„Abraham und Marmier benutzen flache Metallkästen (Fig. 3),
welche von Wasser durchströmt und gekühlt werden. Als Dielektrikum
sind hier Spiegelglasscheiben angewandt, zwischen
welchen die zu ozonisierende Luft hindurchstreicht.
Beide Hochspannungspole werden dem System zu-
geführt. Angewandt werden 20000 bis 40000 Volt.
Die Isolierung des Kühlwassers wird dadurch er¬
reicht, daß dessen Zu- und Abfluß in RegenfäUe
aufgelöst sind.
„Von diesen beiden Apparaten unterscheiden
sich die folgend beschriebenen dadurch, daß bei
ihnen kein Dielektrikum angewandt ist.
„Bei Tindalls Apparat (Fig. 4) sind in einem Kasten parallel an¬
geordnete Metallplatten untergebracht, von welchen die geraden mit einem,
die ungeraden mit dem anderen Hochspannungspol verbunden sind. In
den Stromkreis ist ein Glyzerinwiderstand eingeschaltet. Die zu ozoni¬
sierende Luft tritt am Deckel des Kastens ein, durchstreicht die Räume
zwischen den Metallplatten und tritt am Boden wieder aus. Die Spannung
beträgt 20000 bis 40000 Volt.
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140 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Ottos Apparat (Fig. 5a und b) ist in der Weise gebaut, daß in eine
eiserne Trommel horizontal eine rotierende Achse isoliert und luftdicht ein¬
gesetzt ist, auf welcher parallel angeordnete Aluminiumscheiben angebracht
sind. Jede Scheibe hat an der Peripherie einen schlitzförmigen Ausschnitt,
der jeweils gegen denjenigen der vorhergehenden Scheibe etwas ver-
Fig. 5.
Fig. 6.
mm
Fig. 7.
schoben ist, so daß die Aus¬
schnitte über das Scheiben¬
system in einer Spirallinie
verlaufen. Diese Einrichtung
hat den Zweck, eine etwa
eintretende Funkenbildung
an dem rechteckigen unteren
Ansatz der Trommel (siehe
Fig. 5 b) aufzuheben. Durch
die Trommel wird die zu
ozonisierende Luft geleitet. Der Apparat arbeitet mit einer Spannung
von 10000 bis 15000 Volt.
„Über den Apparat von Vosmaer ist nichts Näheres bekannt ge¬
worden.
„Nun will ich zur Schilderung der Verfahren übergehen, welche man
zur Einwirkung des Ozons auf das Wasser angewendet hat. Diese beruhen
im wesentlichen auf dem Gegenstromsystem.
„Tindall benutzt einen 10 m hohen
Turm (Fig. 6), der durch Siebeinsätze in
\-y Abteilungen zerlegt ist. Durch den Turm
fließt das Wasser von oben nach unten in
einem Regenfall; das Ozon strömt, durch
besondere Öffnungen in den Siebeinsätzen
in Zickzackwege geleitet, in umgekehrter
Richtung.
„Abraham und M armier wenden
ebenfalls einen Turm an, die innere Einrichtung desselben ist
jedoch aus den vorliegenden Beschreibungen nicht zu ersehen.
„Otto benutzt folgende Einrichtung (Fig. 7):
„Das zu reinigende Wasser strömt unter Druck aus
Düsen in einen geschlossenen Behälter und reißt die ozoni¬
sierte Luft mit sich; hierdurch wird schon eine innige Be-
rühru ng zwischen Ozon und Wasser bewerkstelligt. Das Wasser
ergießt sich mittels eines durchlöcherten Rohres in einen
zweiten Behälter, der mit Steinen gefüllt ist. Das im ersten
Behälter nicht verbrauchte Ozon tritt in den zweiten Behälter
I von unten ein und strömt dem an den Steinen herabrieselnden
Wasser entgegen.
„Vosmaer läßt ebenfalls unter Druck das Ozon auf das Wasser ein¬
wirken. In einem 10 m hohen Turm (Fig. 8) fließt das Wasser von oben
zu und unten ab; umgekehrt wird das Ozon am Fuße des Turmes ein¬
geführt und durch einen Trichter nach oben geleitet. Die aufsteigenden
Ozonluftblasen stehen somit unter dem Druck der Wassersäule.
m
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Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
141
„Siemens & Halske benutzen zur Einwirkung des Ozons auf das Wasser
das Gegenstromsystem in folgender Anordnung. Ein oben geschlossener, in
Zementmauerung ausgeführter Turm (Fig. 9) von 4 bis 5 m Höhe taucht,
um einen Wasserabschluß zu erzielen, in ein Bassiu. Derselbe ist zum Teil
mit Steinen von Taubeneigröße gefüllt. Das zu reinigende Wasser tritt
oben in den Turm ein, wird durch eine Brause in Fäden aufgelöst und
rieselt in feiner Verteilung durch die Steinfüllung hindurch. Hier begegnet
es dem ozonhaltigen Luftstrome, welcher von unten in den Turm eintritt
und am oberen Ende entweicht Gegenüber den anderen Systemen ist hier
die vorteilhafte Einrichtung getroffen, daß das nicht verbrauchte Ozon zu
den OzondarstellungBapparaten zurückkehrt und wieder in den Kreislauf
kommt
„Neuerdings hat Otto eine Vorrichtung zur Reinigung des Wassers
mittels Ozon *) angegeben und Siemens & Halske haben den Sterilisierungs¬
raum so angeordnet, daß er zugleich als Filter benutzt werden kann *).
Diese Einrichtungen haben wesent¬
lich nur technisches Interesse.
„Die Firma Siemens & Halske
hatte die Martinikenfelder Versuchs¬
anlage mit den vorher beschriebenen
Apparaten zur Ozondarstellung und
-Anwendung ausgestattet. Vor dem
Eintritt in den Sterilisationsturm
durchlief das W asser ein Kroehnke-
sches Schnellfilter zur Beseitigung
der sichtbaren Schwebestoffe. Zu
den Versuchen, welche Prall und
ich 3 ) an dieser Versuchsanlage aus¬
geführt haben, wurde Spreewasser
oder Mischungen von solchem und
Charlottenburger Leitungswasser
verw4Ud6t;um beliebige Abstufungen
in der Höhe der Oxydierbarkeit
und der Keimzahl zu bekommen.
„Das Wasser wurde vor und nach der Behandlung mit Ozon auf seine
chemischen Eigenschaften untersucht, insoweit diese für diesen Zweck von
Interesse waren: es wurde der Trockenrückstand, die Oxydierbarkeit, Ammo¬
niak, salpetrige Säure und Salpetersäure bestimmt. Im übrigen wurden
die Keime im Wasser gezählt, nachdem es das Kroehnkesche Filter und
den Sterilisationsturm durchlaufen hatte. Zur Kultur derselben wurde so¬
wohl gewöhnliche Nährgelatine verwendet, um die Ergebnisse mit den
anderwärts gewonnenen vergleichen zu können, als auch ein von Prall 4 )
*) D. R.-P. Nr. 138 637, Klasse 85b.
*) D. R.-P. Nr. 134525, Klasse 85 a.
8 ) Vgl. „Die Behandlung des Trinkwassers mit Ozon“. Arbeiten aus dem
Kaiserlichen Gesundheitsamte, Bd. XVIII, 8. 417.
4 ) Vgl. „Beitrag zur Kenntnis der Nährböden für die Bestimmung der Keimzahl
im Wasser“. Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, Bd. XVIII, 8. 436.
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142 xxvm. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
zusammengestellter Nährboden, bestehend aus Gelatine, Agar und Nährstoff
Heyden, welcher durchweg höhere Zahlenwerte lieferte.
„Durch die Behandlung mit Ozon erfahrt die Beschaffenheit dea
Wassers gewisse Veränderungen, welche eine Verbesserung desselben be¬
deuten. Vornehmlich gipfeln diese in der Verminderung des Keim-
gehaltes, doch sind sie auch in chemischer und physikalischer Beziehung
nicht ohne Belang. Um diese letzteren vorweg zu nehmen, so sei bemerkt,,
daß eine Verminderung der gelösten organischen Stoffe eintritt. Nach der
Wirkungsart des Ozons wäre zu erwarten gewesen, daß die anorganischen
Stickstoffverbindungen in die höchste Oxydationsstufe, in Salpetersäure,
übergeführt werden. Es zeigte sich aber, daß das freie Ammoniak in den
Mengen, in denen es hier auftritt, nur schwach oxydiert und das gebundene,
als Chlorid oder Karbonat, gar nicht beeinflußt wird. Anders verhält sich
die salpetrige Säure; diese wird in freier und namentlich stärker in ge¬
bundener Form oxydiert. Nach diesen Befunden und in Rücksicht auf die
Tatsache, daß bei der Ozonisierung der Luft ein Teil des Luftstickstoffes in
Salpetersäure übergeführt wird, ist zu erwarten, daß in gereinigtem Wasser
die Salpetersäure etwas vermehrt wird. Im hygienischen und physio¬
logischen Sinne ist eine solche Veränderung des Wassers völlig belanglos,
sie kann eher zu einer Geschmacksverbesserung beitragen. Um unrichtige
Deutungen auszuschließen, sei ausdrücklich betont, daß bei der Beurteilung:
eines Wassers die Bestimmung der anorganischen Stickstoffverbindungen
lediglich den Zweck hat, aus deren Anwesenheit Schlüsse auf die Art einer
geschehenen Verunreinigung zu ziehen; hier geschah sie nur, um die
Wirkungsweise des Ozons kennen zu lernen.
„Das Ozon zerfällt im Wasser nach sehr kurzer Zeit, spätestens nacb
16 bis 20 Sekunden, in Sauerstoff. Die Anreicherung des Wassers mit
Sauerstoff bedeutet eine Verbesserung. Andererseits ist ein Angriff des Ozons
auf das Rohrleitungsmaterial ausgeschlossen. Sofern die Beschaffenheit des
Wassers eine nachteilige Wirkung durch den freien Sauerstoff auf das
Metall der Leitungsröhren aus Eisen oder Blei befürchten läßt, so kann
dieser durch Entlüftung beseitigt werden, wie dies in der Anlage zu Pader¬
born durch einen Kaskadenfall geschieht.
„In physikalischer Beziehung wurde beobachtet, daß durch die Ein¬
wirkung des Ozons Färbungen des Wassers, welche durch die Gegenwart
von Huminstoffen bedingt sind, vollständig verschwinden. Weiterhin ist
von besonderer Bedeutung, daß durch das Ozon ein fremdartiger Geschmack
und Geruch des WasBers nicht eintritt.
„Fasse ich die chemische Wirkung des Ozons auf die gelösten Bestand¬
teile des Wassers zusammen, so werden hierdurch Veränderungen seiner
Beschaffenheit herbeigeführt, welche Verbesserungen bedeuten, bestehend in
der Verminderung der Oxydierbarkeit, der Vermehrung des freien Sauer¬
stoffes, der Beseitigung von färbenden organischen Stoffen.
„Bedeutungsvoller als die Einwirkung des Ozons auf die gelösten
Stoffe ist die auf die geformten und belebten, auf die Bakterien.
Zu den Versuchen in Martinikenfelde wurde absichtlich ein sehr bakterien¬
reiches Wasser gewählt. Es gelang, den Keimgehalt, der sich in Mittel¬
zahlen von 8900 bis 86800 bewegte, auf 1 bis 32 herabzudrücken.
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Reinigung des Trinkwassers durch Ozon.
143
'Wiederholt blieben einzelne Kultnrplatten vollkommen steril. Die Oxydier¬
barkeit des Wassers schwankte zwischen 4*24 bis 7*12 mg Sauerstoffverbrauch
für das Liter Wasser. Zum Vergleich mit den anderwärts gewonnenen
Ergebnissen können nur die mit der gewöhnlichen Nährgelatine erzielten
Zahlen herangezogen werden; es wurden mit diesem Nährboden vor der
Ozonisierung im Mittel 5700 bis 48000, nach derselben 1 bis 28 Keime im
Kubikzentimeter ermittelt. Das Wasser des „Alten Rheins tt bei Oudshorn
enthielt 385 Keime bei einer Oxydierbarkeit von 2*5 mg, das Quellwasser
von Emmerin 988 bis 2200 bei einer Oxydationsgröße von 0*8 mg. Jn
ersterem wurde vollkommene Sterilität erzielt, in Lille gingen vereinzelte
Exemplare des Bacillus subtilis hindurch. Bei den Versuchen von Rietsch
in der Brauerei zu Marseille wurde die Anzahl der Keime von 339 bis 2214
auf 1 bis 31 herabgemindert. Erwägt man, daß in Oudshorn und Lille
ein wesentlich reineres Wasser angewandt wurde, so sind die in Martiniken-
felde erzielten Ergebnisse vollkommen befriedigend; sie sind dies auch vom
hygienischen Standpunkte aus; denn ein Wasser mit 1 bis 28 Keimen ist
gewiß als einwandfrei zu erachten.
„Bei diesen Versuchen ergab sich wieder im Einklang mit früheren,
daß für die Vernichtung der Bakterien weniger die Höhe der Keimzahl als
die der Oxydierbarkeit bestimmend ist. Außerdem trat klar zutage, daß
das Überleben einzelner Keime auf die Gegenwart resistenterer Formen
zurückzuführen war. Hierin liegt ein qualitativer Unterschied des Ozon¬
verfahrens gegenüber der Sandfiltration; bei letzterer ist die Abscheidung
unbeeinflußt von deren Lebensenergie, bei dem Ozonverfahren unterliegen
zuerst die schwächeren Formen, die stärkeren bleiben nach Umständen am
Leben. Wenn dies auch nur sehr wenige sind, so konnte einen Ausschlag
über die Brauchbarkeit des Ozonverfahrens doch nur eine Untersuchung
über das Verhalten der pathogenen Mikroorganismen geben, die bei der
Wasserversorgung in Frage kommen. Es wurden daher noch Versuche mit
Choleravibrionen und Typhusbazillen angestellt; von ersteren wurden dem
Wasser so viel zugesetzt, daß sich im Kubikzentimeter schätzungsweise 2000
befanden, an Typhusbazillen enthielt 1 ccm rund 17000. Beide Krankheits¬
erreger wurden durch das Ozonverfahren vernichtet. In je 10 Proben von
180 bzw. 100 ccm Wasser konnten mit den üblichen Untersuchungsmethoden
Choleravibrionen und Typhusbazillen nicht mehr ermittelt werden.
„Schüder und Proskauer 1 ) haben in der Versuchsanlage in Marti-
nikenfelde das Verhalten der Cholera- und Typhuserreger nachgeprüft und
weiterhin noch Versuche mit Ruhrbazillen angestellt; sie konnten die Ver¬
suche stärker forcieren, indem sie als Füllung für den Sterilisation sturm eine
kleinere Korngröße anwandten und dadurch die Einwirkung des Ozons
begünstigten. Bei diesen Versuchen befanden sich durchschnittlich
630000 Exemplare der betreffenden pathogenen Mikroorganismen im Kubik¬
zentimeter. Es wurden ferner größere Mengen des ozonisierten Wassers,
mindestens 20 Liter, in Untersuchung genommen. Die Versuche bewiesen,
daß selbst unter diesen Verhältnissen diese Krankheitserreger sicher ver¬
nichtet werden.
*) Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. XLI, 8. 227.
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144 XXVin. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„In gleicherweise prüften Schüder und Proskauer 1 ) das Wies¬
badener Ozonwasserwerk zu Schierstein und verwandten hierbei cholera-
und typhusähnliche Bakterien. Das Ergebnis war das gleiche: eine sichere
Vernichtung dieser Bakterien.
„Nach den Versuchen von Prall und mir, sowie nach denen von
Schüder und Proskauer unterliegt es keinem Zweifel mehr, daß es
mittels des Ozons gelingt, das Wasser in bakteriell einwand¬
freier Weise zu reinigen.
„Es ist das Bedenken erhoben worden, daß der Genuß der abgetöteten
Bakterien nicht gerade appetitlich sei, und daß die Filtration den Vorteil
der Abscheidung der Bakterien für sich habe. Dieses Bedenken läßt sich
durch eine Rechnung zerstreuen. Nimmt man an, daß der Raum eines
Kubikzentimeters mit einer recht kleinen Bakterienart, die nur 0‘4 fl Länge,
Breite und Dicke besitzt, vollständig ausgefüllt sei, so würde man hierzu
15 Billionen und 630 Millionen Exemplare dieser Bakterien brauchen. Die
Trockensubstanz dieser Bakterien zu 20 Proz. genommen, müßten wir, wenn
1 ccm Wasser eine Million solcher Bakterien enthält, ungefähr 80 Liter
Wasser trinken, um 1 cbmm der Trockensubstanz aufzunehmen. Vor dem
Genuß so minimaler Mengen organischer Substanz brauchen wir uns nicht
zu scheuen, selbst wenn sie von Bakterien herrühren. In manchem Wasser,
das wir als rein anerkennen, genießen wir Stoffe in größerer Menge, deren
Herkunft minder appetitlich ist als das Protoplasma von Bakterien.
„Dem ästhetischen Gefühle entspricht es aber, daß sichtbare Schwimm¬
stoffe durch eine Schnellfiltration aus dem Wasser entfernt werden, und
zwar vor der Ozoneinwirkung. Selbst wenn es gelänge, diese Stoffe durch
Ozon vollständig zu oxydieren, so würde doch ein solches Wasser minder
appetitlich erscheinen. Auch aus einem anderen Grunde ist ihre vor¬
herige Beseitigung angezeigt; man kann nicht immer die Gewähr über¬
nehmen, daß die von ihnen eingeschlossenen Bakterien sicher abgetötet
werden.
„Die Wirkung des Ozons ist naturgemäß um so energischer, je höher
der Gehalt der ozonisierten Luft an solchem ist. Es ist jedoch nicht not¬
wendig, den höchsten, erreichbaren Konzentrationsgrad anzustreben, da man
mit einem geringeren den gleichen Erfolg erreicht, und man wird dies auch
mit Rücksicht auf die höheren Kosten vermeiden. In der Martinikenfelder
Anlage wurde mit einem Konzentrationsgrade von 3‘0 bis 5*5 g Ozon in
1 cbm Luft, in Lille mit 5*8 bis 9*5g gearbeitet. Abraham 8 ) hält es für
richtig, nicht unter die Grenzen von 4 bis 5 g herunterzugehen. Dagegen
wurden in dem Wiesbadener Ozonwasserwerk schon mit Konzentrations¬
graden von 1*4 bis 2*3 g 8 ) vollkommen sichere Erfolge erzielt. Der Ozon¬
verbrauch richtet sich allein nach der Menge der oxydablen Stoffe im
Wasser, und hiernach ist die Konzentration auf das richtige Maß einzu¬
stellen, wobei die Bestimmung der Oxydationsgröße des Wassers nach
Kubel-Tiemann leitend ist.
„Für die sichere Wirkung eines Ozonwasserwerkes ist eine unerläßliche
l ) Ebenda, Bd. XLII, S. 293.
*) A. a. O. S. 422.
•) A. a. 0. S. 296.
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Reinigung des Trink wassers durch Ozon. 145
Bedingung, daß das zu reinigende Wasser mit dem Ozon allenthalben in
innige Berührung kommt Es steht mir nicht das Urteil zu, auf welchem
technischen Wege dies in vollkommenster Weise erreicht wird, aus eigener
Erfahrung kenne ich nur das Verfahren, das die Firma Siemens & Halske
angewandt hat, nämlich den mit Steinen gefüllten Sterilisationsturm, in
welchem Wasser und Ozon im Gegenstrome sich bewegen. Die Versuche
von Schüder und Proskauer 1 ) haben gezeigt, daß man dessen Leistungs¬
fähigkeit noch steigern kann, wenn man zu seiner Füllung Steine von
kleinerer Korngröße nimmt. Der Erfolg beruht darauf, daß der Weg des
Wassers länger und dadurch die Einwirkungszeit des Ozons größer wird.
Meine früheren Versuche haben dargetan, daß die Ozonkonzentration um
so höher ist, je langsamer die Luft durch den Ozonapparat hindurchstreicht 2 ).
Läßt man aber die Luft rascher hindurchströmen, so wird allerdings relativ
weniger, absolut aber in der Zeiteinheit mehr Ozon geliefert. Man muß
daher annehmen, daß man mit der Vergrößerung der Verteilungsoberfläche
des Wassers eine Verminderung der Ozonkonzentration — und damit eine
Kostenerniedrigung — eintreten lassen kann. Aber für alle diese Verhält¬
nisse lassen sich keine bestimmten Vorschriften aufstellen; sie müssen von
Fall zu Fall je nach der Beschaffenheit des zu reinigenden Wassers aus¬
probiert werden. Hierbei wird man nicht auf Schwierigkeiten stoßen, da
der Ozonverbrauch bei der Sterilisierung des Wassers ein relativ geringer
ist; der größere Anteil des Ozons verläßt wieder den Sterilisationsturm. Es
wäre unvorteilhaft, dieses ungenutzt entweichen zu lassen. Daher hat man
zweckmäßig die Einrichtung getroffen, daß das aus dem Turm entweichende
Ozon vor dem Luftozonisierungsapparat wieder in den Kreislauf ein-
tritt. Es ist nur hierbei dafür zu sorgen, daß frische Luft in dem Maße
nachströmt, daß die Ozonkonzentration immer auf der bestimmten Höhe
sich hält.
„Es ist bereits erwähnt worden, daß die bakterienvernichtende Wirkung
des Ozons keine uneingeschränkte ist, im wesentlichen hängt der Erfolg von
der Höhe der Oxydierbarkeit des Wassers ab. Es erübrigt nunmehr noch
die Frage, in welchen Fällen die Errichtung einer Ozonwasserreinigungs-
anlage angezeigt ist. Im allgemeinen sei bemerkt, daß sich hierfür sowohl
Oberflächenwasser, wie auch Grundwasser eignet. Wie bei jeder zentralen
Versorgung, so wird man vor allem auch hier darauf bedacht sein, daß das
Wasser aus ästhetischen Rücksichten nicht zu beanstanden ist. Grund- und
Quellwasser, das aus zerklüftetem Gelände oder aus schotterigem Alluvialboden
von Flüssen stammt und daher infolge mangelhafter ßodenfiltration dauernd
oder vorübergehend einen hohen Bakteriengehalt aufweist, ist für die Ozon¬
behandlung besonders geeignet. Enthält solches Wasser keine trübenden
Bestandteile, so kann die Vorflltration durch Schnellfllter entbehrt werden.
Bei Oberflächen wasser jedoch wird sie nicht zu umgehen sein. Es kann
eingewendet werden, daß dann mit der Ozonbehandlung des Wassers nicht
viel gewonnen ist, weil man ihr eine Vorfiltration vorausschicken muß und
diese so einrichten kann, daß das Wasser auch hierdurch schon den hygie-
*) A. a. O.
*) Arbeiten aus dem Kaiserlichen Gesundheitsamte, Bd. VIII, 8. 283.
Viert« lj&hxsichrift fftr Geaundheitapflege, 1904. jq
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146 XXVIII. Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
nischen Ansprüchen gerecht wird. Dem ist nicht so. Diese Vorfiltration
bezweckt lediglich die Beseitigung der trübenden Stoffe und erfordert eben¬
so, wie die bei Enteisenungsanlagen zur Abscheidung des Eisenoxydhydrates
weniger Sorgfalt und Beaufsichtigung und auch Kosten als die Sandfiltration.
Gegenüber dem letzteren Verfahren hat die Reinigung des Trinkwassers
mittels Ozon einen besonderen Vorteil voraus: Jedes Sandfilter muß sich
erst einarbeiten, ehe es einwandfreies Wasser liefert, es bedarf der sorg¬
fältigen Behandlung und dauernden bakteriologischen Kontrolle, um den
Zeitpunkt zu ermitteln, wo seine Leistungsfähigkeit abnimmt. Das Ozon¬
wasserwerk dagegen liefert von Anfang seines Betriebes an dauernd ein
einwandfreies Wasser. Die Erfahrung von Jahrzehnten hat uns allerdings
gelehrt, daß die zentrale Sandfiltration bei regelrechter Bedienung ein
Wasser liefert, bei dem wir eine Infektionsgefahr nicht zu fürchten brauchen;
immerhin haben C. Frankel und G. Piefke 1 ) den Beweis erbracht, daß
pathogene Mikroorganismen nach Umständen durch die Filter hindurch¬
treten. Ich bin weit entfernt, hieraus eine Minderwertigkeit des Sand¬
filtrationsverfahrens ableiten zu wollen; aber vor diesem hat die Ozonbehand¬
lung doch voraus, daß die pathogenen Bakterien sicher vernichtet werden,
weil sie erfahrungsgemäß gegen Ozon weniger widerstandsfähig sind als die
Wasserbakterien. Daher ist das Ozonverfahren besonders angezeigt bei
einem Wasser, das im Verdacht steht, die Erreger von Typhus, Cholera und
Ruhr aufgenommen zu haben. In Fällen, wo die Entstehung solcher Epide¬
mien auf das Trinkwasser zurückzuführen ist, wird dessen Reinigung mittels
Ozon von Vorteil sein.
„Je nach der Höhe der Oxydierbarkeit des Wassers ist die Ozonkonzen¬
tration zu bemessen. Im allgemeinen ist diese in Wässern, die sich zum
Trinken eignen, nicht so hoch, daß der eigentliche Zweck der Ozonanwendung,
die Vernichtung der Bakterien, vereitelt würde. Wässer, die reich an Humin-
stoffen sind, bedingen einen höheren Ozonverbrauch; sie werden dabei aller¬
dings außer der Bakterien Vernichtung noch weiterhin verbessert, indem die
färbenden Substanzen gebleicht werden und verschwinden. Aber solche
Wässer wird man nur zur Versorgung heranziehen, wo die Not dazu zwingt.
Lästig für die Ozonbehandlung sind Eisenoxydulverbindungen; das Ozon
wirkt auf diese oxydierend ein, und das Wasser trübt sich mehr oder minder
je nach der Gegenwart des Eisenoxydhydrates. Solche Wässer müssen
vorher durch ein Enteisenungsverfahren vorbehandelt werden. Man kann
aber auch das Ausfallen des Eisens durch die Einwirkung des Ozons bewerk¬
stelligen, und dies wird namentlich dann angezeigt sein, wenn der störende
Eisengehalt durch eine einfache Durchlüftung des Wassers nicht vollkommen
beseitigt werden kann. Der Zweck der Ozonanwendung ist jedenfalls die
Enteisenung nicht, diese erreichen wir durch die bekannten, üblichen
Verfahren billiger; in Ausnahmefällen kann daran gedacht werden, das
Ozon hierzu anzuwenden, dann ist aber eine solche Anlage besonders ein¬
zurichten.
„Wenn die Errichtung eines Ozon Wasserwerkes geplant ist, so wird
man sich zunächst an der Hand einer gründlichen chemischen und bakterio-
l ) Zeitschr. f. Hygiene und Infektionskrankheiten, Bd. VIII, S. 30;
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Reinigung des Trinkwassers durch Ozon. 147
logischen Untersuchung des Wassers unter Berücksichtigung der örtlichen
Verhältnisse über die Beschaffenheit des Wassers informieren. Nach der
Höhe der Oxydierbarkeit läßt sich einschätzen, ob eine hohe oder eine nie¬
drige Ozonkonzentration angewandt werden muß; bestimmte Grenzzahlen
werden sich dafür nicht aufstellen lassen, da die Zusammensetzung der
oxydablen Stoffe des Wassers wechselnd ist. Doch genügt schon ein solcher
Anhaltspunkt zur Bemessung der Ozonerzeugungsapparate. Ebenso wichtig
wie die Höhe der Ozonkonzentration sind die Einrichtungen, welche eine
innige Berührung des Wassers mit dem Ozon gewährleisten. Bei höherer
Oxydationsgröße und namentlich dann, wenn es sich um die Vernichtung
pathogener Mikroorganismen handelt, ist vorsichtshalber eine längere Durch¬
laufzeit angezeigt.
„Es kann hier nur von Fall zu Fall entschieden werden. Daher darf
kein Ozonwasserwerk dem Betriebe übergeben werden, ehe dessen zu¬
verlässige Wirksamkeit durch eine Prüfung festgestellt ist.
Hierzu ist der Nachweis der Verminderung der Anzahl der Wasserbakterien
bis auf einige wenige ausreichend. Da erfahrungsgemäß die pathogenen
Mikroorganismen früher zugrunde gehen als jene, so kann der Zusatz von
solchen zu dem zu reinigenden Wasser zum Zwecke der Prüfung der An¬
lage entbehrt werden. Die Oxydationsgröße wird sich mehr oder minder
verringern, und man wird sioh noch zu überzeugen haben, ob nicht durch
nachträgliche Eisenabscheidung eine Trübung des Wassers eintritt.
„Wenn ein Ozonwasserwerk auf Grund des bakteriellen Befundes auf
seine beste Leistungsfähigkeit eingestellt ist, so arbeitet es zuverlässig weiter,
solange die Beschaffenheit des zu reinigenden Wassers sich nicht wesent¬
lich ändert Tritt beispielsweise bei Grundwasser eine Vermehrung der
Eisenoxydulverbindungen auf, oder besteht bei Oberffächenwasser der Ver¬
dacht zunehmender Verunreinigung, so wird man sich von der Leistungs¬
fähigkeit der Anlage wieder zu überzeugen haben. Im übrigen bedarf das
Ozonwasserwerk, dessen maschineller Betrieb einfach ist, keiner Kontrolle.
Störungen können durch Versagen des elektrischen Stromes oder durch Aus¬
bleiben der zu ozonisierenden Luft eintreten. Für beide Fälle sind von
dem Ingenieur Friberg der Firma Siemens & Halske selbsttätige Apparate
ersonnen worden, welche die Störung anzeigen und sofort den Zufluß
zu den Sterilisationsapparaten abschließen, so daß aus dem Wasserwerke
kein Wasser fließen kann, das nicht unter der Einwirkung des Ozons ge¬
standen hat.
„Je nach der Höhe der Kosten, welche für die Beschaffung der elek¬
trischen Energie erforderlich sind, stellt sich der Preis für die Reinigung
von 1 cbm Wasser durch Ozon auf 0’7 bis 1*0 Pfennig.
„Wenn ich zum Schluß meine Ansicht über die Trinkwasserreinigung
durch Ozon zusammenfasse, so geht diese dahin, daß dieses Verfahren, in
richtiger Ausführung in geeigneten Fällen angewandt, vollständig den
hygienischen Anforderungen entspricht und in finanzieller Beziehung durch¬
führbar ist.“
10 *
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148 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zn Dresden.
Hierauf eröffnet der Vorsitzende die Diskussion.
Geh. Medizinalrat Professor Dr. Löffler (Greifswald) ist der
Ansicht, das die Ozonisierung des Wassers künftighin eine ganz hervorragende
Stelle in der Beschaffung einwandfreien Trinkwassers einnehmen werde.
Eine ganze Reihe von Städten sei gezwungen, Oberflächenwasser für ihren
Bedarf zu nehmen oder auch Wasser aus dem Untergrund, welches dem
Oberflächenwasser gleich zu achten sei; solche Wässer finde man namentlich
da, wo der Untergrund der Ealkformation angehöre, weil hier häufig Risse
und Spalten vorhanden seien, durch welche Wasser von der Oberfläche aus
direkt in den Untergrnndwasserstrom ein dringe, wie dies z. B. in Paris und
in Paderborn der Fall sei. Man habe alle möglichen Maßnahmen getroffen,
um Schaden abzuwenden, welcher durch diese unreinen und nicht gewollten
Zuflüsse von der Oberfläche her entstehen könne. In Paris z. B. nehme
man eine sorgfältige bakteriologische Untersuchung des Wassers bei seinem
Eintritt in Paris vor, um dadurch festzustellen, wenn in irgend einem Be¬
reiche des Versorgungsgebiets eine Verunreinigung des öffentlichen Ober¬
flächenwassers stattgefunden habe. Nach den vorliegenden Angaben solle
diese bakteriologische Untersuchung gut funktionieren, es sollen durch die¬
selbe die Typbusinfektionen von Paris ferngehalten werden. Indes die
Sache sei doch sehr unsicher. Jede Wasserleitung, die zeitweiliger Verun¬
reinigung ausgesetzt sein könne, sei und bleibe eine wahre Crux für die
Bevölkerung und auch für die Betriebsleiter. Es sei notwendig, daß man
sich gegen alle die Gefahren sichere, welche aus solchen Wässern erwachsen
können. Und da scheine in der Tat das Ozon berufen, endgültig Wandel
zu schaffen, um die sonst ausgezeichneten Wassermassen, die das betreffende
Terrain liefere, für den Betrieb sicher und zuverlässig zu gestalten.
Es sei die Frage aufgeworfen worden, ob Wasser, welches ozonisiert
sei, für den Gebrauch irgend welchen Schaden haben könne, und die Frage
sei auch auf dem internationalen hygienischen Kongress in Paris erörtert
worden. Damals habe Professor Calmette ausgeführt, daß er und seine
Familie und sein ganzes Institut jahraus jahrein von diesem ozonisierten
Wasser trinken, und daß niemals jemand irgend welche Störungen empfun¬
den habe. Es gehe ja auch das Ozon sehr schnell in Sauerstoff über, und
etwas mehr Sauerstoff im Wasser könne gewiß nicht schaden.
Aber noch einen Punkt von Wichtigkeit wolle er erwähnen. Wenn die
Beschaffenheit des Wassers sich ändere, wie dies bei den angeführten
Wässern aus der Kalkformation nach Regengüssen ja häufig der Fall sei,
dann müsse natürlich auch eine Änderung in der Ozonisierung, in der zu¬
geführten Ozonmenge eintreten. Man werde daher auch bei den Ozon¬
werken sich nicht einfach der Ruhe hingeben können, nachdem die ersten
Prüfungen gemacht seien und der Betrieb danach geregelt sei, sondern man
werde gehörig aufpassen müssen, ob solche Änderungen des Wassers ein¬
treten, um dann sofort diesen Änderungen die Ozonisierung anzupassen.
Der Herr Referent habe zwar angeführt, daß immerhin erhebliche Schwan¬
kungen stattfinden können, wenn man von vornherein die dem Wasser zu¬
geführte Ozonmenge reichlich bemesse. Man werde aber doch wohl erst
weitere Erfahrungen über die Anpassungsfähigkeit der Ozonwerke an quali-
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Reinigung des Tränkwassers durch Ozon. 149
•
t&tive Änderungen des za reinigenden Wassers ab warten müssen, ehe man
nach dieser Richtung hin ein Urteil abgeben könne. Der beregte Punkt
sei ohne Zweifel von hervorragender Bedeutung für die ganze Zukunft der
Wasserreinigung mittels Ozon.
Professor Dr. Heyer (Dessau) erbittet sich von dem Referenten eine
Auskunft Derselbe habe erwähnt, daß die Bedenken, die darüber geäußert
worden seien, daß das durch Ozon sterilisierte Wasser gegen Metalle, ins¬
besondere gegen Eisen- und Bleiröhren angreifend wirken könne, in Pader¬
born dadurch beseitigt worden seien, daß man das Wasser Kaskaden passieren
lasse. Er möchte nun erfahren, ob man nachher praktische Versuche
angestellt und nachgewiesen habe, daß das Wasser, welches die Kaskaden
passiert habe, auf Blei und Eisen nicht mehr angreifend wirke. Eis sei doch
denkbar, daß bei der Ozonisierung eine erhebliche Menge Sauerstoff im
Wasser zurückbleibe, und diese durch die Kaskadenrieselung eher vermehrt
als vermindert werde. Er könne dem Vorredner nicht zustimmen, daß der
Sauerstoff in allen Fällen gleichgültig sei, und es sei erwiesen, daß s. B.
bei der Berieselung zum Zwecke der Enteisenung eine erhebliche Menge
Sauerstoff in das Wasser hineingeleitet werde. Auch könne man der Mei¬
nung sein, daß durch die Oxydation, die durch das Ozon eintrete, aus orga¬
nischen Verbindungen Kohlensäure oder auch andere organische Säuren
entstehen, und daß infolgedessen ein Wasser resultiere, welches stark auf Blei
und Elisen einwirke, indem es entweder Blei in Lösung aufnehme oder korro¬
dierend auf Eisenteile einwirke, was ja allerdings mittels seiner bereits
vielfach in Betrieb befindlichen Methoden wieder zu beseitigen sein würde.
Hiermit ist die Diskussion geschlossen, und es erhält das Schlu߬
wort
Referent, Geh. Regierungsrat Dr. OhlmQUer : „Zunächst darf ich
meinem Dank Ausdruck verleihen, daß dieser Vortrag nach der Frühstücks¬
pause noch eine so zahlreiche Zuhörerschaft festhalten konnte.
„Was nun die Anwendung des Ozons auf bestimmte Wasserarten be¬
trifft, so meine ich bereits angedeutet zu haben, daß das Grundwasser, das
wir früher als ganz harmlos durchweg anzusehen gewohnt waren, manchmal
doch nicht ganz einwandfrei ist. Es kommt ganz auf die geologische Kon¬
struktion des betreffenden Niederschlagsgebietes an, aus dem die Grund¬
wasser kommen, und nach der Art richtet sich nicht allein die chemische
Beschaffenheit, sondern auch die bakteriologische. In der norddeutschen
Tiefebene, wo allenthalben ein so vorzüglich filtrierender Sand ist, werden
wir wohl selten einem Grundwasser begegnen, das vorübergehend oder
dauernd bakterienreich ist. Anders ist es aber mit dem Grundwasser, das
in gebirgigen und zerklüfteten Gebieten entsteht. Wenn beispielsweise eine
Verwerfungsspalte von grobem Schotter ausgefüllt ist, so wechselt oft die
Beschaffenheit des Wassers, sie richtet sich ganz und gar nach der Menge
der Niederschläge. Ja, es sind nicht allein kolossale Mengen von Bak¬
terien, die abgeschwemmt werden, sondern nach Umständen auch trübende
Substanzen, die glücklicherweise uns anzeigen, daß das Wasser nicht ein-
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150
XXVIII. Versammlung des Deutschen Vereins
wandfrei ist. Man muH in der allgemeinen Beurteilung solcher Wässer aus
der Besichtigung der örtlichen Verhältnisse sehr vorsichtig sein.
„Es ist mir ein Fall bekannt, wo drei Quellen nebeneinander flössen in
der Entfernung von ungefähr 70 Meter, und diese Quellen hatten chemisch
und bakteriologisch ganz verschiedenes Wasser. Man konnte förmlich aus
der Menge des Kalkes den Weg ableiten, den das Wasser macht, bzw.
dessen Länge bemessen. Das kalkreichste Wasser war aus der Quelle ent¬
sprungen, welche am längsten im Sommer anhielt, also das größte Nieder¬
schlagsgebiet hatte und auch den größten Wasservorrat. Solche Verhält¬
nisse sind oft sehr verwickelt, aber sie sind gerade die dankbarsten, sie sind
das gefundene Gebiet für die Reinigung des Trinkwassers durch Ozon, und
ähnlich sind auch diejenigen Fälle, in denen es sich um Wasser im Alluvium
von Flüssen handelt.
„Was nun weiterhin die Anregung betrifft, die Herr Professor Hey er
gegeben hat, so stehe ich auf dem Standpunkt — und der ist ja nicht
neu —, daß die Lösung von Metallen im Wasser eigentlich immer vor sich
geht. Das Wasser löst jedes Metall mehr oder weniger. Aber wenn wir
dem Lösungsprozeß etwas näher gehen, so tritt er meist in der Weise ein,
daß zunächst der Sauerstoff Oxyde des betreffenden Metalls bildet, daß
weiterhin die freie Kohlensäure es unter Umständen durch Bildung von
Karbonat in Lösung bringt. Es ist angestrebt worden bei dem Wasserwerk
in Paderborn, durch einen Kaskadenfall den Sauerstoff herauszubringen bis
zu einem gewissen Teil. Das gelingt auch, denn wenn das Wasser mit der
Luft in Berührung kommt und, ich will einmal annehmen, mit Sauerstoff
Tollständig gesättigt ist, so ist der Partialdruck des Sauerstoffs im Wasser
ein so erheblicher, daß ein rascher Austausch stattflndet. Dadurch wird
schon etwas gewonnen. Im übrigen ist mir aber nicht bekannt, daß durch
die Anwendung des Ozons in Paderborn wie auch anderswo Nachteile be¬
züglich der Einwirkung des freigewordenen Sauerstoffs auf das Rohrmaterial
eingetreten sind. u
Vorsitzender, Geh« B&nr&t Stübben: „Damit ist w.ohl dieser
Gegenstand erledigt, und wir haben Herrn Geheimrat Dr. Ohlmüller für
die große Liebenswürdigkeit und die lehrreiche Art, wie er dem Wunsche
des Ausschusses entsprechend sich dieser Mühewaltung unterzogen hat,
unseren herzlichsten Dank zu sagen. u
Schluß gegen 2 Uhr.
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für öffentliche Gesundheitspflege zu Dresden.
151
Dritte Sitzung.
Freitag, den 18. September, vormittags 9 Uhr.
Vorsitzender, Geheimerat Stübben, eröffnet die Versammlung,
begrüßt den anwesenden Staatsminister, Se. Exzellenz Herrn Ton Met sch,
and gibt einige geschäftliche Mitteilungen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung erfolgte sodann zunächst gemäß § 7
der Satzungen die
Neuwahl des Ausschusses.
Auf Antrag des Herrn Obermedizinalrat Dr. N i e d n e r (Dresden),
welcher vorschlug, drei der austretenden Herren, die erst ein Jahr dem
Ausschuß angehören, wieder zu wählen und für die anderen Herren, die
dem Ausschuß bereits zwei Jahre angehört haben, drei neue Mitglieder zu
wählen, erfolgte die Wahl, da von keiner Seite Widerspruch erhoben wird,
mittels Zuruf.
Es wurden gewählt die Herren:
Oberbaurat Professor Baumeister (Karlsruhe),
Oberbürgermeister Beck (Chemnitz),
Oberbürgermeister Fuß (Kiel),
Geh. Hofrat Professor Dr. Gärtner (Jena),
Geh. Medizinalrat Dr. Roth (Potsdam),
Geh. Baurat Stübben (Köln),
welche in Gemeinschaft mit dem ständigen Sekretär,
Geh. Sanitätsrat Dr. Spieß (Frankfurt a. M.)
den Ausschuß für das Geschäftsjahr 1903/1904 bilden.
(Nach Schluß der Sitzung wählte der Ausschuß gemäß § 7, Ab¬
satz 3 der Satzungen Herrn Oberbürgermeister Fuß zum Vorsitzen¬
den für das nächste Jahr.)
Der Vorsitzende, Geheimerat Stübben, übergibt hierauf den
Vorsitz an den stellvertretenden Vorsitzenden Geh. Medizinalrat Pro¬
fessor Dr. Löffler.
Vorsitzender, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Löffler stellt hier¬
auf den letzten Gegenstand der Tagesordnung zur Verhandlung:
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152 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen
Gesundheitspflege.
Es lautendievoudenReferenten Geh.BegiernngsratDr.Sampelt
(Dresden) und Geh. Baurat Stübben (Köln) aufgestellten
Leitsätze:
1. Bedeutung der gesundheitlichen Forderungen. Bei allen Bauten
sind die Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege, deren Wichtigkeit
namentlich auch in sozialer Hinsicht anzuerkennen ist, in erster Reihe mit zu
berücksichtigen.
Diese Anforderungen sind teils zwingender Natur, teils bezeichnen sie nur
das Wünschenswerte. Auch sind viele derselben dem Grade nach abhängig von
den Verhältnissen des Ortes und des Ortsteiles, sowie von dem Umstande, ob es
sich um rein ländliche und landwirtschaftliche oder um städtische, stadtähnliche
und industrielle Verhältnisse, ferner ob es sich um Eigenwohnhäuser oder Miet¬
gebäude, wichtige oder minder wichtige Gebäudeteile handelt. Ländliche und
landwirtschaftliche Bauten sollen hier außer Betracht bleiben.
Zwingende Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege gehen den wirt¬
schaftlichen Interessen der Grundbesitzer und Bauherren, sowie den Bestrebungen
auf Erhaltung alter und sogenannter volkstümlicher Bauweisen vor. Zwischen
diesen Interessen und Bestrebungen einerseits und den bloß wünschenswerten ge¬
sundheitlichen Anforderungen andererseits muß ein billiger Ausgleich gesucht
werden.
2. Stadtbauplan. Schon bei Feststellung des Stadtbauplanes ist auf die
gesundheitlichen Ansprüche Bedacht zu nehmen, namentlich mit Bezug auf Wasser¬
versorgung und Entwässerung, auf solche Straßenrichtungen und Blockbildungen,
die eine ausreichende Besonnung, Erhellung und Lüftung sichersteUen, sowie auf
die ausreichende Anlage von freien Plätzen und öffentlichen Pflanzungen, nament¬
lich Spiel- und Erholungsplätzen.
Für die Ausführung des Stadtbauplanes ist die gesetzliche Regelung der
Grundstücksumlegungen und die Erweiterung der Enteignungsbefugnisse, insoweit
sie jetzt noch auf die für Straßen und Plätze bestimmten Fläohen beschränkt ist,
insbesondere hinsichtlich der Enteignung unbebaubarer Restparzellen und gesund¬
heitswidriger Baulichkeiten, anzustreben.
Auch ist es in der Regel erforderlich, daß die Gemeinden sich die eigene
Herstellung der Straßen, Kanäle (Schleusen) und Wasserleitungen — unter Um¬
ständen für Rechnung der Grundbesitzer — Vorbehalten.
3. Zulässigkeit der Bebauung. Durch die Bauordnung sind zunächst
die Voraussetzungen der Bebauungsfähigkeit der Grundstücke zu bestimmen.
Dabei ist im öffentlichen Gesundheitsinteresse festzustellen, daß kein Grundstück
bebaut werden darf, solange nicht gesorgt ist:
a) für geeignete Entwässerung durch Kanalisation oder andere unbedenk¬
liche Einrichtungen:
b) für Versorgung mit ausreichendem und gutem Trinkwasser mittels
Wasserleitung oder bedenkenfreier Brunnen;
c) für die Beseitigung von Ablagerungen faulender und fäulnisfähiger
Stoffe;
d) für Regelung der Grenzen, soweit dieselbe zur Erzielung einer zweck¬
mäßigen Grundstücksform nötig ist;
e) endlich, im Überschwemmungsgebiet, für Regelung oder Eindeichung
des Wasserlaufs oder Aufhöhung der Straßen und des Baugrundes über
die Hochwasserlinie.
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 153
Die Anforderungen unter a, b und c sind zwingende, diejenigen unter d und
e sind dringend wünschenswert.
4. Anforderungen, die dem Grade nach veränderlich sind. Da die
Luft-, Licht- und Besonnungsverhältnisse von größter Wichtigkeit für die öffent¬
liche Gesundheit sind, da ferner die dauernde Anhäufung vieler Menschen auf
beschränktem Raum in gesundheitlichem Interesse vermieden werden muß, so ist
die Bauweise derart festzusetzen, daß
a) die Gebäudehöhe in angemessenem Verhältnis steht sowohl zur Straßen¬
breite als zu den Gebäudeabständen auf den Grundstücken;
b) die Hinterlandbebauung behufs Gewionung ausreichender Höfe und
Gärten überhaupt beschränkt wird;
c) gewerbliche Betriebe, weiche durch Lärm, Staub, Rauch oder Aus¬
dünstungen gesundheitsschädigend oder belästigend wirken, von den
Wohnstätten tunlichst ferngehalten werden;
d) zwischen geschlossener Bauart einerseits und halboffener oder offener
Bauart andererseits, soweit letztere nicht ausschließlich in Frage kommt,
abgewechselt,
e) die Zahl der übereinander liegenden Wohngeschosse beschränkt,
f) auch die Zahl der Wohnungen in den einzelnen Geschossen begrenzt wird;
g) endlich auch Licht und Luft im Innern der Gebäude überall ausreichend
gesichert ist.
Die vorgenannten gesundheitlichen Anforderungen sind ihrem Grade nach
bedingt durch die Verschiedenheit der Bodenwerte, der Ortslagen, der Wohn weisen
und der Gebäudeteile. Sie sind deshalb in der Regel abzustufen nach Orts¬
teilen, Gebäudegattungen und Raumgattungen.
6. Die Abstufung nach Ortsteilen bezieht sich auf die Anforderungen
4 a bis f, und zwar ist:
Zu a. Ein solches Verhältnis zwischen Gebäudehöhe und Straßenbreite, bzw.
Gebäudeabstand anzustreben, daß allen zum dauernden Aufenthalt von Menschen
bestimmten Räumen das Himmelslicht unter einem Winkel von 45 Grad zugeführt
wird. Außerdem empfiehlt es sich, die zulässige Maximalhöhe der Gebäude staffel¬
weise zu beschränken (z. B. von 20 m bis 12 m, gemessen bis zur Traufkante des
Dachgesimses).
Zu b. Die Freilassung des Hinterlandes kann herbeigeführt werden durch
Verbot von Hinterwohnungen, d. h. solcher Wohnungen, die nur von den hinteren
Grundstüoksteilen Luft und Licht beziehen, ferner durch Festsetzung rückwärtiger
Baulinien, endlich durch Vorschriften über die Mindestbreite und Mindestfläche
der Höfe. Die Mindest fläche wird entweder absolut oder im Verhältnis zur Größe
des Baugrundstücks oder auf beide Arten bemessen; auch kann sie von der Zahl
der Wohnungen abhängig gemacht werden.
Zu c. Es ist wünschenswert, gewerbliche Betriebe der angegebenen Art von
Wohnvierteln auszuschließen. Dagegen empfiehlt es sich, sie in anderen Ortsteilen
durch entsprechende Einrichtungen, namentlich für Verkehr und Wasserableitung,
zu begünstigen.
Zu d. Luft, Licht und Sonnenstrahlen werden den Gebäuden am besten ge¬
währleistet durch die offene Bauart; ihrer allgemeinen Verbreitung stehen jedoch
wirtschaftliche Nachteile geschäftlicher und baulicher Art entgegen. Für Ge¬
schäftsstraßen und städtische Arbeiterwohnhäuser muß deshalb auf die offene
Bauweise in der Regel verzichtet werden. Unter Milderung der erwähnten Nach¬
teile werden die Vorzüge des offenen Baues großenteils beibehalten durch Anord¬
nung der halboffenen Bauweise oder des sogenannten Gruppenbaues, wobei nicht
alle Häuser frei stehen, sondern geschlossene Reihen mit Lücken abwechseln. Be¬
sondere Empfehlung, auch für Arbeiterwohnhäuser, verdient diejenige halboffene
Bauweise, bei welcher zwei Langseiten eines Blocks geschlossen bebaut werden,
während die Querseiten in der Sonnenrichtung offen bleiben.
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154 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Zu e. Die Höchstzahl der Wohngeschosse pflegt in Großstädten abgestuft
zu werden von 6 bis 2 (so beispielsweise in München und in Berlin mit Vororten)
oder von 4 bis 2 (so z. B. in Köln und Düsseldorf). In minder großen Städten
empfiehlt es sich, die Höchstzahl der Wohngeschosse auf 3 und 2 festzusetzen.
Zu f. Die Zahl der Wohnungen in demselben Geschoß kann stapelweise
eingeschränkt werden auf etwa vier bis zwei Wohnungen oder bis auf eine Woh¬
nung. Die Zulassung von mehr als zwei Wohnungen in demselben Geschoß ist
davon abhängig zu machen, daß jede Wohnung für sich ausreichend durchlüftet
werden kann.
6. Die Abstufung nach Gebäudegattungen kann besonders sich
erstrecken auf die zulässige Zahl der Wohngeschosse, auf die Mindesthöhe der¬
selben, sowie auf die Breiten der Treppen und Flure (4, e und g). Als Gebäude¬
gattungen kommen namentlich in Frage große Miethäuser einerseits, sowie kleine
Miethäuser und Einfamilienhäuser andererseits. Wo die Grenze zwischen großen
und kleinen Miethäusern liegt, ist nach den Verhältnissen des Ortes zu bestimmen.
Zu 4 e. Behufs Begünstigung des Baues kleiner Häuser und Einfamilien¬
häuser ist es zu empfehlen, für diese in den verschiedenen Ortsteilen ein Geschoß
mehr zu gestatten als für das große Haus.
Zu 4 g. Während in großen Häusern die geringste lichte Stockwerkshöhe
(mit Ausnahme von Keller - und Dachgeschoß) in der Kegel 3 m betragen soll,
kann sie beim kleinen Hause und besonders beim Einfamilienhause — wegen der
minder dichten Bewohnung — in den oberen Geschossen bis auf 2,85 m ermäßigt
werden.
Ebenso kann beim kleinen Hause und Einfamilienhause die Breite der Treppen
und Flure bis auf 1 m und weniger eingeschränkt werden.
7. Die Abstufung nach Raumgattungen bezieht sich insbesondere auf
solche Räume, welche zum dauernden, und solche, die nur zum vorüber¬
gehenden Aufenthalt von Menschen dienen, außerdem auf Räume im Keller- und
im Dachgeschoß (4 g).
a) Während für dauernd zu benutzende Räume (Wohn-, Schlaf- und
Arbeitsräume, auch Küchen, Wirtszimmer und Verkaufsläden) die örtlich abge¬
stuften Anforderungen zu 4 a und b unbedingt gelten, empfiehlt es sich, behufs
Erleichterung der Grundrißbildung und der besseren wirtschaftlichen Bodenaus¬
nutzung zu gestatten, daß vorübergehend benutzte Räume (wie Treppen, Flure,
Speisekammern und andere Vorratsräume, Waschküchen, Badezimmer und Aborte)
ihre Luft und ihr Lioht auch von kleineren Höfen, sogenannten Lichthöfen, unter
geringerem Lichtwinkel beziehen. Auch die Flächengröße solcher Hilfshöfe ist
zur Höhe der sie umfassenden Wände in ein angemessenes, minder strenges Ver¬
hältnis zu setzen.
ß) Dauernd benutzte Räume bedürfen eines bestimmten Mindestverhältnisses
der lichtgebenden Fensterfläche zur Bodenfläche oder Raumgröße; als gutes
Mindestverhältnis ist 1 qm Fensterfläche auf 8 qm Bodenfläche oder 25 cbm Raum¬
inhalt zu betrachten. Für vorübergehend benutzte Räume, die auch durch
bloßes Oberlicht erhellt werden können, bedarf es einer solchen Feststellung nur
bezüglich der Aborte, deren Fenster zudem unmittelbar an Außenwänden oder
Lichthöfen liegen müssen.
y) Empfehlenswert ist die Vorschrift eines geringsten Gesamtinhaltes der
zum dauernden Aufenthalt bestimmten Räume einer Familienwohnung von mehr
als zwei Personen (z. B. 50cbm); ebenso die Vorschrift eines Mindestinhalts für
Schlafräume der Dienstboten (Mädchenkammern), z. B. 15 cbm für die Person.
cf) Kellerräume für den dauernden Aufenthalt müssen besonderen gesundheit¬
lichen Anforderungen in bezug auf die Abhaltung von Feuchtigkeit, die lichte
Höhe und die Höhe der Decke über dem Erdreich entsprechen. Die Benutzung
von Kellerräumen zu Wohn- und Arbeitszwecken, sowie zu offenen Geschäftsläden
ist tunlichst zu beseitigen, und dort, wo sie noch nicht besteht, zu verhindern.
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 155
Ganze Wohnungen im Kellergeschoß sind jedenfalls nur ausnahmsweise, beispiels¬
weise für die Familie des Hausmeisters, zu gestatten, aber nicht ausschließlich
nach Norden.
s) Dachraume für den dauernden Aufenthalt sind durch geeignete Bauart
gegen Hitze und Kälte und gegen raschen Temperaturwechsel zu schützen. Sie
sind nur zulässig unmittelbar über dem obersten Vollgeschoß, nicht über dem
Kehlgebälk. Ihre lichte Höhe darf wegen der begünstigten Licht- und Luft¬
versorgung bis auf etwa 2*50 m (bei ungleicher Höhe im Durchschnitt zu messen)
eingeschränkt werden.
8. Anforderungen allgemeiner Art.
a) Zur Verhütung des Aufsteigens von Bodenfeuchtigkeit sind bei
allen Gebäuden geeignete Maßregeln (Unterkellerung, Isolierschichten) zu fordern.
b) Zur Aufhöhung von Bauplätzen und besonders zum Ausfüllen der
Zwischenböden darf nur eine vollständig trockene, mit faulenden oder fäulnis-
fähigen, wie überhaupt organischen Stoffen nicht vermischte Masse verwendet
werden.
c) Mit Bezug auf die Aborte ist außer guten Lüftungseinrichtungen und
den sonstigen, im Gesundheitsinteresse erforderlichen Vorkehrungen namentlich
auch zu verlangen, daß mindestens für je zwei Wohnungen, in neuen Stadtteilen
aber unbedingt für jede Familienwohnung, ferner allgemein für jede größere
Werkstatt und jeden größeren Kaufladen ein Abort herzustellen ist.
Sobald das Kanalsystem darauf eingerichtet ist, sind Aborte mit Wasser¬
spülung nicht nur zu gestatten, sondern vorzuschreiben.
d) Schließlich sind gesundheitliche Anforderungen zu stellen:
wegen der Hauskanalisation, deren Einrichtung, Lüftung und Prüfung;
wegen der Gasleitungen, deren Anlage und Prüfung;
hinsichtlich der Einrichtung der Stallungen und deren Abtrennung von
den Wohnräumen;
hinsichtlich der Abort- und Müllgruben ;
bezüglich der Brunnen und ihres Abstandes von den vorgenannten Gruben;
wegen Verbotes der Sieker-, Senk- und Versetzgruben.
9. Anwendbarkeit auf bestehende Zustände. Die Bauordnung muß
geeignete Handhaben bieten, auch bei schon bestehenden Bauwerken auf die Be¬
seitigung gesundheitswidriger Zustände zu dringen und derartige Ver¬
fügungen sowohl dem widerstrebenden als auch dem unvermögenden Eigentümer
gegenüber wirksam durchzusetzen.
10. Arbeiterschutz. Um die Gesundheit der Bauarbeiter zu schützen, be¬
stehen gegenwärtig im Deutschen Reiche wohl überall Bauordnungsvorschriften
oder sonstige Polizeiverordnungen. Es gilt jedoch deren Durchführung durch
geeignete Maßnahmen zu sichern.
11. Bauaufsicht und Abnahmen. Um namentlich auoh die Erfüllung
der gesundheitlichen Anforderungen sicherzustellen, ist in der Regel jeder Bau
von einer polizeilichen Genehmigung abhängig zu machen und während der Aus¬
führung einer häufigen Besichtigung zu unterziehen. Besondere Revisionen sind
zweckmäßig an bestimmte Abschnitte der Bauvollendung (Revision der Kanal-
und Gasleitungen, Rohbauabnahme, Gebrauchsabnahme) anzuschließen.
Die Festsetzung sogenannter Trockenfristen zwischen der Vollendung des
Rohbaues, der Aufbringung des Putzes und der Ingebrauchnahme des Hauses
hängt von den örtlichen Verhältnissen ab, insbesondere von Lage, Jahreszeit,
Witterung und Bauart.
12. Beteiligung der Ärzte. Die Beteiligung der Ärzte bedarf einer Er¬
weiterung. Die Medizinalbeamten sind über Bebauungspläne, Bauanzeigen und
Gesuche um Ausnahmebewilligung von Bauvorschriften zu hören, sobald gesund¬
heitliche Fragen berührt werden, unter derselben Voraussetzung auch zu Revisionen
zuzuziehen. Von besonderem Wert sind regelmäßige Besprechungen der Medi-
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156 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
zinalbeamten mit den Vertretern der Baupolizeibehörde und anderen Bausach¬
verständigen.
Wo mehrgliedrige Baupolizei-Kommissionen bestehen, soll auch ein Arzt zu
den Mitgliedern zählen.
Referent, Geh. Regierungsrat Dr. Rumpelt:
„Der Eigentumsbegriff schließt nach unserem Rechtsbewußtsein die
grundsätzlich unbeschränkte Verfögungsgewalt über die uns gehörige Sache
in sich. In dieser bis zur letzten Folgerung durchgeführten Schärfe ist er
uns aus dem römischen Rechte überkommen. Aber auch dem römischen
Rechte dämmerte doch schon die Erkenntnis, daß selbst vom Rechtsstand¬
punkte noch höhere und allgemeinere Interessen zu berücksichtigen seien, als
das Eigentum des Einzelnen. Der sogenannte ager desertus, der Anfall des
brach und wüst liegenden Ackers an den neuen Bebauer, wenn der Eigentümer
diesen nicht für seine Mühen und Kosten entschädigt, ist ein Zeugnis dafür;
ebenso der Ausschluß der Eigentumsklage, wenn die Wegnahme der Sache
Haus oder Weinbau gefährden würde. Auch der Römer wollte nicht, daß
die Stadt, lediglich dem starren Eigentumsrechte zu liebe, in einen Trümmer¬
haufen verwandelt würde. Die unendlich vielgestaltigeren und engeren
Beziehungen, welche unser modernes Leben zwischen dem Einzelnen und
der Gesamtheit hergestellt hat, haben die Eigentumsbeschränkungen im
Namen des öffentlichen Rechts und des öffentlichen Interesses außerordentlich
vermehrt. Auf keinem Gebiete haben sie jedoch einen solchen Umfang und
eine solche Bedeutung erlangt, wie auf dem des Baurechts.
„Das Recht, auf meinem Grundstücke ein Gebäude zu errichten, ist an
sich ein Ausfluß meiner im Eigentums begründeten Verfügungsgewalt. Von
diesem Grundsätze der Baufreiheit gehen an sich auch alle Baugesetze
und Bauordnungen aus. Art. 1 der württembergischen Bauordnung von
1872 sagt ausdrücklich:
Der Eigentümer eines Grundstücks ist berechtigt, auf demselben
innerhalb seiner Eigentumsgrenze nach seinem Ermessen zu bauen,
sofern er nicht durch Reichsgesetz oder durch die in dem gegenwärtigen
Gesetze begründeten polizeilichen und nachbarrechtlichen Vorschriften
beschränkt ist.
„Gerade aber diese Beschränkungen sind bei den Baugesetzen und
Bauordnungen die Hauptsache, sie bilden ihren eigentlichen Inhalt. In den
engen Verhältnissen unserer alten Städte, wo Haus an Haus und Mensch
an Mensch dicht zusammengedrängt waren, hat die Baupolizei, die Bauord¬
nung das Licht der Welt erblickt. Hier kommen sie schon seit dem
13. Jahrhundert vor. Oberbürgermeister Adiek es hat den Entwickelungs¬
gang der Baupolizei einmal kurz und treffend dahin gekennzeichnet, daß
es sich ursprünglich nur um die Fragen der Feuersicherheit und Festig¬
keit gehandelt habe, später habe man auch die Anforderungen des Verkehrs
berücksichtigt, aber erst in neuerer und neuester Zeit sei sie unter den
immer gebieterischer hervortretenden Gesichtspunkten der Gesundheitspflege
und der Sozialpolitik ein wichtiger Bestandteil der gesamten öffentlichen
Wohnungsfürsorge geworden. Mit der Würdigung baurechtlicher Fragen
aus diesen Gesichtspunkten hat sich der Deutsche Verein für öffentliche Ge¬
sundheitspflege wiederholt beschäftigt, und er bewegt sich auf einem schon
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
167
oft erörterten Gebiete, wenn er mit dem Thema: „Die Bauordnung im
Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege u die Frage stellt: „Welche Be¬
schränkungen hat die grundsätzliche Baufreiheit im Interesse der öffent¬
lichen Gesundheitspflege zu erleiden ?“
„Um die tatsächlichen Verhältnisse kennen zu lernen, haben wir Frage¬
bogen an alle deutschen Städte mit mehr als 100000 Seelen ausgeschickt und
beinahe von allen eingehende Antworten erhalten. Außerdem hatte der Vor¬
tragende Bat im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten, Geb. Regie¬
rungsrat Dr. Münchgesang, den ich um die neue Bauordnung für die Berliner
Vororte, sowie um einige Provinzialbauordnungen gebeten hatte, die große
Liebenswürdigkeit, mir eine außerordentlich reichhaltige Sammlung von
preußischen Provinzial-, Bezirks- und Ortsbauordnungen zusammenstellen
zu lassen. Endlich habe ich bei den sächsischen Bezirksärzten eine Um¬
frage nach den Wirkungen des neuen sächsischen Baugesetzes von 1900
gehalten. Das Material ist mir schließlich über den Kopf gewachsen, seine
erschöpfende Bearbeitung in den 2 l / a Monaten seit Anfang Juli war nicht
möglich, ebensowenig seine Wiedergabe in dem Rahmen des mir hier ver-
statteten Vortrages. Einige der uns eingesandten Bebauungs- und Zonen¬
einteilungspläne haben wir hier zum Aushange gebracht, eine noch reichere
und interessantere Sammlung derartiger Pläne und anderer Beurkundungen
baupolizeilichen Wirkens, die zu unserer heutigen Verhandlung gehörigen
Abbildungen und Beispiele Anden Sie in der Städteausstellung. Bemerkens¬
wert ist übrigens, daß auf diesem Gebiete allerorten die lebhafteste Bewegung
herrscht. Die geltenden Landes-, Provinzial-, Bezirks- und Ortsbauord¬
nungen stammen zumeist auB den letzten 10 bis 15 Jahren oder sind, wie
in Württemberg, eben noch in der Umgestaltung begriffen. Bei diesen
Neubearbeitungen sind überall die Einwirkungen zu erkennen, die die Ver¬
handlungen des Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege und die
fruchtbaren Anregungen seiner Führer und Leiter, der Männer wie Bau¬
meister, Stübben, Adickes u. a. ausgeübt haben. Auch unser säch¬
sisches Baugesetz von 1900 hat, wie ich ausdrücklich anerkennen möchte,
diesen Einflüssen viel zu verdanken.
„Ehe ich auf die einzelnen Fragen unseres Themas eingebe, möchte ich
noch bemerken, daß die Ihnen vorliegenden Leitsätze von uns beiden Be¬
richterstattern gemeinsam aufgestellt worden sind. Sie werden manchen
alten Bekannten darunter finden, der heute als Mahner und Warner, viel¬
leicht auch nach Ihrer Meinung als Querulant wiederkommt. Aber es
rührt dies eben daher, daß er trotz aller Anerkennung in der Theorie prak¬
tisch noch nicht die erforderliche Beachtung gefunden hat. Nach der
zwischen mir und Herrn Geh. Baurat Stübben getroffenen Vereinbarung
werde ich mich in meinem Vortrage auf die mehr allgemeinen, rechtlichen
und die Verwaltung berührenden Fragen beschränken, wie sie vornehmlich
in den Leitsätzen 1 bis 3, 9 bis 12 berührt sind, während Sie die Aus¬
führungen über die mehr technischen Fragen in den Leitsätzen 4 bis 8
jedenfalls selbst von keinem anderen als Herrn Geh. Baurat Stübben zu
hören wünschen werden, der sich als ein so hervorragender Kenner und
Könner gerade auf diesen Gebieten erwiesen hat.
„Die sozialpolitischen Forderungen, die heute auch bei der Baupolizei
Digitized by CaOOQle
158 XXVIIL Versammlung d.D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
in den Vordergrund getreten sind, beruhen auf der Erkenntnis, daß in den
tausendfältigen Beziehungen unserer modernen Gesellschaft der Einzelne
mit seinen Rechten und Pflichten den Interessen der Gesamtheit unterworfen
ist, der er den weitaus größten Teil seiner Daseinsbedingungen dankt und
daher auch eine entsprechende Rücksicht schuldet Zu den wichtigsten
sozial politischen Forderungen gehören die der öffentlichen Gesundheitspflege.
Die Gesundheit ist ein kostbares Gut des einzelnen, aber es steht unter dem
Schutze der Gesamtheit. Niemand darf — auch nicht in Ausübung eines
Rechtes — Veranstaltungen treffen, die die Gesundheit anderer gefährden.
Ungesunde Wohnungen auf den Markt zu bringen, ist genau so unzulässig,
vielleicht aber noch gefährlicher als der Handel mit gesundheitsschädlichen
Nahrungsmitteln. Und auch für seine eigene Person können wir dem ein¬
zelnen nicht mehr gestatten, beliebig über seine Gesundheit zu verfügen;
denn es gibt eine ganze Anzahl Krankheiten, die durch Übertragung und
Ansteckung sich jeden Augenblick auf weitere Kreise verbreiten können.
Aber die gesundheitlichen Ansprüche im Bauwesen, auch soweit sie wissen¬
schaftlich und praktisch erprobt und außer Frage gestellt sind, haben
keineswegs alle einen unbedingten Charakter. Auch hier ist oft das
Bessere der Feind des Guten, auch hier müssen und können wir uns oft mit
einem leidlichen Zustande begnügen, der eben noch erreichbar ist. Auch
hängt das Maß dieser Forderungen von örtlichen und anderen Verhältnissen
ab. In freier Gebirgsgegend sind die baulichen Vorkehrungen zur Wahrung
von Luft und Licht weniger dringlich als in den Niederungen, dafür aber
ein größerer Schutz gegen Wärme und Kälte von nöten. Mietkasernen mit
12 bis 20 Familien Wohnungen bedürfen ganz anderer gesundheitlicher
Sicherungen als Eigenwohnhäuser, ländliche und landwirtschaftliche Bauten
vertragen eine nachsichtigere Behandlung als solche in Städten und Industrie¬
orten. Ländliche und landwirtschaftliche Bauten sollen aus unseren heutigen
Erörterungen ausgeschieden bleiben: die Verhältnisse sind hier noch zu ver¬
schieden, zu wenig entwickelt Die Gesundheitsfrage hat hier nicht die gleiche
Wichtigkeit, wie z. B. in den Städten, wenigstens quantitativ nicht, da
der Kreis derer, die geschädigt werden können, ein beschränkter ist. Quali¬
tativ wird man allerdings die vielgerühmte Gesundheit des Wohnens auf
dem Lande einigermaßen anzweifeln dürfen, da hier namentlich die Ent-
wässerungs- und Brunnenverhältnisse oft noch so sehr im Argen liegen,
daß die Gesundheit der Bewohner mehr gefährdet ist, als in manchem dicht¬
bevölkerten Arbeiterviertel.
„Der Hauptgegner der immer mehr nach Geltung ringenden gesund¬
heitlichen Anforderungen ist der Schlendrian, die im Publikum ebenso wie
bei Baumeistern, Sachverständigen und leider auch bei den Behörden be¬
stehende physische, geistige und moralische Trägheit, die sie veranlaßt, auch
an dem schlechten Herkommen festzuhalten, überflüssig gewordene Anforde¬
rungen der Standfestigkeit oder Feuersicherheit trotz alledem mechanisch
immer von neuem zu wiederholen und die nicht hergebrachten Rücksichten
der Gesundheitspflege mit Nichtachtung zu behandeln. Hiergegen ist ein
unerbittlicher Kampf zu führen, der um so gerechtfertigter ist, als gesunde
bauliche Einrichtungen oft gar nicht kostspieliger sind als die hergebrachten
Übelstände. Aber es finden sich auch ernstere finanzielle Widerstände.
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
159
Der Wohnungsbau ist eine Geldfrage für die gemeinnützigen Unternehmen
ebenso wie für die gewerbsmäßigen Vermieter. Wenn die Wohnungs-
▼ermietung heute ein weit verbreitetes Gewerbe geworden ist, das übrigens
in unseren großstädtischen Verhältnissen auch neben den gemeinnützigen
Veranstaltungen nicht mehr entbehrt werden kann, so muß darauf gerechnet
werden, daß der Mietertrag eine entsprechende Verzinsung des beim Haus¬
bau angelegten Geldes ergibt. Gewisse gesundheitliche Anforderungen, wie
z. B. die Verminderung der Bau- und Wohn dichtigkeit, verteuern die An¬
lagekosten unzweifelhaft. Und wenn andererseits auch nach allgemeiner Er-
Aachen
Ortitatte Ar c
fabrung strenge Bauordnungen der Bodenspekulation entgegenwirken und
die noch nicht in die Hohe getriebenen Grundstückspreise niedrig zu erhalten
geeignet sind, so haben wir in unseren Städten doch meistens schon mit der
vollendeten Tatsache hoher Grundstückspreise zu rechnen.
„Nun gestatten wir ja auch dem Landwirt nicht, sich vor einem Ver¬
mögensverluste dadurch zu schützen, daß er krankes Vieh ausschlachtet,
verdorbene Milch, Butter oder Eier zu Markte bringt. Ebensowenig kann der
Hausbesitzer verlangen, durch Vernachlässigung gesundheitlicher Rücksichten
bei Herstellung seiner Mietwohnungen auf seine Kosten zu kommen. Aber
es kann sich dabei doch immer nur um das absolut Notwendige, um die-
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160 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu' Dresden.
jenigen Einrichtungen handeln, deren Unterlassung unmittelbar gesundheits¬
schädlich ist.
„Auch die kommunale Wohnungspolitik kommt dabei in Betracht.
Unsere Gemeinden müssen darauf Bedacht nehmen, wie der großen Masse
der unbemittelten Bevölkerung Wohnung verschafft wird, die ihren Ein¬
kommenverhältnissen entspricht. Aber es würde doch eine geradezu ver¬
hängnisvolle Wohnungspolitik sein, wenn die Gemeinden die Billigkeit der
Arbeiterwohnungen durch Preisgabe wichtiger gesundheitlicher Anforderungen
erzielen wollten. Die durch die höheren Grundstückspreise und die höheren
Arbeitslöhne bedingten höheren Mietpreise der städtischen Wohnungen sind
unvermeidlich und dienen zugleich als Schranke gegen den von den Städten
selbst beklagten Zufluß von Bevölkerungselementen, die in ihren Daseins¬
bedingungen nicht gesichert sind. Übrigens kann manches, was heute durch
gesteigerte gesundheitliche Anforderungen zur Verteuerung des Häuserbaues
führt, auf der anderen Seite wett gemacht werden durch nachsichtigere
Bestimmungen hinsichtlich der Feuersicherheit und Standfestigkeit. Das
sächsische Baugesetz hat dies ausdrücklich ins Auge gefaßt. Aber unsere
Baumeister können sich noch nicht daran gewöhnen, von diesen Zugeständ¬
nissen Gebrauch zu machen und namentlich auch an der Art und Menge
des Baumaterials zu sparen.
„Weniger von Bedeutung, aber als eine Frage der Gegenwart doch von
Interesse, ist das Verhältnis der gesundheitlichen Anforderungen zu dem
jetzt überall aufkommenden Bestreben, alte Bauten zu erhalten und neue in
alter, bzw. in sogenannter volkstümlicher Bauweise zu errichten. In der
Entwickelung unseres deutschen Hausbaues liegt ein guter Teil vaterländischer
Kultur und Eigenheit, und wir wollen als selbstbewußtes Volk gewiß darauf
halten und sie in jeder Weise pflegen. Aber die notwendigen gesundheit¬
lichen Forderungen gehen doch vor. Die Gesundheit des lebenden Ge¬
schlechtes, die zugleich die Gesundheit künftiger Geschlechter in sich schließt,
gilt mehr als alle Vergangenheit. Auch der ästhetische Standpunkt kann
dagegen nicht geltend gemacht werden: gerade in der Baukunst ist nichts
schön, was nicht zweckmäßig ist und nichts zweckmäßig, was nicht ge¬
sund ist.
„Alle diese Rücksichten müssen, wie der erste Leitsatz besagt, hinter
die notwendigen Anforderungen der öffentlichen Gesundheitspflege
zurücktreten. Soweit es sich um bloß Wünschenswertes handelt, muß
ein billiger Ausgleich gesucht werden, bei dem übrigens die entgegen¬
stehenden Interessen nicht zu zaghaft und nachgiebig angefaßt werden
dürfen. Eine klare und bestimmte Stellung der öffentlichen Verwaltung
führt auch hier leicht zum Ziele. So berichtet z. B. die Stadt Halle, daß
dort keine Dispensationen von den Bestimmungen über Licht- und Luft¬
zuführung erteilt werden. In Karlsruhe werden Ausnahmen nur zugelassen,
wenn dadurch bessere Bauverhältnisse erzielt werden, in Braunscbweig
gibt es in gesundheitlicher Hinsicht überhaupt keine Dispensationen.
„Die gesundheitlichen Bauvorschriften für das einzelne Gebäude ent¬
hält die Bauordnung. Aber es ist notwendig, daß schon bei Aufstellung
des Bebauungsplanes darauf vorgearbeitet wird. Was bei der Festsetzung
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Bauart l Stadtkreis Berlin,
gesthloweb. 4 Obergeschosse
u n, Innere Vororte, g*schi<*wn.
4 Obergeschosse
„ D3. Teil von Charlottenburg.
offene Bauweise 3 Obergeschosse
„ IV, Äußere Vororte, geschlossen
3 Obergeschoüe
„ V, Äußere Vororte, offen« Bau
weise l'?4 Obergeschosse
, VI.
Via.
UTI offene Bauweise und Qruppenbi
* VII, ' (Bauordnung vom 21 Apnl
Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 161
der Straßen- und Baufluchtlinien bei der Ausmessung der Baublöcke ver¬
sehen wird, ist später im einzelnen Baufalle oft mit dem besten Willen
nicht wieder gut zu machen. So bestimmt denn auch z. B. die württem-
bergische Vollzugs Verordnung von 1882, daß „bei der Festsetzung der
Baulinie u. a. auch auf einen geregelten Wasserlauf, auf Fernhaltung der
Überschwemmungsgefahr und Gewinnung gesunder Bauquartiere Bedacht zu
nehmen“ sei. Ebenso ist nach der neuen Allgemeinen Bauordnung für Bayern
von 1901 bei der Festsetzung der Baulinien auf Schutz gegen Überschwem¬
mungen, auf den höchsten bekannten Grundwasserstand, auf möglichst
geringe Steigungen und zweckmäßigste Entwässerungsanlagen Bedacht zu
nehmen; 10 Proz., in München 5 Proz. des Geländes soll für Anlagen und
öffentliche Pflanzungen Vorbehalten werden. Noch eingehendere Vor¬
schriften enthält in dieser Hinsicht das sächsische Baugesetz von 1900.
Hiernach wird durch Bebauungspläne insbesondere auch geregelt: Die
Bauweise, der Abstand der Gebäude von den Straßenfluchtlinien und von
den Nachbargrenzen, die Gebäudehöhe, die Zulässigkeit gewerblicher An¬
lagen, Bowie der Umfang der zulässigen Bebauung des Hinterlandes, ferner
die Berichtigung von Wasserläufen und die Entwässerung des Plangebietes,
aus welchem die in das Hochflutgebiet fallenden Flächen von vornherein
au8zu8cheiden sind. Bei Aufstellung der Bebauungspläne ist nach dem
sächsischen Gesetze auf die Anforderungen auch der Gesundheit, auf die
zweckentsprechende Wasserversorgung und Entwässerung, desgleichen auf
die Lage und Entwickelung des Ortes oder Ortsteils Bedacht zu nehmen.
Die Anlage der Baublöcke sowie der Straßen- und Blaufluchtlinien hat so
zu erfolgen, daß eine ausreichende Besonnung der Wohnräume sichergestellt
wird. Steigungen der Straßen sind möglichst gleichmäßig zu verteilen,
große Steigungen sowie geradlinige Straßenfluchten in übermäßig langer
Ausdehnung tunlichst zu vermeiden. Freie Plätze und öffentliche Pflan¬
zungen, auch öffentliche Spiel- und Erholungsplätze sind der Größe, Lage
und Anzahl nach so anzulegen, daß sie sowohl den Verkehrs- als den wohl¬
fahrtspolizeilichen Bedürfnissen entsprechen. Geschlossene Bauweise soll,
soweit sie ortsgesetzlich nicht ganz ausgeschlossen wird, in ausreichendem
Umfange von Straßen mit offener Bauweise unterbrochen werden und es
soll in den Außenbezirken eine Beschränkung der Bau- und Wohndichtigkeit
eintreten. Ebenso sind Bestimmungen über die höchste zulässige Gescho߬
zahl, über Höfe und Gärten sowie über Hinterlandbebauung zu treffen.
Diese Bauvorschriften sind ortsgesetzlich zu erlassen und bilden einen not¬
wendigen Teil des Bebauungsplans. Sie können nach Befinden mit Zonen¬
verteilung durch eine einzige Ortsbauordnung gleich für den ganzen Ge¬
meindebezirk festgesetzt werden. In einer Anleitung ist den Gemeinden
jedoch, wenigstens den größeren Städten, empfohlen worden, für jedes Plan¬
gebiet besondere Bauvorschriften aufzustellen, „um den einzelnen Ortsteilen
ihren individuellen Charakter zu wahren und jede lästige und einer
gesunden baulichen Entwickelung nachteilige Schablone zu vermeiden“.
Diesen Rat hat man, soweit es es sich um Neubaugebiet handelt, in Dresden,
Leipzig, Chemnitz, Plauen befolgt, und Sie können z. B. hier in Dresden
selbst sehen und beurteilen, ob nicht eine solche Individualisierung der
einzelnen Vorstadtviertel auch vor der Zoneneinteilung noch den Vorzug
VierteljahrMcbrift für Geaundhdtapflege, 1904. H
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162 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
verdient. Wenn das preußische Fluchtliniengesesetz von 1875 nur be¬
stimmt, daß bei Festsetzung der Fluchtlinie auf die Forderung auch der
öffentlichen Gesundheit Bedacht zu nehmen sei, so ist dies im Vergleich zu
den sächsischen und süddeutschen Vorschriften etwas allgemein und wenig.
Auch das zu erwartende neue Gesetz zur Verbesserung der Wohnungsver-
hältnisse scheint dem Vernehmen nach in dieser Hinsicht nur die Forderung
von Plätzen — Schmuckanlagen, Spiel- und Erholungsplätzen — in aus¬
giebiger Zahl hinzuzufügen.
„Daß auch ein guter Bebauungsplan nicht ausreicht ohne Grund¬
stücksumlegung und Erweiterung des Enteignungsrechts, hat der Verein
schon zu öfteren Malen anerkannt und ausgesprochen. Es genügt des¬
halb, auf die Wiederholung dieses Verlangens im zweiten Leitsätze hin¬
zuweisen. Außer Baden, Hamburg und Sachsen, sowie — in einer etwas
anderen Art — Hessen hat jetzt auch die Stadt Frankfurt a. M. durch
die lex Adickes das Umlegungsverfahren zur Erzielung geeigneter
Baustellen erhalten. Dagegen ist die vorbehaltene Ausdehnung der lex
Adiek es auf andere preußische Städte im Landtage vorläufig noch abgelehnt
worden. Aachen und Posen bedauern dies nach ihrer Erklärung auf dem
Fragebogen besonders lebhaft. Auch München und Nürnberg wünschen
ausdrücklich ein bzw. Gesetz über die „Zusammenlegung“ der Grundstücke,
wie sie es nennen.
„Für die gesundheitlichen Fragen fast noch wichtiger ist die Er¬
weiterung des Enteignungsrechts. In Deutschland besteht in Elsaß-Loth¬
ringen auf Grund der früheren französischen Gesetzgebung und in
Sachsen nach dem neuen Baugesetze von 1900 das Recht der Zonen¬
enteignung, von welcher z. B. in Dresden auch schon Gebrauch gemacht
worden ist. Anderwärts ist die Enteignung immer noch auf das zum Bau
der Straßen und anderen Gemeinanlagen erforderliche Land beschränkt.
Es verbleiben dann Restparzellen, die eine zweckmäßige und gesunde Be¬
bauung der angrenzenden Grundstücke oft geradezu verhindern. Trotzdem
ist die Meinung in Preußen geteilt. Berlin, Breslau, Danzig, Stettin, Altona,
Kiel, Magdeburg, Barmen, Düsseldorf, Elberfeld erklären die bestehenden
Vorschriften für genügend. Dagegen wünschen Königsberg, Halle, Kassel,
Hannover, Dortmund, Essen, Krefeld, Aachen, Köln, Frankfurt a. M. und
von süddeutschen Städten namentlich Nürnberg die Ausdehnung der Ent-
eignungsbefugniß wenigstens auf die sogenannten Restparzellen.
„Die Herstellung der in den Bebauungsplänen vorgesehenen Straßen
und Plätze samt den darin anzulegenden Schleusenkanälen, Wasser- und
Gasleitungen sollte überall den Gemeinden Vorbehalten werden, die, wenigstens
in den Städten, größere Gewähr für eine der öffentlichen Gesundheit ent¬
sprechende Ausführung bieten. Die Straßenkanäle werden wohl auch jetzt
schon in der Regel von den Stadtverwaltungen hergestellt und zwar auch
dort, wo der Bau der Straßen dem Unternehmer überlassen wird. Letzteres
kommt noch recht viel vor und scheint z. B. in Berlin, Kassel, Straßburg,
Hamburg, Lübeck sowie auch in Leipzig die Regel zu sein. Anderwärts,
wie z. B. in Essen, Altona, Hannover, Karlsruhe, München, Nürnberg,
Braunschweig, Dresden und künftig auch in Chemnitz werden die Straßen
grundsätzlich von den Gemeinden ausgeführt und solche Herstellungen,
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
168
wenn überhaupt, nur ausnahmsweise Privatunternehmern überlassen. Nach
dem Entwurf des neuen preußischen Wohnungsgesetzes sollen die Gemeinden
zur Herstellung und Unterhaltung der Ortsstraßen öffentlich-rechtlich ver¬
pflichtet sein, die örtliche Wegepolizeibehörde die Fertigstellung anordnen
können. Auch in Sachsen bestimmt die Baupolizeibehörde den Zeitpunkt
der Ausführung.
„Die Frage nach der Bebauungsfähigkeit der Grundstücke
ist schon bei der Aufstellung des Bebauungsplanes zu berücksichtigen.
sooo Meter
Aber sie erhebt sich von Neuem der einzelnen Baustelle gegenüber. Hier
muß die Bauordnung die gesundheitlichen Anforderungen rechtzeitig und
nachdrücklich zur Geltung bringen. Der Anspruch, daß auf jedem Grund¬
stücke gebaut werden dürfe, kann nicht erhoben werden. Zunächst hängt
die Bebauungsfähigkeit, in den Städten wenigstens, von der vorherigen
Feststellung des Bebauungsplanes und von der Schaffung einer geordneten
Zugänglichkeit ab. Im gesundheitlichen Interesse müssen jedoch, wie der
dritte Leitsatz besagt, weiterhin als unbedingte Voraussetzung die vor
11 *
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164 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
herige Regelung der Entwässerung und Wasserzuführung, sowie die Be¬
seitigung unreiner Ablagerungen gefordert werden. Letzteres ist sehr
wichtig und wird vielfach übersehen, läßt sich aber stets bewerkstelligen
und hält die Bebauung höchstens zeitlich auf. Ausreichende Trinkwasser¬
versorgung kann aber gelegentlich ohne unverhältnismäßige Kosten zur
Unmöglichkeit werden, und ebenso eine zweckmäßige Entwässerung, wenn
für eine Kanalisierung keine Vorflut beschafft werden kann und zu Be¬
rieselungsanlagen oder zur Abfuhr aus Sammelgruben auf Wiesen und
Felder keine Gelegenheit vorhanden ist. Die Begründung des sächsischen
Baugesetzes von 1900 sagt ausdrücklich, für größere Orte, Vorstadt- und
Industriedörfer, sowie für alle Gemeinden mit schnell wachsender Bevölke¬
rung müsse der Grundsatz gelten, daß ein Grundstück, welches nicht
beschleust, nicht mit dem öffentlichen Straßenkanal verbunden werden kann,
auch nicht bebaut werden darf. Unter allen Umständen muß die Regelung
der Entwässerungs- und Trinkwasserfrage vor der Baugenehmigung er¬
folgen. Sonst wird leicht eine Zwangslage geschaffen, aus welcher hinter¬
her kein mit den gesundheitlichen Interessen zu vereinbarender Ausweg zu
finden ist.
„Nicht ganz so zwingend, aber immer noch sehr wichtig sind zwei
weitere Voraussetzungen. Zunächst die Regelung der Grenzen, soweit sie
zur Erzielung einer zweckmäßigen Grundstücksform nötig ist. Dies ist
namentlich dort dringlich, wo in geschlossener Reihe gebaut wird. Aber
wenn das Gesetz eine solche Regelung nicht fördert, ist sie ohne Härten
für den Bauenden oft nicht erreichbar. Das sächsische Baugesetz gibt des¬
halb das Enteignungsrecht auch zur Ergänzung oder Verschmelzung un¬
bebaubarer Grundstücksflächen in der geschlossenen Häuserreihe, soweit
dies im öffentlichen, also namentlich im gesundheitlichen Interesse geboten
erscheint. Abgesehen davon kann die Baupolizeibehörde auch außerhalb
des Umlegungsverfahrens zur Herbeiführung von minder erheblichen Grenz¬
berichtigungen die Erteilung der Baugenehmigung davon abhängig machen,
daß der Bauherr kleinere, zum Abschluß der eigenen oder einer benach¬
barten Baustelle erforderliche Landstreifen gegen Entschädigung erwirbt
oder abtritt.
„Die zweite Voraussetzung betrifft die Berücksichtigung des sogenannten
Überschwemmungsgebietes. Nach dem sächsischen Gesetze soll das eigent¬
liche regelmäßige Hochflutgebiet von Bauten ganz freigehalten und deshalb
von der zuständigen Verwaltungsbehörde oder ortsgesetzlich festgestellt
werden. Die Bebauung des nicht zu diesem Gebiete gehörigen Geländes,
welches Überschwemmungen ausgesetzt ist, kann beanstandet werden, so¬
lange nicht durch Berichtigung des betreffenden Wasserlaufes oder Aus¬
führung von Schutzdämmen oder Hochlegung der Straßen und des Bau¬
grundes alle zu menschlichen Wohn- und Aufenthaltszwecken bestimmten
Räume vor dem Eindringen von Hochwasser gesichert sind. Auch muß für
Geländeteile mit dauernd oder zeitweilig hohem Grundwasserstand vor der
Bebauung eine ausreichende Entwässerung oder eine entsprechende Er¬
höhung der Straßen und des Baugrundes zum Schutze der Häuser vor¬
genommen werden. Nach der allgemeinen bayerischen Bauordnung in Ver¬
bindung mit einer hierzu ergangenen Ministerialentscheidung sollen
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 166
Baulinien nicht gezogen werden, solange nicht für Beseitigung der Über¬
schwemmungsgefahr durch zweckmäßige Regulierung und Eindämmung des
Flusses gesorgt ist. Freilich läßt sich dies alles in den Niederungen des
deutschen Ostens, auch z. B. in der sächsischen Niederlausitz, nicht immer in
dem wünschenswerten Maße erreichen. Daß die Sache aber auch hier mit
Energie angefaßt werden kann, zeigt die neue Baupolizeiverordnung für die
Stadt Posen von diesem Jahre, welche die städtische Baupolizeiverwaltung
ausdrücklich ermächtigt, in den Überschwemmungsgebieten der Warthe und
der Cybina eine den ungehinderten Abfluß des Wassers sichernde und
Gefahren für die Gesundheit verhütende Entfernung der Baulichkeiten von
den Wasserläufen und eine geeignete Stellung der Bauten nach Lage der
obwaltenden Verhältnisse vorzuschreiben.
„Die ganz besonders wichtigen Wünsche, die wir im Namen der öffent¬
lichen Gesundheitspflege an die Bauweise zu erheben haben, sind in den
Leitsätzen 4 bis 8 ausführlich angegeben. Ich gehe jedoch nicht weiter dar¬
auf ein, da Herr Geh. Baurat Stübben diese Dinge näher beleuchten wird.
„Eine Frage, die den Beteiligten viel Kopfzerbrechen verursacht,
ist die, in welchem Maße und unter welchen Voraussetzungen die Vor¬
schriften der Bauordnung auf bereits bestehende Bauten anzuwenden
sind. Es handelt sich dabei um zweierlei: einmal um solche bauliche Zu¬
stände, die früher ausdrücklich genehmigt worden sind und zwar noch
immer den Genehmigungsbedingungen, aber nicht mehr den inzwischen
erlassenen neuen Vorschriften genügen. Weiter gilt es aber auch, der Ver¬
wahrlosung von Baulichkeiten mit wirksamen Mitteln entgegenzutreten.
Im ersteren Falle ist eine gewisse Schonung geboten, da es sich immerhin
um genehmigte, also rechtlich anerkannte Zustände handelt. Es herrscht
deshalb wohl ziemlich allgemein der Grundsatz, daß für bereits bestehende
Anlagen und Einrichtungen die neuen Bestimmungen erst dann in Wirk¬
samkeit treten, „wenn und soweit an den Baulichkeiten Veränderungen oder
umfassendere Herstellungen vorgenommen oder notwendig werden u , wie das
sächsische Baugesetz sagt.
„Das behördliche Einschreiten gegen Verfall und Verwahrlosung hat
sich bisher nach den allgemeinen polizeilichen Grundsätzen gerichtet. Nach
der Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts ist ein solcher
Eingriff gerechtfertigt, wenn er durch gesundheitliche Rücksichten geboten
ist. Allgemein wird angenommen, daß der Hausbesitzer verpflichtet sei,
alle Gebäude dauernd in gutem und gefahrlosem Zustande zu erhalten.
In Baden kann nach einer Verordnung von 1874 der Bezirksrat die Ab¬
stellung gesundheitsschädlicher Zustände in den Wohnräumen herbeiführen.
In Straßburg gilt noch ein französisches Gesetz von 1850, nach welchem
der Gemeinderat auf das Gutachten einer Kommission die Verbesserungs¬
arbeiten bzw. die Schließung einer Wohnung anordnet. Schwierigkeiten
entstehen den behördlichen Instandsetzungsauflagen nicht selten dann,
wenn dem Hauseigentümer die nötigen Geldmittel fehlen und das Grund¬
stück verschuldet ist. Hier bat schon das preußische allgemeine Landrecht
eine sehr einschneidende Maßregel an die Hand gegeben. Die Baupolizei¬
behörde kann nämlich die Zwangsversteigerung eines solchen Gebäudes
herbeiführen mit der Auflage an den Ersteher, die baulichen Mängel abzu-
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166 XXYI1I. Versammlung d. D. Vereins f. öffentL Gesundheitspflege zu Dresden.
stellen. Diese alte Bestimmung ist in dem preußischen Ausführungsgesetz©
zum Reichsgesetze über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung
beibehalten worden und auch in das sächsische Baugesetz und in das
sächsische Ausführungsgesetz zu jenem Reichsgesetz übernommen worden.
Nach dem sächsischen Baugesetz hat die Baupolizeibehörde darüber
zu wachen, daß bestehende Gebäude nicht in einen gesundheitsgefähr¬
lichen Zustand geraten. Sie hat deshalb den Eigentümer — und wenn
dieser nicht zu erlangen ist, den Inhaber, soweit dessen Innehabung
reicht und solange sie dauert, — zur Abstellung der Mängel, nötigenfalls
zur Leerstellung der zu beanstandenden Räume oder auch zur gänzlichen
Beseitigung des Gebäudes anzuhalten und kann, wenn ihre Verfügung
innerhalb der gestellten Frist nicht befolgt worden ist, das Erforderliche
auf Kosten des Eigentümers selbst ausführen lassen. Äußersten Falles
kann die Baupolizeibehörde, wie schon bemerkt, die Zwangsversteigerung
beantragen.
„Bis jetzt haben wir uns mit den gesundheitlichen Anforderungen
an das herzustellende Bauwerk beschäftigt. Aber auch das Bauen selbst
ruft solche hervor. Hier handelt es sich vor allem um den Bauarbeiter¬
schutz, der ein wichtiges Kapitel der öffentlichen Gesundheitspflege ist.
Nun ist zwar durch die UnfallverhütungsVorschriften, die die Baugewerks¬
berufsgenossenschaften erlassen haben, in dieser Hinsicht wohl einigermaßen
gesorgt. Aber diese Vorschriften beschränken sich doch, wie schon der
Name sagt, auf die Verhütung von Unfällen, d. h. von solchen Ereignissen,
die durch Abweichung von dem regelmäßigen Betriebsgange Leben und
Gesundheit der Arbeiter bedrohen. Mit den aus dem normalen Betriebs¬
gange sich ergebenden Schädigungen, den sogenannten Betriebskrankheiten
und ihrer Verhinderung befassen sich die Unfallversicherungsgesetze be¬
kanntlich nicht. Hier müssen polizeiliche Anordnungen in die Lücke treten,
und die Errichtung von Baubuden und Arbeiteraborten, Maßregeln gegen
die Unbilden des Winters bei Arbeiten in unvollendeten Neubauten, Aus¬
schluß der offenen Koksfeuer in geschlossenen Räumen, in denen Menschen
beschäftigt werden, und dergleichen vorschreiben. Derartige Polizeiverord¬
nungen sind vom Reichsamt des Innern wiederholt sehr nachdrücklich
empfohlen worden und bestehen jetzt wohl überall in Deutschland, meist
in mehr oder weniger engem Anschlüsse an ein zunächst von Preußen aus-
gegangenes Schema. Aber mit den Vorschriften der Unfallverhütung und
des sonstigen Bauarbeiterschutzes ist es allein nicht getan. Es handelt
sich vor allem um Maßregeln zu ihrer wirksamen Durchführung, und da
bleibt noch viel zu wünschen übrig. Die Befolgung der Unfallverhütungs¬
vorschriften zu überwachen, liegt zunächst den Baugewerksberufsgenossen¬
schaften ob, die durch ihre Beauftragten kontrollieren lassen und nachlässige
oder widerspenstige Bauunternehmer in höheren Gefahrenklassen mit
höheren Beiträgen einstellen können. Beides genügt durchaus nicht; des¬
halb hat auch z. B. das Reichsversicherungsamt die Berufsgenossenschaften
neuerdings wieder zur Vermehrung der Baukontrolleure gedrängt. Auch
die Aufsicht der Baupolizeibehörden, die vielfach ihre Zwangs- und Straf¬
gewalt für die Unfallverhütungs Vorschriften einsetzen, ist nach den immer
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
167
wiederkehrenden Erfahrungen noch lange nicht zureichend. Es wird des¬
halb vielfach empfohlen und von gewisser Seite geradezu gefordert, die
Baukontrolleure aus den Kreisen der Bauarbeiter selbst zu nehmen. Einen
Versuch damit hat zunächst Bayern durch die Allerhöchste Verordnung
von 1900 gemacht. Hier wird bestimmt, daß zur Ausübung der Bau¬
kontrolle als Gehilfen der Bausachverständigen nach Bedürfnis Bauaufseher
aus dem Arbeiterstande aufgestellt werden sollen. Ein solches Bedürfnis
ist in München und außerdem vorwiegend in Gemeinden mit stärker ent¬
wickelter Bautätigkeit als gegeben zu erachten. Die Anstellung der
erforderlichen Zahl verlässiger und befähigter Bauaufseher erfolgt durch
die Baupolizeibehörde, welche Vorschläge aus den Kreisen der Arbeitgeber
und Arbeiter entgegennimmt und soweit kein Bedenken vorliegt, berück¬
sichtigt. Die Bauaufseher sind amtlich zu verpflichten und unterstehen
in bezug auf Dienstaufsicht und Disziplin der Baupolizeibehörde, welche
das Dienstverhältnis durch besondere Vorschrift näher zu regeln hat. In
der Dienstvorschrift ist den Bauaufsehern für die Dauer ihrer Funktion die
Ausübung eines Bauhandwerks zu untersagen und überhaupt Vorsorge zu
treffen, daß den Betreffenden eine von den Arbeitgebern und Arbeitern
unabhängige Stellung gesichert bleibe. Nach den angestellten Erkundi¬
gungen ist diese Einrichtung in vielen bayerischen Orten durchgeführt
worden und hat nirgends zu wesentlichen Unzuträglichkeiten geführt. Auch
die Stadtverwaltungen von München und Nürnberg haben auf den Frage¬
bogen keine Einwendungen erhoben. Es Bteht nichts im Wege, diesen
Versuch auch anderwärts nachzuahmen, wo man Bich einen gleichen Erfolg
verspricht. Nur kommt dabei alles darauf an, daß diese Bauaufseher als
wirkliche behördliche Organe und nicht etwa als Arbeitervertreter
bestellt werden, die von Gewerkschaftskommissionen und Volksversamm¬
lungen geleitet und zur Verantwortung gezogen werden. Die gänzliche
Durchdringung gerade der deutschen Arbeiterbewegung mit politischen,
auf die Erringung der Macht im Staate und über den Staat gerichteten
Bestrebungen, die ultrademokratische Richtung, welche hier wenigstens theo¬
retisch die Stellung zur öffentlichen Gewalt beherrscht, mahnen doch zu
großer Vorsicht.
„Damit sind wir bereits auf das Gebiet der behördlichen Bau-
aufsioht übergetreten, mit deren Einrichtungen sich die Leitsätze 11. und
12. beschäftigen. Da ist zunächst die Frage der polizeilichen Baugenehmigung,
des sogenannten Baukonsenses. Nach der Zusammenstellung, die Löning
in der 1899 erschienenen zweiten Auflage des Handwörterbuchs der Staats-
wissenschaften gibt, besteht die grundsätzliche Genehmigungspflicht wenig¬
stens der wichtigeren Bauausführungen fast überall in Deutschland zu Recht,
mit alleiniger Ausnahme von Hamburg, der bayerischen Pfalz, einzelner Ge¬
meinden in Baden und von ElBaß-Lothringen. In der bayerischen Pfalz ist sie
durch die allgemeine Bauordnung von 1901 nunmehr ebenfalls eingeführt.
Nach den ausgegebenen Fragebogen gilt die Genehmigungspflicht in allen
beteiligten Städten, auch in Straßburg auf Grund der Bauordnung von 1871.
Nur Hamburg begnügt sich mit der Anzeigepflicht und dem Rechte der
Baupolizeibehörde zum Einschreiten gegen Ordnungswidrigkeiten. Es liegt
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168 XXV111. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
aber auf der Hand, daß nur die Genehmigungspflicht eine gründliche
Prüfung namentlich auch der gesundheitlichen Interessen und eine recht¬
zeitige Verhinderung von Fehlern verbürgt, welche von vornherein leicht
zu vermeiden, nachträglich aber oft gar nicht wieder gut zu machen
sind. Ebenso wichtig wie die Prüfung der Baupläne ist aber die regel¬
mäßige Überwachung der Bauausführung. Sie erfolgt in zweierlei Weisen,
die aber zur Erzielung wirksamer Erfolge miteinander verbunden werden
müssen. Einmal durch Revisionen, die sich an bestimmte Abschnitte der
Bauausführung anschließen. Das sächsiche Baugesetz ordnet nur die Schluß-
besicbtigung nach Vollendung des Baues an und überläßt die Festsetzung
von Zwischenbesichtigungen der ortsgesetzlichen oder ortspolizeilichen
Regelung. Tatsächlich finden in den großen Städten Deutschlands fast
überall drei besondere Revisionen statt, die aber auch in verschiedenen
preußischen Provinzial- und Bezirksbauordnungen vorgeschrieben sind: die
sogenannte Sockelabnahme, zunächst wegen Einhaltung der Baufluchtlinien,
dann aber auch zu der gesundheitlich wichtigen Revision der Kanal- und
Gasleitungen, die Rohbauabnahme und die Schluß- oder Gebrauchsabnahme.
In Breslau wird auch noch eine Materialienprüfung eingeschoben. Neben
diesen besonderen Revisionen ist aber auch eine dauernde Überwachung
des Baues nötig, wie sie z. B. von Barmen, Düsseldorf, Aachen berichtet
wird. In Altona finden allwöchentlich Revisionen, in Hannover alle zwei
Tage statt, in München alle Wochen bzw. alle vier Tage, in Straßburg
aller drei Wochen, was kaum ausreichen dürfte. Sehr eingehende Revisions¬
vorschriften bestehen in Karlsruhe. Nach dem sächsischen Baugesetze hat
die Baupolizeibehörde, und wenn diese nicht zugleich die Ortsbehörde ist,
auch letztere unter Aufsicht der ersteren darüber zu wachen, daß kein Bau
ohne die erforderliche Genehmigung begonnen und jeder Bau unter Beob¬
achtung der allgemeinen und ortsgesetzlichen Bestimmungen sowie in
Gemäßheit der genehmigten Baupläne und der dabei etwa vorgeschriebenen
besonderen Bedingungen ausgeführt wird. Durch Ortsgesetz oder örtliche
Polizei Verordnung sind Vorschriften über die Einrichtung dieser Über¬
wachung (durch technische Beamte, Bauausschüsse u. dergl.) zu treffen,
insbesondere können Zwischenbesichtigungen angeordnet werden. Die
Weiterführung eines ohne die erforderliche Genehmigung oder unter Ab¬
weichung von dem genehmigten Bauplane oder den gestellten Bedingungen
begonnenen Baues kann von der Baupolizeibehörde, und wenn Gefahr im
Verzug ist, einstweilen auch von der Ortsbehörde verhindert werden. End¬
lich kann die Baupolizeibehörde den Bauherrn veranlassen, Gebäude, welche
ohne die erforderliche Genehmigung oder plan- oder vorschriftswidrig er¬
richtet worden sind, auf seine Kosten zu ändern oder nötigenfalls zu
beseitigen. Unterläßt er dies innerhalb der ihm gestellten Frist, so kann
die Baupolizeibehörde das Erforderliche auf seine Kosten selbst vornehmen.
„Eine Einrichtung, die sich bei den örtlichen Organen der Baupolizei
einer großen Beliebtheit erfreut und namentlich in Norddeutschland viel ver¬
breitet zu sein scheint, sind die sogenannten Bezugs- oder Trockenfristen.
In vielen Bauordnungen sind ein für allemal bestimmte Fristen festgesetzt,
welche, meist von der Rohbauabnahme an gerechnet, abgelaufen sein müssen,
ehe die Schlußabnahme bzw. die Benutzung des Gebäudes eintreten kann.
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 169
Diese Fristbestimmung erspart der Behörde die genauere Prüfung des ein¬
zelnen Falles, wenigstens solange, als nicht um Dispensation gebeten wird.
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2 Wsta&Xss l»
Aber es wird nur zu leicht eine Schablone daraus, deren Gleichmäßigkeit
oft als eine willkürliche Härte empfunden wird, weil sie dem Bauherrn
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170 XXVm. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
vielleicht ganz unnötige Zins- und Mietverluste zumutet. Wie verschieden
gerade in dieser Beziehung die Ansichten sind, geht unter anderem daraus
hervor, daß die örtlichen Trockenfristen zwischen drei und neun Monaten
(in Breslau) schwanken. Lage, Jahreszeit, Witterung und Bauart müssen
hierbei mit in Betracht gezogen werden. So ist z. B. auch in Magdeburg
die im allgemeinen geltende sechsmonatige Trockenfrist für Fachwerkbauten
auf drei Monat, in Halle die viermonatige Trockenfrist für Fachwerkbauten
auf zwei Monate herabgesetzt.
„Daß in den Baupolizeibehörden und zu deren Unterstützung ban¬
technische Sachverständige mitwirken sollen, wird heute wohl nirgends mehr
in Zweifel gezogen. Dagegen ist die Beteiligung des Arztes, des Medizinal¬
beamten, dieses berufenen Anwalts der öffentlichen Gesundheitspflege, viel¬
fach noch recht unzureichend. Dies gilt z. B. auch für Preußen. Hier sind
zwar den Kreisärzten, die als staatliche Gesundheitsbeamte die technischen
Berater des Landrats, in Stadtkreisen der Polizeibehörde sein sollen, durch
die Dienstanweisung vom 23. März 1901 auch für die Bau- und Wohnungs¬
hygiene Vorschriften und Fingerzeige erteilt worden, die ganz auf der Höhe
unserer neuzeitlichen Auffassungen stehen. Der Kreisarzt soll „nach Mög¬
lichkeit“ Wohnungen und Aufenthaltsräume für Menschen prüfen, ob sie
den gesundheitlichen Anforderungen an Licht und Luft genügen, sowie ob
sie den in dieser Hinsicht bestehenden baupolizeilichen Vorschriften ent¬
sprechen. Er hat ferner die Baupolizeiordnungen, deren Geltungsbereich
nicht über seinen Amtsbezirk hinausgeht, vor ihrem Erlasse und die Orts¬
bebauungspläne vor ihrer endgültigen Festsetzung vom Standpunkte der
öffentlichen Gesundheitspflege zu begutachten und etwaige Ausstellungen
zur Sprache zu bringen. Er hat dabei insbesondere auf die Höhe der
Häuser im Verhältnis zur Straßenbreite, die Zahl und Höhe der Stockwerke,
die Größe und Gestalt der Höfe, die Lage der Fenster, die Wasserver¬
sorgung nnd Entwässerung der Grundstücke zu achten und bei den Be¬
bauungsplänen auf die Durchführung unterschiedlicher Vorschriften für
verschiedene Zonen, die Anlage möglichst vieler Wohnstraßen und eine
möglichste Verhütung zu großer Wohndichtigkeit hinzuwirken. Auch hat
er seinen Einfluß dahin geltend zu machen, daß bei der Handhabung der
baupolizeilichen Vorschriften die Interessen der Gesundheitspflege Berück¬
sichtigung Anden. Aber alle diese Vorschriften richten sich nur an den
Kreisarzt für den Fall, daß sein Gutachten verlangt wird. Eine Bestim¬
mung, welche die Baupolizeibehörden nötigte, dem Kreisarzt die Bebauungs¬
pläne und Baugenehmigungsgesuche vorzulegen oder ihn zu Baurevisionen
zuzuziehen, ist im allgemeinen nicht vorhanden und gilt höchstens für
öffentliche Gebäude, Schulen, Kranken-, Heil- und Pflegeanstalten, sowie
für Anlagen im Sinne von § 16 der Gewerbeordnung. In der Hauptsache
scheinen daher die vortrefflichen Bestimmungen der neuen Dienstanweisung
auf dem Papier zu stehen, selbst Düsseldorf meldet, daß sie tatsächlich
nicht gehandhabt würden. Etwas besser ist es zum Teil anderwärts: in
Karlsruhe hängt die Befragung des Medizinalbeamten zwar auch vom
Ermessen der Baupolizeibehörde ab, dagegen ist der Amtsarzt in München
und Nürnberg bei allen Baugesuchen, wo es sich um gesundheitspolizei¬
liche Fragen handelt, in Braunschweig in Zweifelsfällen zu hören. In
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 171
Hamburg herrscht eine beständige Fühlung zwischen dem Medizinal¬
amte und dem Baupolizeiamte, welche beide demselben Chef unterstehen.
Nach der s&chsischen Ausführungsverordnung zum Baugesetze von 1900
sind zur Beratung der Baupolizeibehörden im Interesse der öffentlichen
Gesundheitspflege die Bezirksärzte berufen. Hier sind die Baupolizei¬
behörden angewiesen, die Bezirksärzte in allen Fällen, in denen es durch
ein derartiges Interesse geboten erscheint, gutachtlich zu hören. Nament¬
lich gilt dies für die Entwürfe von Ortsgesetzen und örtlichen Polizeiver¬
ordnungen , Bebauungs- und Fluchtlinienplänen, Ortserweiterungsplänen,
Umlegungs- und Enteignungsplänen, sowie in denjenigen Fällen, in
denen sich gesundheitliche Bedenken im Sinne einzeln aufgeführter
landesgesetzlicher oder dementsprechender ortsgesetzlicher Bestimmungen
ergeben oder eine Ausnahme von diesen Vorschriften bewilligt werden
soll. Glauben Sie jedoch nicht, daß unsere Bezirksärzte damit all¬
gemein zufrieden gestellt wären. Zunächst klagen viele von ihnen,
daß sie auch in solchen Fällen, in denen sie nach der Vorschrift gehört
werden müssen, von den Behörden, und namentlich von den städtischen
Behörden, nicht oder doch nicht rechtzeitig gefragt würden. Andere be¬
mängeln, daß das Gehör des Bezirksarztes immer noch zu viel in das Er¬
messen der Baupolizeibehörde gestellt sei: diese allein habe zu befinden,
ob ein gesundheitliches Interesse oder Bedenken vorliege, durch welche die
Einholung des bezirksärztlichen Gutachtens geboten werde. Sie wünschen
eine weitgehende Kasuistik in der Aufzählung der Fälle, in denen der
Medizinalbeamte gefragt werden muß. Einzelne verlangen sogar, daß dem
Bezirksarzte überhaupt jedes Baugesuch vorgelegt werden müsse. Dies
geht entschieden zu weit und würde zu einer zwecklosen Verschwendung
von Zeit, Kraft und Kosten führen. Überhaupt ist die ausgiebige Mit¬
wirkung der Medizinalbeamten wesentlich auch eine Kostenfrage, zumal in
Sachsen, wo dem Bauherrn neben dem festgesetzten Gebührenpauschquantum
besondere Gebühren des Bezirksarztes nicht berechnet werden dürfen und
diese daher von der Baupolizeibehörde getragen werden müssen.
„Wichtig ist auch die Art, wie der Medizinalbeamte gehört wird.
Im allgemeinen erhält er wohl die Akten der Baupolizeibehörde und gibt
ein schriftliches Gutachten ab und die Behörde setzt dann aus den ver¬
schiedenen schriftlichen Gutachten, die oft kaum miteinander zu vereinbaren
sind, die Verfügung zusammen. Hier würden regelmäßige mündliche Be¬
sprechungen von großem Nutzen sein. Für die zweite Instanz hat eine
Verordnung des sächsischen Ministeriums des Innern von 1902 sie geradezu
empfohlen, indem es als wünschenswert bezeichnet wird, „daß zu der kollegialen
Beratung der Kreishauptmannschaft über Rekurse und Beschwerden.
tunlichst auch der medizinische Beirat und der bautechnische Sachverständige,
event. auch der gewerbetechnische Rat der Kreishauptmannschaft zugezogen
werden, damit sie ihr Gutachten vor dem Kollegium mündlich abgeben und
begründen können und in der nachfolgenden mündlichen Besprechung eine
möglichste Ausgleichung entgegenstehender Meinungen und Wünsche erzielt
wird 11 . Auch in der Unterinstanz nimmt der Medizinalbeamte vielfach
schon persönlich an den Beratungen teil, so z. B. bei Meinungsverschieden¬
heiten in Dresden, gelegentlich auch in Leipzig. Die Amtshauptmann-
Digitized by Google
172 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
schäften zu Dresden und Leipzig, zu deren Bezirken die zahlreichen
Vorortgemeinden der beiden großen Städte gehören, veranstalten mündliche
Besprechungen mit ihren Sachverständigen über wichtigere Fragen der
Baupolizei. Überall, wo mehrgliedrige Baupolizeikommissionen bestehen,
sollte auch ein Arzt, der berufene Medizinalbeamte, zu den Mitgliedern
zählen.
„Damit komme ich zum Schluß auf eine letzte Frage, die in den
Leitsätzen nicht berührt worden ist: ob und wieweit es rätlich ist, die
Handhabung der Baupolizei den Selbstverwaltungsorganen zu überlassen.
In Sachsen ist dies schon seit längerer Zeit und in weitem Umfange ge¬
schehen. Ich bin wiederholt gefragt worden, ob wir denn nicht auch un¬
günstige Erfahrungen damit gemacht hätten, z. B. daß diese Selbstver¬
waltungsorgane dem Einflüsse der in der Gemeinde vorhandenen, mächtigen
Interessentenkreise unterliegen, daß sie in unzulässiger Weise baupolizei¬
liche und kommunalflskalische Gesichtspunkte miteinander vermischen und
dergl. Ich habe der Wahrheit die Ehre geben und bestätigen müssen, daß
solche Dinge auch bei uns vorgekommen sind und teilweise auch heute
noch Vorkommen. Trotzdem bin und bleibe ich ein entschiedener Anhänger
der Selbstverwaltung gerade auch auf diesem Gebiete. Gewiß werden von
einer bureaukratisch-organisierten und namentlich einer staatlichen Behörde
neue Rechts- und Verwaltungsgrundsätze, wie sie unsere Zeit für das Bau¬
wesen hervorgebracht hat, in der Regel rascher und rücksichtsloser durch¬
geführt. Aber ihre Macht liegt im Zwange, der von den Betroffenen meist
sehr widerwillig empfunden wird. Die Selbstverwaltung ist erfahrungs¬
gemäß konservativ im guten und Übeln Sinne des Wortes. Das neue Recht
dringt hier langsamer durch, alle berechtigten und unberechtigten Wider¬
stände machen sich geltend. Sind sie aber schließlich durch die eigene
Tätigkeit der Beteiligten überwunden, so wird das Gewonnene Gemeingut
in dem Rechtsbewußtsein der Bürgerschaft. Wenn der Einzelne die Bau¬
ordnung heute als Mitglied des Bauausschusses in fremder Sache und
morgen als Baumeister oder Bauherr in eigener Sache anzuwenden hat, so
kann es nicht fehlen, daß ihre Einrichtungen nach und nach zur selbst¬
verständlichen Gewohnheit werden. Gerade in den Angelegenheiten der
Bau- und Gesundheitspolizei möchte aber das Wort des Tacitus, daß bei
unseren Altvordern gute Sitten mehr galten als anderwärts gute Gesetze,
auch auf unsere Zeit anzuwenden sein. Ich will den Wert guter Bau¬
ordnungen gewiß nicht herabsetzen und leugne auch nicht, daß die Selbst¬
verwaltung die Mahnung und Warnung wirksamer Aufsichtsbehörden nicht
entbehren kann. Aber schließlich werden gerade im Bau- und Wohnungs¬
wesen die durch Selbstverwaltung anerzogenen Lebensgewohnheiten breiterer
Volkskreise, ihre Bedürfnisse und Ansprüche auf Licht und Luft, Wasser
und Reinlichkeit die öffentliche Gesundheitspflege mehr fördern, als es für
sich allein die beste Bauordnung vermöchte.“
Korreferent, Gßh. Baurat Stübben:
„Meine Herren! Gestatten Sie mir, an die Ausführungen des Herrn
Vorredners zunächst einige allgemeine Betrachtungen anzuknüpfen. Wir
wollen, so lautet die vom Ausschüsse unseres Vereins gestellte Aufgabe, die
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
173
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174 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Bauordnung in den Dienst der öffentlichen Gesundheitspflege
stellen, d. h. wir wollen die Bauart unserer Wohnhäuser derart beeinflussen,
daß die gesundheitliche Schädigung der Bewohner vermieden, die gesundheit¬
liche Entwickelung der Bevölkerung gekräftigt werde. Von den ver¬
schiedenen Gesichtspunkten, die für baupolizeiliche Vorschriften leitend sind,
wollen wir uns heute mit dem gesundheitlichen Gesichtspunkte beschäftigen,
wohl wissend, daß dieser nicht ausschließlich zur Geltung kommen kann.
Wir sind nicht bloße Theoretiker. Die Zusammensetzung unseres Vereins
und seine bisherigen Taten bürgen dafür, daß wir keine philanthropischen
und wissenschaftlichen Utopien erstreben, sondern auf dem Boden der
Wirklichkeit stehen, insbesondere auch die volkswirtschaftlichen und privat¬
wirtschaftlichen Rücksichten nicht außer acht lassen und uns ein praktisch
erreichbares Ziel stecken. 'Dieses Ziel ist im wesentlichen ein zweifaches:
1. Ausreichendes Tageslicht und unverdorbene Luft überall, in den Woh¬
nungen, auf den Straßen, in den Höfen; 2. Vermeidung von allzu viel Woh¬
nungen in demselben Hause.
„Die letztere Forderung hat nicht bloß eine gesundheitliche, sondern
auch eine soziale Bedeutung. Und mit der Pflege der öffentlichen Gesundheit
geht die Pflege der Sittlichkeit — dieses Wort in engerem und weiterem
Begriffe aufgefaßt — Hand in Hand.
„Bekanntlich haben wir zwei große Gruppen von Wohnformen zu
unterscheiden: Das Eigenhaus und das gemeinschaftliche Miethaus. Beide
Formen sind zwar in ganz Europa bekannt; aber es herrscht doch die be¬
merkenswerte Tatsache, daß das Eigenhaus alsWohntypus vorherrscht in
den Städten Englands, Belgiens, Hollands, des nordwestlichen Deutschland
und des nördlichen Frankreich, während im ganzen übrigen Europa, so
namentlich im größten Teile Deutschlands und in den slawischen und roma¬
nischen Ländern das gemeinsame Miethaus die allgemeine städtische Wohn-
form darstellt. Die örtliche Grenzlinie beider Wohnformen wird annähernd
durch einen Kreisbogen gebildet, der von Amsterdam als Mittelpunkt ge¬
schlagen wird und die Städte Bremen, Koblenz und Amiens umzieht.
Amiens und Bremen sind entschieden Eigenhaus- oder Einfamilienhausstädte;
südlich und östlich davon herrscht das Mehrfamilienhaus, das im Massen¬
miethaus seine abschreckende Entwickelungsstufe zeigt. Dort beträgt die
durchschnittliche Behausungsziffer einer Stadt sechs bis acht Personen, hier
steigt sie auf 60 bis 80! In holländischen Städten wohnt jede Arbeiter¬
familie in einem Hause für sich, in Berlin finden wir hundert und mehr
Arbeiterfamilien in einem Hause. Welche Wohnform die sozial höher stehende
ist, kann nicht zweifelhaft sein. Daß auch gesundheitlich das große Miet¬
haus gegenüber dem kleinen Hause im Nachteil ist, wegen Beschränkung
des Luftraums, Beeinträchtigung von Tageslicht und Sonne, wegen der engen
Berührung so vieler dauernd zusammenlebenden Menschen und aus anderen
Gründen, das von ärztlich sachverständiger Seite ausführlich zu begründen,
wird in dieser Versammlung kaum nötig sein.
„Der Aufschwung der deutschen Städte in der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts hat die Entwickelung des städtischen Wohnwesens sehr fühlbar
beeinflußt, und zwar nicht bloß in günstiger Weise durch technische Fort¬
schritte, durch bessere Ausstattung, durch Wasserversorgung und Kanali-
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Die Bauordnung im Dienste der offentlichen Gesundheitspflege. 175
sation, sondern auch in ungünstiger Weise durch Anhäufung der Wohnungen,
Verkleinerung und Verteuerung des Rauminhalts der einzelnen Wohnung.
In die Städte der nordwestlichen deutschen Eigenhauszone ist das Miethaus
vorgedrungen, die Behausungsziffer rheinischer Städte ist bis auf 20 gestiegen.
Und in den übrigen deutschen Städten hat sich fast durchweg das ursprüng¬
lich für wenige Familien bestimmte Miethaus in der Richtung zum Massen¬
hause vergrößert. Die durchschnittliche Behausungsziffer ist überall —
wenige Ausnahmen rechtfertigen die Regel — gewachsen.
„Sollen wir dieser Entwickelung mit verschränkten Armen Zusehen?
Wer heute noch im Zweifel ist, den darf man unter dem Berge von Schriften
über die Wohnungsfrage nur auf die beiden Werke von Rudolf Eber¬
stadt: „Städtische Bodenfragen“ (mit besonderer Rücksicht auf Berlin) und
„Rheinische WohnungsVerhältnisse“ (mit Bezug auf Düsseldorf, Barmen und
Elberfeld) verweisen. Die Mietkaserne ist der Feind. Das Eigenhaus ist
eine schöne Vätersitte des Westens. Das gemeinsame Miethaus wurzelt, wie
zuzugeben ist, in der Wohnsitte des östlichen, mittleren und südlichen
Deutschland und anderer Länder; aber die Mietkaserne wurzelt ausschließ-
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176 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
lieh in der Bodenspekulation. Es ist keine natürliche, sondern eine künst¬
liche Entwickelung; sie schafft nicht durch Vereinigung zahlreicher Familien
neben- und übereinander in demselben Hause der einzelnen Wohnung mehr
Raum und geringeren Preis, sondern umgekehrt räumliche Beschränkung
und höhere Miete. Und ebenso ist das Eindringen des größeren Miethauses
— gottlob im allgemeinen noch nicht der Mietkaserne — in die deutsche
Eigenhauszone ausschließlich auf die von Osten beeinflußte Bodenspekulation
zurückzuführen. Denn die Vergrößerung der Wohngebäude, die Anhäufung
der Wohnungen, die Steigerung der Mieteinnahme vermehrt den Preis des
Baugrundes. Die künstliche Erhöhung der Bodenpreise ist der treibende
Gedanke im Bautypus des Massenhauses.
„Man darf gewiß nicht die Bodenspekulation als solche verurteilen;
denn sie ist es, die sich die Umwandlung von Ackerland in marktreife
Baugrundstücke zur Aufgabe stellt und dadurch eine sehr wichtige wirt¬
schaftliche Funktion ausübt. Zu bekämpfen aber sind die Auswüchse der
ungezügelten Boden- und Bauspekulation, wie wir sie aus so vielen Beispielen
kennen. Der Ruf nach Zügelung dieser Spekulation durch Stadtbauplan,
Bauordnung und andere Maßregeln der Gesetzgebung und Verwaltung ist
heute weit verbreitet; auch der Verband der deutschen Haus- und Grund-
besitzervereine stimmt diesem Rufe bei und verwirft die zunehmende
Entwickelung des städtischen Wohnwesens zur Mietkaserne.
„Das Eigenhaus ist das beste. Wo es Sitte ist, muß es durch die
Bauordnung geschützt werden. Wo es nicht Sitte ist, muß es wenigstens
ermöglicht werden. Aber auch das kleine Miethaus ist gesundheitlich nicht
zu beanstanden, selbst das mittelgroße Miethaus ist erträglich — bedenklich
unter allen Umständen ist die Mietkaserne. Wo hört aber das erträgliche
Miethaus auf, wo fängt die verwerfliche Mietkaserne an? Die Grenze läßt
sich nicht durch bestimmte und allgemein gültige Zahlen ausdrücken. In
den Eigenhausstädten wird mau vielleicht schon die Vereinigung von sechs
Wohnungen in einem Hause bedenklich Anden; in manchen Miethausstädten
fallt das Sechsfamilienhaus noch unter den Begriff der kleinen Häuser. Ein
Haus mit 12 bis 20 Familien Wohnungen oder 60 bis 100 Einwohnern gehört
aber zweifellos in die Kasernenklasse.
„Somit werden wir aus sozialen und sanitären Gründen das Eigenhaus
und das nur wenigen Familien dienende kleine Haus nach Möglichkeit be¬
günstigen, das mittelgroße Miethaus —7 sagen wir einmal mit drei bis zehn
Wohnungen — nach Möglichkeit zu vervollkommnen suchen, das Massen¬
miethaus aber als ein Übel betrachten, dessen Verbreitung nach Möglichkeit
zu hemmen ist. Denn wirtschaftliche Rücksichten nötigen uns, die Theorie
einzudämmen und auf dem Boden der Wirklichkeit zu bleiben. In Stadtteilen,
wo der Baugrund bereits einen allgemein anerkannten Wert von einer be¬
stimmten Höhe besitzt, der in Kauf und Beleihung, Nutznießung und Be¬
steuerung zum Ausdruck gekommen ist, da ist diese Werthöhe als etwas
Gegebenes zu berücksichtigen. Und wenn sie nur zur Rente gebracht
werden kann durch Erbauung größerer Miethäuser, dann muß der Sozial¬
politiker und Hygieniker vor der wirtschaftlichen Notwendigkeit die Segel
streichen.
„Wir sind nicht so einseitig und unverständig, zu verlangen, daß die
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 177
Erweiterung unserer Städte sich ausschließlich durch den Bau kleiner
Einzelhäuser, umgeben von Gärten, vollziehe, in denen jedermann seinen
eigenen Kohl pflanzt. Aber mit voller Entschiedenheit wollen wir dem
nicht bloß sozialen und gesundheitlichen, sondern auch volkswirtschaftlichen
Unfug entgegentreten, daß in der ganzen Stadtumgebung auf bisher jung¬
fräulichem Boden, dessen Wert bis dahin nach der Fähigkeit bemessen
wurde, Kartoffeln hervorzubringen, vielstöckige Massenhäuser entstehen, um
die Bevölkerung zu kasernieren und dadurch die Bodenwerte künstlich empor¬
zutreiben. Sit modus in rebus. Nach den reellen Bodenwerten einerseits,
nach der Eigenart des Stadtteiles und der voraussichtlichen Bestimmung
seiner Bauten andererseits wollen wir als praktische Leute unsere gesundheit¬
lichen Bauanforderungen einrichten, d. h. abstufen.
„Ich weiß, daß ich in den meisten deutschen Städten mit meinen Aus¬
führungen offene Türen einstoße; aber ich weiß auch, daß in manchen
Städten die Türen für die Abstufung der Bauordnung noch nicht geöffnet
sind, daß selbst in der Verwaltung großer Städte noqh Mißverständnisse in
diesem Punkte obwalten, daß endlich nicht selten Mangel an Einsicht und
geschäftliches Interesse den Fortschritt erschweren.
Viertelj&hrMchrift füx-G^tmdhtitspfleg«, 1904. 12
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178 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öfl'entl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Indem wir von der Abstufung der sanitären Bauvorschriften, von deren
Anpassung an die örtlichen Verhältnisse reden, geben wir zu, daß gewisse
Anforderungen der Hygiene dem Grade nach veränderlich sind, nicht alle.
„Die unveränderlichen Forderungen sind im achten Abschnitt unserer
Leitsätze aufgeführt. Um sie hier vorweg zu nehmen, sei erwähnt, daß die
Abhaltung der Bodenfeuchtigkeit und der Witterungsnässe aus allen zum
Aufenthalt von Menschen bestimmten Gebäuden, die Vermeidung hygienisch
bedenklicher Stoffe zum Aufhöhen von Bauplätzen sowie zum Ausfüllen von
Gewölbzwickeln und Balkenfeldern, die sachgemäße Anordnung, Dichtung
und Prüfung der Gas- und Entwässerungsleitungen, die gute Durchlüftung
der letzteren, endlich die gesundheitlich einwandfreie Bauart von Aborten,
Abortgruben, Müllgruben, Stallungen und Brunnen — daß alle diese Forde¬
rungen keiner Abschwächung unterliegen. Hier handelt es sich durchweg um
die Erstrebung der bestmöglichen Herstellungsart, bei den Aborten allgemein
um tadellose Wasserspülung, sobald das Kanalsystem darauf eingerichtet ist,
bei den zum Verschlingen von Schmutzwasser bestimmten Senk- und Versitz¬
gruben ein unbedingtes Verbot. Eine gewisse Rücksichtnahme auf örtliche
Erreichbarkeit mag Platz greifen hinsichtlich der geforderten Mindestzahl der
Aborte. Grundsätzlich gehört zu jeder Wohnung ein Aboit — nur das gewähr¬
leistet Reinlichkeit, gute Unterhaltung, Vermeidung von Ansteckungsgefahr
und Gestank. Enge Raumverhältnisse aber mögen in alten Stadtteilen die
Forderung dahin ermäßigen, daß auf höchstens zwei Familien oder 10 Personen
ein Abort kommen soll. Wo es sich nicht um Wohnungen, sondern um
Werkstätten, Fabriken, Verkaufsläden u. dgl. handelt, kann die Zahl der
auf einen Abort angewiesenen Personen auf 25 gesteigert werden.
„Die eigentliche Abstufung gesundheitlicher Anforderungen aber ist in
unseren Leitsätzen in den Abschnitten vier bis sieben beleuchtet. An die
Luft- und Lichtversorgung und gegen die Bau- und Wohndichtigkeit stellen
wir um so strengere Forderungen, je weniger uns wirtschaftliche und andere
Rücksichten beengen. Oder besser umgekehrt ausgedrückt: Wir schränken
unsere gesundheitlichen Forderungen auf ein minder großes Maß ein, insoweit
das nötig ist, um die Schädigung berechtigter Geschäfts-, Gewerbe- und
Vermögensinteressen zu vermeiden.
„Das Verhältnis zwischen der Gebäudehöhe und den Ab¬
messungen der unbebauten Hof- und Straßenräume ist grundlegend
für den Grad der Luftversorgung und für den Einfall des Lichts in die
Räume unserer Wohngebäude. Durch die Beschränkung der Hinterland¬
bebauung, durch die Verminderung der Zahl der Wohngeschosse im Hause
und der Wohnungen im Geschoß, vermittelst der Durchsetzung des ge¬
schlossenen Reihen- und Blockbaues mit offener und halboffener Bauweise
wollen wir dem allzu dichten Neben- und Übereinanderwohnen der städtischen
Bevölkerung entgegenwirken, wollen wir die allgemeine Verbreitung des
großen Miethauses und namentlich der Mietkaserne verhindern. Durch die
örtliche Einschränkung lästiger Fabriken fördern wir die Gesundheit und
Annehmlichkeit des Wohnens. Schließlich aber streben wir dahin, daß Luft,
Licht und Sonne den eigentlichen Wohnräumen des Hauses mehr zustatten
kommen als den Nebenräumen.
„Betrachten wir zunächst die Abstufung dieser gesundheitlichen
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 179
Anforderungen nach Ortsteilen, so kennen wir alle den hygienischen
Satz, daß den Wohnräumen das Himmelslicht in einem Winkel zufallen soll,
der nicht kleiner ist als 45 Grad, d. h. von jedem Erdgeschoßfenster, ja von
jedem Kellerfenster aus, insoweit der Keller Räume zum dauernden Aufenthalt
von Menschen enthält, soll man das Himmelsgewölbe in einer Richtungslinie
sehen können, die von der Senkrechten um höchstens 45 Grad abweicht.
Ich weiß, daß auch andere Lichteinfallwinkel wissenschaftlich untersucht
und empfohlen worden sind, aber ich erwähne hier die einfache Halbierung
des rechten Winkels, da wir ohnehin zu Abstufungen genötigt sind. Die
Rücksicht auf den Lichtwinkel hat zu der Forderung sich verdichtet, daß
jedes zur Beleuchtung eines Wohnraumes notwendige Fenster von einer
gegenüberstehenden Gebäudewand wenigstens so weit entfernt sein soll, als
diese Wand hoch ist; oder was annähernd dasselbe ist: Straßenbreite = Ge¬
bäudehöhe (b = Ä); Abstand der Gebäudeseiten am Hofe gleich Höhe der¬
selben (bi = Ä x ).
„Dabei ist zweierlei zu berücksichtigen. Enthält das Kellergeschoß
keine zum dauernden Aufenthalt dienenden Räume, kommt also nur das
Erdgeschoß in Frage, so wird beim Verhältnis h = b und hi = b x der
Lichteinfallwinkel der Erdgeschoßfenster größer als 45 Grad, also günstiger;
das schadet nicht. Soll ferner der Winkel von 45 Grad für die Belichtung
eines Fensters gesichert sein, so muß der Abstand desselben von der
gegenüberliegenden Wand sich richten nach der Höhe dieser fremden
Wand, nicht nach der Höhe der eigenen Wand. h oder h x bedeutet
nicht die eigene, sondern die jenseitige Höhe. An der Straße führt
das zu keinen Schwierigkeiten; h = b gilt für die eine wie für die andere
Straßenseite. Am Hofe ist das oft anders, weil es ja dem Besitzer eines
Baugrundstücks in der Regel unverwehrt ist, auf der Grenze seines Eigen¬
tums ein Gebäude aufzuführen, ohne auf den Lichteinfall des Nachbars
Rücksicht zu nehmen; er kann in der Regel nur verpflichtet werden, die
Höhe seiner Gebäudeteile zu den freien Räumen auf seinem eigenen Grund¬
stück in Beziehung zu setzen. Für den Nachbar gilt das gleiche. Unter
solchen Verhältnissen kommt man notgedrungen dazu, in der Abstandsregel
b x = \ den Wert h x nicht auf die fremde, sondern auf die eigene Außen¬
wand zu beziehen, indem man sagt: ein Gebäude soll nicht höher aufgeführt
werden, als es von der Grenze des Grundstücks oder von einer gegenüber¬
liegenden anderen Gebäude wand entfernt ist. Diese Unstimmigkeit kann
den Lichteinfallwinkel ungünstig oder günstig beeinflussen. Bei b x = h x
kann der Lichtwinkel ^45° sein.
„Die Regel h = b läßt sich in neuen Stadtteilen ohne Schwierigkeit
durchführen, sie steht auch fast überall in Kraft, ja zumeist übertrifit wohl
die lichte Breite des Straßenraumes die Gebäudehöhe. Auch bei schmalen
Wohnstraßen läßt der Lichtwinkel sich durch Vorgärten sichern. Nicht so
in alten Stadtteilen; hier ist man oft genötigt, h > b zuzulassen, was ja
auch in gewissem Maße unbedenklich ist, wenn das Kellergeschoß keine
Wohnräume, Läden usw. enthält. Ob es rätlicher ist, die Gebäudehöhe die
Straßenbreite um ein absolutes Maß, z. B. 2 oder 3 m, übersteigen zu lassen
oder die Mehrhöhe als Bruchteil der Straßenbreite festzusetzen, z. B.
h = 1 l /g b oder l 1 /^, das muß örtlich entschieden werden. Ersteres ent-
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180 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
spricht mehr der wirtschaftlichen, letzteres mehr der gesundheitlichen An¬
schauung.
„Die Abstandsregel hx = b x läßt sich dagegen weder in alten noch in
neuen Stadtteilen leicht durchführen. Führt sie schon an sich, wie gesagt,
oft einen geringeren Lichteinfallwinkel als 45 Grad herbei, so haben die
wirtschaftlichen und gewerblichen Verhältnisse leider der Regel nach zu
noch größerer hygienischer Bescheidenheit genötigt. Die Vorschrift h x = b x
ist meines Wissens zuerst vom Vater unserer modernen Bauordnungs¬
wissenschaft, R. Baumeister, in Außenteilen von Mannheim verwirklicht;
sie ist seitdem in manche andere Bauordnungen eingeführt worden, aber
immer nur für bestimmte äußere Ortsteile, wo Bauart und Wohnform es
zulassen, oder für den hinteren Teil der Grundstücke, z. B. in mehr als
18 m Abstand von der Baufluchtlinie. Im übrigen aber ist zumeist hx ]> b x .
Als zweckmäßige Abstufungen haben sich namentlich erwiesen die Sätze:
h x = b x = 1*5 ; ausnahmsweise auch hx = 2 b x .
„Wir wollen aber nicht bloß den Lichteinfallwinkel regeln, der ja bei
hohen Gebäuden mit großen Höfen derselbe sein kann wie bei niedrigen
Gebäuden mit kleinen Höfen, der aber, wie erläutert, im Innern der Grund¬
stücke überhaupt nicht allgemein in der erwünschten Größe von 45 Grad
zu erzielen ist — sondern wir wollen Luft, Licht und Besonnung auch da¬
durch verbessern, daß wir die Anhäufung der Wohnungen überhaupt mäßigen,
wo es wirtschaftlich unbedenklich ist. In diesem Sinne empfiehlt es sich,
die zulässige Höhengrenze der Gebäude nach Ortsteilen ab¬
zustufen, also im Innern der Stadt z. B. 20 m oder 18 m Gebäudehöhe,
von der Straße bis zur Dachtraufe gemessen, zuzulassen, in äußeren Stadt¬
teilen aber die Einschränkung bis auf 16 m, 14 m, 12 m vorzuschreiben.
„Denselben Zweck verfolgt die örtliche Abstufung der zulässigen
Zahl der Wohngeschosse. In östlichen und südlichen Städten, z. B. in
Berlin, Dresden und München, sieht man sich genötigt, fünf übereinander
liegende Wohngeschosse in der inneren Stadt zu dulden; in westlichen
Städten, z. B. Köln und Düsseldorf, geht man nicht über vier Wohn¬
geschosse. Dabei werden Keller- und Dachgeschoß, insoweit letzteres nicht
ganze Wohnungen enthält, außer acht gelassen. In Dresden und Berlin
wäre es ein harter wirtschaftlicher Eingriff, wollte man in der inneren
Stadt das fünfte Obergeschoß nicht mehr zulassen; in Köln und Düsseldorf
wäre es ein hygienischer Mißgriff, wollte man das fünfte Obergeschoß ent¬
gegen der bisherigen Bausitte mehr als ganz ausnahmsweise gestatten. Für
äußere Ortsteile geht die Geschoßzahl herab auf vier, drei und zwei, je nach
dem herrschenden Bodenwert und der zu erwartenden oder zu erstrebenden
Wohnform. In mittleren und kleineren Städten sollten, bisherige Bau¬
gepflogenheiten fortsetzend, mehr als drei übereinander liegende Wohn¬
geschosse überhaupt nicht zugelassen werden.
„Die besprochene Beschränkung der Gebäudehöhen und der Gescho߬
zahl fördert die Weiträumigkeit des Wohnens und zugleich die wohl¬
verstandenen Interessen des Grundbesitzes dadurch, daß die Wohnungen
über größere Flächen ausgedehnt und zahlreichere Grundstücke der Wertsteige¬
rung durch denWohnzweck zugänglich gemacht werden. Dieser extensiven
Wertsteigerung steht freilich die Beschränkung der intensiven Wertsteigerung
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182 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
gegenüber. Es ist aber ein Irrtum, daß die dichte Bebauung eine Quelle
des Reichtums der Stadtbevölkerung sei, die weiträumige Bebauung nicht.
Neapels Bevölkerung z. B. ist weit ärmer als diejenige Brüssels. Die dichte
Bebauung macht vielmehr das Gros der Einwohnerschaft einigen wenigen
tributpflichtig, während die weiträumige Bebauung die Zahl der Eigentümer
vermehrt. Die Statistik zeigt deutlich diese soziale Überlegenheit der west¬
lichen Eigenhausstädte gegenüber den östlichen Miethausstädten.
„Fernere Mittel zur Erzielung weiträumigen Wohnens unter verbesserten
Luft-, Licht- und Besonnungsverhältnissen sind die Vorschriften der Frei¬
lassung des Hinterlandes und die Vorschriften der offenen Bauweise in ihren
verschiedenen Abarten.
„Die Freilassung des Hinterlandes kann herbeigeführt werden auf
verschiedenen Wegen. Man kann in gewissen Ortsteilen die Herstellung von
Hinterwohnungen, d. h. von Wohnungen, die nur vom Innern des Grund¬
stücks Luft und Licht beziehen, untersagen. Man kann die Zahl der in
demselben Geschoß zulässigen Wohnungen überhaupt beschränken, z. B. auf
vier, drei oder zwei, jedenfalls die Zulassung der dritten und vierten Woh¬
nung von ausreichender selbständiger Durchlüftung abhängig machen, wie
es hier in Sachsen geschieht. Auch kann man vorschreiben, daß in gewissen
Blöcken oder Ortsteilen über eine bestimmte rückwärtige Baulinie (z. B. über
eine in 18 m der vorderen Baufluchtlinie parallel gezogene Linie) hinaus
nicht gebaut oder nur bis zu einer geringen Höhe gebaut werden darf. Das
sind vielerlei vortreffliche Mittel, um auch bei geschlossenem Reihenbau die
Entstehung eines geräumigen freien Blockinnnern herbeizuführen, so daß
sehr angenehme und gesunde Wohnungen sich rings um eine zusammen¬
hängende Gartenfläche reihen. Namentlich für Familienhäuser liefert die
Beobachtung einer rückwärtigen Baulinie ein sehr gutes und empfehlens¬
wertes Bau- und Wohnsystem. Freilich können solche Bestimmungen tief
einschneidend sein und sind unter Umständen einschneidender als die
Vorschrift offener Bauweise. Es ist darum nach den Verhältnissen des
Orts vorsichtig abzuwägen, in welchen Geländeteilen derartige Bestimmungen
ohne Verletzung berechtigter Interessen überhaupt durchführbar sind. Be¬
scheidener wirken auf Weiträumigkeit hin die üblichen Vorschriften über
Mindestbreite und Mindestfläche der Höfe, die als eine Ergänzung der vorhin
besprochenen Abstandsregel zu betrachten sind. Man findet vorgeschriebene
Mindestbreiten von 3 bis 7 m, Mindestflächen von 15 bis 60 qm; auch
Verhältniszahlen zwischen Hofinhalt und Grundstücksinhalt, die ungefähr
von 1:5 bis 3:5 abgestuft sind. Die gesundheitliche Bedeutung dieser
Maße und Zahlen ist, weil abhängig von der Bauplatzeinteilung, der Gebäude¬
höhe und der Bauweise, örtlich zu beurteilen; sie unterliegen deshalb auch
der örtlichen Staffelung. Einen allgemein gültigen, absoluten Wert besitzen
sie nicht. Von besonderer Wichtigkeit und gesundheitlichem Einflüsse kann
aber die in einigen Bauordnungen, z. B. für Teile von Frankfurt a. M. und
von sächsischen Städten, sich findende vortreffliche Bestimmung sein, daß
die erforderliche Flächengröße des Hofraumes bemessen wird nach der Zahl
der Familien, die im Hause wohnen.
„Manche unnötige Fehde in Schrift und Wort hat die Frage der offenen
Bauweise veranlaßt. Diese ist keineswegs gleichbedeutend mit Weiträumig-
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 183
keit des Bauens, sondern sie ist, wie gesagt, eines der Mittel, um die Weit¬
räumigkeit herbeizuführen. Betrachten wir zuerst die offene Bauweise im
strengsten Sinne, so ist es klar, daß ein von allen Seiten freistehendes Ge¬
bäude der Luftversorgung, dem Lichteinfall und der Besonnung grundsätz¬
lich besser zugänglich ist als ein von zwei oder drei Seiten eingebautes Haus.
Ebenso ist klar, daß in einem offen umbauten Block ein freierer und frischerer
Luftwechsel und eine geringere Behinderung sowohl des diffusen Himmels¬
lichtes als der unmittelbaren Sonnenstrahlen stattfindet als in einem rings
umbauten Block. Dazu bedarf es wirklich keiner gelehrten und ungelehrten
Luftbewegung8 - und Belichtungstheorien. Es ist ferner unbestreitbar,
daß der Lärm und Staub einer schlecht angelegten und unterhaltenen
Straße in das Zimmer eines offenen Blocks leichter eindringen kann als in
einen geschlossenen Block, wie es umgekehrt sicher ist, daß bei einem ge¬
schlossen umbauten Block mehr Fenster und Türen den Straßenstaub zum
Eindringen in die Wohnungen einladen als bei einem offen bebauten Block.
Daraus ist nach meiner Meinung nicht zu folgern, daß die Fenster- und
Türöffnungen und die Bebauungslücken schlechte Einrichtungen seien, daß
man alle diese Öffnungen schließen müsse, um nach orientalischer Sitte alle
Luft und alles Licht vom Innern der Grundstücke und der fest umschlossenen
Blöcke zu nehmen, sondern es ist der Schluß zu ziehen, daß städtische
Straßen gut hergestellt, unterhalten und gereinigt Werden müssen. Die
offene Bauweise ist aber unter Umständen mit anderen, nicht gesundheit¬
lichen, sondern wirtschaftlichen Schwierigkeiten verknüpft. Sie hat ähnlich
wie das Verbot der Bebauung des Hinterlandes und wie das unbedingte
Verlangen eines Lichtwinkels von 45 Grad eine so stark verminderte Aus¬
nutzung der Fläche zur Folge, daß bei allgemein anerkannten Bodenpreisen
von bestimmter Höhe der Grundstücks wert nicht mehr zur Rente gebracht
werden kann.
„Sie eignet sich ferner wenig für gewerbliche und geschäftliche Betriebe,
vielleicht mit Ausnahme von Restaurationen, Gasthöfen und gewissen Verkaufs-
geschäften, denen eine Ausstellung im Freien dienlich ist. Und endlich ist
sie im allgemeinen wegen der erhöhten Baukosten und Heizungskosten wenig
vorteilhaft für die Schaffung billiger städtischer Kleinwohnungen. Somit
wird man sie in der Bauordnung einer Stadt gern auf nicht zu teuere, schön
gelegene Gelände beschränken, die zur Errichtung vornehmerer Wohnhäuser
oder besserer Mittelstandswohnungen einladen, und zwar in einer Ausdehnung,
die den Verhältnissen der Ortsbevölkerung entspricht. Bewährte Beispiele
sind Ihnen aus fast allen Städten bekannt. Badeorte und Rentner¬
städte können ausgedehntere Villenbezirke oder Landhausviertel gebrauchen
als Industrieorte.
„Nun aber ist der Begriff eines Landhausviertels keineswegs identisch
mit „offener Bauweise“, namentlich dann nicht, wenn man bei letzterer die
ganz offene, die halb offene und die Gruppenbauweise unterscheidet. Die
Terminologie steht nicht fest. Ich möchte mit „ganz offener u oder schlecht¬
hin „offener u Bauart diejenige bezeichnen, bei welcher jedes Haus von allen
Seiten frei steht, auf jedes Haus an der Straße also eine Lücke, ein sogenannter
„Wich“, folgt. Werden zwei oder drei (vielleicht sogar vier bis fünf) Häuser
aneinandergebaut, ehe ein Wich folgt, so entsteht die „Gruppenbauweise“,
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184 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
bei welcher ein Häuserblock immer noch nach allen Seiten offen ist Die „halb-
offene“ Bauweise aber entsteht, wenn zwei ganze Seiten eines viereckigen
Blocks geschlossen bebaut werden, während die beiden anderen Seiten offen
bleiben. Man bemerkt, wie die vorhin erwähnten wirtschaftlichen Nachteile
des offenen Bauens beim Gruppenbau und noch mehr beim halboffenen
Block sich mildern, wie deshalb der Gruppenbau besonders für Mittelstands-
Wohnungen, der halboffene Bau auch für städtische Arbeiterwohnungen
recht brauchbar ist. Gesundheitlich ist die halboffene Bauweise besonders
dann empfehlenswert, wenn die offenen Blockseiten so zu den Himmels¬
richtungen gelegen sind, daß sie die Sonnenstrahlen ungehindert in das
Blockinnere eintreten lassen. Soviel ich weiß, sind diese halboffenen
Blöcke namentlich in sächsischen Städten beliebt; ich habe mich selbst be¬
müht, sie in verschiedenen anderen Städten einzuführen.
„Über die Haushöhe und Wichbreite lassen sich allgemein Vorschriften
nicht aufstellen; das ist örtlich zu regeln, kann auch örtlich abgestuft
werden. Man wird gut tun, die Wichbreite in Beziehung zu setzen zur
Gebäudehöhe, unter Umständen auch zur Gebäudetiefe. Geringer als 3m
bis zur Grenze, also geringer als 6m von Haus zu Haus, wird man den
Wich nicht anordnen dürfen; denn bei 12m Höhe gibt das schon ein
Verhältnis h x = 2:1. Beim Gruppenbau wird man anf größere, bei der
halboffenen Bauweise auf noch größere Lücken (im letzteren Falle etwa
20 m) halten müssen, um dem Zwecke der Lüftung und Besonnung des
Blockinnern gerecht zu werden. Bei den verschiedenen Arten der offenen
Bauweise ist es leichter, die Abstandsregel 1^ = bi im Innern der Grund¬
stücke durchzuführen als beim geschlossenen Reihenbau, da die hohe Grenz¬
bebauung fortfällt.
„Wir haben in unseren Leitsätzen den Wechsel zwischen geschlossener
und offener Bauart verlangt, einesteils weil die allgemeine Anwendung der
letzteren an den geschilderten Schwierigkeiten scheitert, anderenteils weil
die offenen Bauviertel nach Art öffentlicher Gärten, wenn auch in ab¬
geschwächter Weise, den benachbarten geschlossenen Blöcken und der auf
den Straßen verkehrenden Bevölkerung zustatten kommen. Man setzt ge¬
wissermaßen Reservoirs frischer Luft zwischen die geschlossenen Mauerblöcke,
und das Pflanzenleben erfreut — wie ein Stück Ländlichkeit — Auge, Gemüt
und Lunge aller.
„Einen Vorwurf hat man gegen die offene Bauweise wie gegen das
Eigenhaussystem und das weiträumige Bauen überhaupt erhoben, der noch
einige Aufmerksamkeit verdient. Man befürchtet, daß die größere Aus¬
breitung der Stadt die Anlage- und Unterhaltungskosten des Straßennetzes
und der Leitungsnetze ins Unerträgliche steigere. Diese Befürchtung ist
der Theorie entnommen, nicht der Erfahrung. Stehen Bremen und Brüssel
in diesem Punkte wirklich ungünstiger als — um irgend welche Namen zu
nennen — als Posen und Stettin? Hat nicht die dichte Zusammendrängung
der Bevölkerung breitere Straßen, erhöhte Straßenanlagekosten und ver¬
mehrte Unterhaltungskosten zur Folge? Sind nicht die Unterhaltungskosten
reiner Wohnstraßen bei weiträumiger Bebauung und guter Anlage fast
Null? Sollte aber das in mäßigen Grenzen gehaltene weiträumige, gesunde
Wohnen an die Gemeinde wirklich auch in mäßigen Grenzen erhöhte An-
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
185
sprüohe stellen, so darf man fragen: gibt nicht mit Recht die Gemeinde für
andere hygienische Einrichtungen Millionen aus?
„In Paris und in italienischen Städten geht man bis zu sieben und acht
Wohngeschossen; es ist zuzugeben, daß die südlichen Verhältnisse gleich der
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186 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
südlichen Sonne anders zu beurteilen sind. Ob ein so sehr großer Unter¬
schied gegen deutsches Wohnen gerechtfertigt ist, lasse ich aber dahingestellt.
In Amerika geht man noch weiter. Ich habe, abgesehen von den 45 stockigen
Geschäftshäusern, von 21 Wohngeschossen übereinander gelesen. Gesehen
habe ich das nicht, ich würde sonst mit größerer Sicherheit über diese
Entwickelung urteilen körihen. Ich denke mir aber, daß sich das ertragen
läßt, solange die Wolkenkratzer nur vereinzelt emporsteigen, daß aber die
Straßen zu Kellerschlitzen und die Höfe zu Schornsteinen werden, daß ferner
die unteren 15 Geschosse auch bei Tage der künstlichen Beleuchtung be¬
dürfen, wenn dies Bausystem verallgemeinert wird. Sollte ich mein Urteil
nach einem demnächstigen Besuche in Amerika ändern, so werde ich nicht
unterlassen, mich zu berichtigen.
„In unseren Leitsätzen finden Sie schließlich bei der Abstufung nach
Ortsteilen erwähnt, daß gewerbliche Betriebe, welche durch Lärm, Staub,
Rauch oder Ausdünstungen gesundheitsschädigend oder belästigend wirken,
von den Wohnstätten tunlichst fern gehalten werden sollen. Das heißt, es
sollen diese lästigen Betriebe in reinen Wohnvierteln untersagt werden.
Daraus folgt aber ihre Sammlung und Begünstigung in anderen Ortsteilen,
somit die Einteilung der Stadt in Wohnviertel, gemischte Viertel und Fabrik¬
viertel. Ist diese Teilung grundsätzlich wohl überall als zweckmäßig an¬
erkannt, so müssen wir doch, um nicht als einseitige Hygieniker zu er¬
scheinen, entschieden betonen, daß die polizeiliche Negative nicht genügt,
daß vielmehr im wohlverstandenen wirtschaftlichen Interesse der Gesamt-
bevölkerung kommunale positive Maßregeln hinzutreten müssen. Die Fabrik¬
viertel müssen nicht bloß im sogenannten Bauzonenplan mit einer rußigen
Farbe bezeichnet, sondern es muß zugleich für die einladenden Vorbedingungen
des Gewerbebetriebes, besonders des Großgewerbebetriebes, auf den rußigen
Flächen gesorgt werden, namentlich durch Verkehrseinrichtungen: Straßen,
Wasserwege, Eisenbahnanschlüsse, Industriebahnen, durch öffentliche Ent¬
wässerungsanlagen, durch den Bau von Arbeiterwohnungen in der Nähe.
„Die Abstufung der Bauvorschriften nach Gebäudegattungen
entspricht der Absicht, die Entstehung des Eigenhauses und des kleineren
Miethauses, wie wir es aus gesundheitlichen und sozialen Gründen anstreben,
zu begünstigen, das Eigenhaus, wo es besteht, zu schützen, dem kleineren
Hause den Wettbewerb mit dem großen Massenhause zu erleichtern. Dabei
kann es sich selbstredend nur um solche Verschiedenheiten in den Bau¬
bestimmungen handeln, die in dem Unterschiede der Baulichkeiten begründet
sind. Treppen, Flure, Mauerstärken können beim kleinen Hause in den
Abmessungen sparsamer gehalten werden. Aber wir haben es hier nur mit
gesundheitlichen Vorschriften zu tun. Nun wird man nicht etwa sagen
wollen: das kleine Haus soll an die Luftversorgung, den Lichteinfall, an
Zwischenböden, Gasleitungen, Entwässerungsanlagen, Aborte, Brunnen u.s.w.
geringere hygienische Ansprüche machen als das große. Wohl aber wird
man z. B. in bezug auf Stockwerkshöhen und auf die zulässige Zahl der
Wohngeschosse dem Eigenhause und dem kleineren Miethause entgegen-
kommen dürfen.
„Man kann, um die Errichtung von Einfamilienhäusern und kleineren
Miethäusern für Mittelwohnungen und Arbeiterwohnungen zu begünstigen,
Digitized by Google
Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 187
die Lichthöhen in den oberen Geschossen etwas ermäßigen, z. B. von
dem üblichen Maß von 3 m znrückgehen auf 2*85 m oder 2*75 m. Das recht¬
fertigt sich durch die geringere Dichtigkeit der Bewohnung sowie durch den
verbesserten Luftwechsel und den günstigeren Lichteinfall, vorausgesetzt,
daß für die letzteren Vorzüge wirklich gesorgt ist.
„Man kann auch in dem Einfamilienhause und kleineren Miethause
ein Wohngeschoß mehr zulassen, als in dem betreffenden Ortsteil für größere
Miethäuser gestattet ist. Das klingt paradox, ist aber doch zutreffend.
So ist z. B. in Hannover und Posen in der zweigeschossigen Bauklasse ein
drittes Wohngeschoß unter dem Namen Wirtschaftsgeschoß zugelassen, sobald
es sich offenkundig um die Errichtung eines Einfamilienhauses handelt.
Denn in der Tat verdient das dreigeschossige Einfamilienhaus bei guter
Luft- und Lichtversorgung gesundheitlich wie sozial den Vorzug vor dem
zweigeschossigen Hause, welches in mehrere, vielleicht zahlreiche Wohnungen
geteilt ist. Ebenso dürfte der Vergleich eines viergeschossigen Hauses,
welches in jedem Stockwerke zwei abgeschlossene Arbeiterwohnungen enthält,
mit einem dreigeschossigen Gebäude, das etwa in 24 Kleinwohnungen zerteilt
ist, in der Regel zugunsten des ersteren ausfallen.
„Sie bemerken, daß die Abstufung gewisser Bauvorschriften nach
Gebäudegattungen nicht die allgemeine Bedeutung besitzt wie die Staffelung
der Baudichtigkeit nach Ortsteilen. Sie enthält aber einen fruchtbaren,
entwickelungsfähigen sozialen Kern und durfte in diesem Zusammenhänge
nicht übergangen werden, weil sie an manchen Orten, namentlich im Westen,
als ein willkommenes und gesundheitlich zulässiges Mittel zur Förderung
des Kleinwohnungsbaues sich erwiesen hat.
„Daß nach Raumgattungen die gesundheitlichen Ansprüche
verschieden sind, ist allgemein anerkannt. Man unterscheidet Räume
zum dauernden Aufenthalt von Menschen und solche Räume, die nur
zum vorübergehenden Aufenthalt bestimmt sind. Zu ersteren rechnet man
Wohn-, Schlaf-, Arbeite- und Geschäftsräume, also auch Kochküchen, Werk¬
stätten, Verkaufsläden und Wirtszimmer. In die Gruppe der vorübergehend
benutzten Räume fallen dagegen Waschküchen, Badezimmer, Speisekammern
und sonstige Vorratsräume, Aborte, Treppenhäuser und Flure.
„Die mehrfach besprochene Abstandsregel zugunsten des Lichteinfalls
bezieht sich nur auf die zur Erhellung der dauernd zu benutzenden Räume
nötigen Fenster. Es würde die Grundrißbildung namentlich ausgedehnter
Gebäude in unzulässiger Weise hemmen, wollte man den gleichen Licht-
einfallswinkel auch für die Fenster derjenigen Räume verlangen, die nur
zum vorübergehenden Aufenthalt von Menschen bestimmt sind. Oberlicht
von angemessener Größe und das Tageslicht aus kleineren Höfen wird hier
als ausreichend zu betrachten sein. Einer gewissen Mindestvorschrift sollten
aber auch diese Hilfshöfe, zumeist Lichtböfe genannt, genügen. Vielleicht
ist als zulässiges Mindestmaß der Breite 2*5 m, des Flächeninhalts also
6*25 qm anzusehen, wenn nicht die Höhe der Umfassungen des Lichthofes
über 10 m hinausgeht. Schreibt man ein Viertel der Mehrhöhe als Breiten¬
vergrößerung vor, verlangt also beispielsweise für 16 m Höhe eine Hofbreite
von 4m, so erhält man für die in Rede stehenden untergeordneten Räume
eine Abstandsregel 1:4, d.h. einen kleinsten Lichteinfallwinkel von 14 Grad.
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188 XXV11I. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Außer dem Winkel des Lichteinfalls ist aber der Öffnungswinkel, clh.
die Höhe und Breite der lichtdurchlassenden Fläche von Bedeutung. Man
will eben nicht bloß direkte Strahlen des Himmelslichts an der Fensterwand,
sondern auch möglichst tief in den Raum hinein. Die unteren Geschosse
sind in dieser Beziehung schlechter daran als die oberen; für erstere
sind darum Vorschriften am nötigsten. Für alle dauernd benutzten Räume
pflegt man die geforderte Flächengröße der Fenster in Beziehung zu setzen
zur Fußbodenfläche oder, was noch zutreffender ist, zum Rauminhalt. Das
Verhältnis von 1 qm Fensterfläche zu 8 qm Fußboden oder zu 25 cbm Raum
ist -meines Wissens allgemein als gut anerkannt. Die theoretische Be¬
gründung würde hier zu weit führen. Bei bescheideneren Ansprüchen ist
man sogar auf das Verhältnis 1:12 bzw. 1:40 hinabgegangen.
„Von Räumen zum vorübergehenden Aufenthalt sind es nur die Aborte,
die sich in den Bauordnungen einer Fürsorge für die Fenstergröße erfreuen;
und zwar mit Recht, da die ausreichende Erhellung des Aborts die Vor¬
bedingung seiner Reinhaltung ist. Man pflegt das Verhältnis 1 qm Fenster
zu 8 qm Fußboden, außerdem aber die unbedingte Lage des Abortraumes
an einer Außenwand oder einem genügend großen Lichthofe vorzuschreiben,
die mittelbare Erhellung eines Aborts vom Treppenraum oder Flur also zu
untersagen.
„Eine ganz schwierige Frage ist die, ob in der Bauordnung auch ein
Mindestraumgehalt einer Familienwohnung vorgeschrieben werden soll. Im
Wege des Privatvertrages mit Ankäufern oder Erbpächtern stößt ein dies¬
bezüglicher Vorbehalt auf keine Schwierigkeiten. Auch pflegt man in
Wohnungspolizei Verordnungen einen gewissen Mindestraum für jeden
Schläfer zu fordern, meistens 10 cbm für den Erwachsenen, 5 cbm für Rinder.
Aber die Übertragung des letztgedachten Maßes in die Bauordnung führt
zu so kleinen Raumgrenzen, daß praktisch damit nichts gewonnen ist. Man
müßte schon wenigstens 50 oder 60 cbm als kleinsten Inhalt einer Familien¬
wohnung für mehr als zwei Personen feststellen, um einen geringen Einfluß
auf die Abteilung der Kleinwohnungen auszuüben: aber auch das bedeutet
nur, daß eine Familienwohnung mindestens aus einem mittelgroßen oder aus
zwei sehr kleinen Räumen bestehen muß. Immerhin mag das empfehlens¬
wert sein gegenüber der Tatsache, daß die Wohnungsenquete in fast allen
Städten, wo man überhaupt ernsthaft an die Untersuchung herangetreten
ist, beängstigend kleine Rauminhalte ergeben hat. In München maß z. B.
die ermittelte kleinste Wohnung nur 8‘9 cbm 1 ). Bodenkammern für Dienst¬
boten gingen dort sogar zurück bis auf 6*9 cbm Inhalt. Es ist gewiß nicht
zu viel, wenn man in der Bauordnung fordert, daß den Schlafräumen für
Dienstboten (die sich im Bauplan als Mädchenkammern kenntlich zu machen
pflegen) ein Rauminhalt von wenigstens 15 cbm für die Person gegeben werde.
„Aber nicht bloß der Lichteinfall und der Rauminhalt, auch die Lage
ist für die gesundheitliche Beurteilung einer Wohnung von Einfluß. Sonnige
Lage oder Nordlage, Dachgeschoß und Kellergeschoß kommen in Frage.
Dachräume für den dauernden Aufenthalt von Menschen sind
durch geeignete Bauart gegen die Einwirkungen von Hitze und Kälte und
l ) Zeitschrift für Wohnungswesen in Bayern, Jahrgang I, Seite 41.
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 189
gegen rasche Temperaturwechsel zu schützen; das bezieht sich namentlich
auf den Fall, daß diese Räume zu ganzen Familien Wohnungen dienen. Mit
der lichten Höhe kann wegen der besseren Luft- und Lichtversorgung wohl
unbedenklich auf 2*6 oder 2*5 m zurückgegangen werden; aber Dachräume
für den dauernden Aufenthalt über dem Kehlgebälk, also zwei bewohnbare
Dachgeschosse übereinander, sollte man niemals zulassen.
„Eine besonders sorgfältige Behandlung erheischt schließlich das
Kellergeschoß, insoweit es Räume zum dauernden Aufenthalt enthalten
soll. Einzelne Räume dieser Art wird man bei vollständigem Schutz gegen
Feuchtigkeit, guter Lüftung, hinreichendem Lichteinfall und mäßiger Tief läge
des Fußbodens zwar dort zulassen können, wo diese Benutzung des Keller¬
geschosses bisher üblich ist, obschon es sich wegen der beeinträchtigten
Wärmezufuhr und der im Vergleich mit den oberen Geschossen stets minder¬
wertigen Lioht- und Luftversorgung keinesfalls um eine hygienisch er¬
wünschte Einrichtung handelt. Sie einzuführen, wo sie noch nicht besteht,
wird keinem Hygieniker einfallen. Auch wird es statthaft sein, in großen
öffentlichen und Privatgebäuden, wenn man auf besonders gute Ausführung
rechnen darf, eine verhältnismäßig luftige und helle Hausmeisterwohnung
oder Pförtnerwohnung im Kellergeschoß zuzulassen. Ja, man kann, genötigt
von ererbten örtlichen Gepflogenheiten, mit denen wirtschaftliche Existenzen
verknüpft sind, in alten Stadtteilen unter Umständen vielleicht auch einen
Schritt weitergeben. So habe ich beisqielsweise in Posen selbst vorschlagen
müssen, bei Neubauten im alten Stadtkern zu gestatten, daß auch in Zu¬
kunft eine, höchstens zwei, an der Straße liegende Kellerwohnungen in
einem Hause eingerichtet werden; dabei ist vornehmlich an die üblichen
Läden für Gemüse und andere Lebensmittel gedacht. Aber folgende Ge¬
sichtspunkte sind auf alle Fälle zu beobachten: jede solche, ausnahmsweise
zugelassene Kellerwohnung muß durchlüftet werden können; keine derartige
Wohnung darf ausschließlich nach Norden liegen; und endlich in neuen Stadt¬
teilen ist die Einrichtung von ganzen Kellerwohnungen unbedingt zu ver¬
bieten. Hier ist nirgendwo ein berechtigtes wirtschaftliches Interesse vor¬
handen, dem zuliebe es zu verantworten wäre, einen Teil der Bevölkerung in
Wohnungen zu treiben, welche grundsätzlich in gesundheitlicher Beziehung
minderwertig sind.
„Meine Herren! Auf der hiesigen Städteausstellung spielt auch das
Baupolizeiwesen als Ausstellungsgegenstand eine Rolle, freilich eine recht
bescheidene Rolle. Unter 128 an der Ausstellung beteiligten Städten habe
ich 20 gezählt, die ihre „Bauzonenpläne u , richtiger gesagt: ihre Ortspläne
über die Verteilung der Bauklassen ausgestellt haben. Mein Herr Vorredner
hat in diesem Saale eine weitere Sammlung von Bauzonenplänen ausgehängt 1 ).
Auch sind auf der Ausstellung manche gedruckte Bauordnungen ausgelegt;
die kann man aber nicht im Vorübergehen studieren. Eine wirkliche Ver¬
anschaulichung von Bauvorschriften bieten nur die sechs Städte Breslau,
l ) Mehrere dieser Bauzonenpläne sind in den hierzu gehörigen Abbildungen
wiedergegeben. Die Bauzonenpläne von Altona, Bochum, Frankfurt a. M., Han¬
nover, Köln, Wiesbaden und Wien finden sich im Heft I, Jahrg. 1896 dieser Zeit¬
schrift. D. Red.
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190 XXVIII. Versammlung d. I). Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Dortmund, Dresden, Hannover, Mannheim und Wiesbaden. Wirksam sind
besonders die zeichnerische Verdeutlichung gewisser Hauptvorschriften von
Dresden, Hannover und Wiesbaden und die Modelle von Mannheim. Diese
Modelle reden deutlicher und eindringlicher über die Bedeutung der Luffc-
und Lichtversorgung der Wohnungen als ein ganzes Buch; man darf die
Stadt Mannheim, so scheint mir, beglückwünschen, daß sie die Bauordnung
von 1892 durch eine neue ersetzt hat. Auch darf man das Königreich
Sachsen beglückwünschen zu seinem neuen Baugesetz, dessen Anwendung
in den Städten des Landes manchen Widerstand, aber schließlich doch weit
mehr Anerkennung gefunden hat und überall Segen stiftet. Im übrigen
werde ich mich hüten, hier in eine Kritik der Bauordnungen der ausstellenden
Städte einzutreten; das wäre einerseits eine ungerechte Bevorzugung der
großen Mehrzahl der Städte, die sich einer baupolizeilichen. Ausstellung
enthalten haben, und andererseits würden die Dresdener oder Münchener
mich hier schön zerzausen, wollte ich ihre Bauordnungsvorschriften schal¬
meistern. Zur sachgemäßen Beurteilung einer Staffelbau Ordnung gehört
zudem viel mehr als guter Wille; dazu bedarf es einer so eingehenden Orts-
kentnis der betreffenden Städte, wie sie dem Fremden nicht zu Gebote steht.
München besitzt z. B. neun Baustaffeln und daneben noch gewisse Sonder-
Vorschriften; in Hamburg, Stuttgart, Dresden, Leipzig, Chemnitz, Plauen
pflegt die Abstufung der Bauvorschriften gleichzeitig mit der Feststellung
von Teilen des Bebauungsplanes vorgenommen zu werden. Das alles mit
Verständnis zu überschauen, ist dem Auswärtigen nicht möglich; selbst die
einheimischen Architekten und Bauunternehmer klagen mitunter über die
Vielheit der Bestimmungen. Ob und wo eine Vereinfachung tunlich und
empfehlenswert ist, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls erkennt man
welche verantwortliche und schwierige Aufgabe es ist, für eine größere Stadt
eine Staffelbauordnung aufzustellen. In Sachsen, Württemberg und anderen
Ländern geschieht das durch Ortsstatuten oder Ortsgesetze, die von Ge¬
meindeverwaltung und Gemeindevertretung beraten und staatlich geprüft
und genehmigt werden. In Preußen kann es die Ortspolizeibehörde, d. h.
der Bürgermeister oder Polizeiverwalter, für sich allein; er muß nur, wenn
er nicht auch selbst Gemeindevorstand ist, diesen anhören. Das ist viel
einfacher; ich wage aber nicht zu entscheiden, ob es besser ist. Auch die
Handhabung der Bauordnung ist an vielen Orten rein persönlich, rein
bureaukratisch. Das ist zu bedauern, namentlich wenn es mitunter za
Wortklaubereien führt, anstatt das Wesen der Sache im Auge zu behalten.
Zweckmäßig scheint mir überall die Einsetzung mitberatender Baupolizei¬
kommissionen zu sein, in welchen bei grundsätzlichen Fragen einerseits
Ärzte, andererseits Bautecbniker und Gewerbesachverständige, wie schon mein
Herr Vorredner ausgefübrt hat, sich nützlich erweisen können.
„In Summa, und damit schließe ich, handelt es sich um ein Gebiet,
dessen Bedeutung weit hinausgewachsen ist über die einfacher Polizei¬
maßregeln. Es handelt sich um eine positive Beeinflussung des ganzen
Wohnwesens und der gesundheitlichen Verhältnisse der Bevölkerung; nicht
bloß um gelegentliche polizeiliche Beaufsichtigung und Zurückweisung,
sondern um eine weitgreifende soziale Betätigung zum Heile von Staat und
Gemeinde. Vieles ist in diesem Sinne geschehen, vieles bleibt noch zu tun! u
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 191
Hierauf eröffnete der Vorsitzende die Diskussion.
Oberbaurat Professor Baumeister (Karlsruhe) erklärt sich durch¬
weg mit den Ausführungen der Referenten einyerstanden, möchte aber noch
auf einige ethische Gesichtspunkte der Bauordnung eingehen.
In den Leitsätzen seien die baupolizeilichen Vorschriften nach drei
Gesichtspunkten abgestuft, nach Ortsteilen, nach Gebäudegattungen und
nach Raumgattungen. Glücklicherweise sei ein vierter Gesichtspunkt, der
in den bestehenden Bauordnungen ab und zu noch seine Rolle spiele, aus¬
geschaltet, das sei der Wohlstand der Bewohner, der in einzelnen Bau-
ordnnngen seinen Ausdruck in mancherlei Ausnahmebestimmungen zu¬
gunsten von Wohnungen der ärmeren Klassen, von Arbeiterwohnungen,
finde. Er freue sich, daß dies in den Leitsätzen nicht geschehen sei, denn
die Bauordnung vertrage derartige Unterschiede aus moralischen Gründen
nicht. Schon bei der Feuersicherheit müsse man nicht nach dem Range
der Bewohner urteilen, Leben und Eigentum gegen Feuergefahr zu schützen,
sei jedermann gleich wichtig, es dürfe hier nur auf die Gefährlichkeit einer¬
seits und auf die Rettungsmöglichkeit andererseits Rücksicht genommen wer¬
den, und dies sei wesentlich durch die Anzahl der Bewohner in einem Stock¬
werk, bzw. im Hause charakterisiert. Wenn man in bezug auf Feuersicher
heit einen Unterschied machen wollte zwischen Wohlhabenden und Armen, so
müßte man für die letzteren einen erhöhten Grad von Sicherheit verlangen,
weil im allgemeinen diese ärmeren, weniger sorgfältig erzogenen Leute auch
weniger sorgfältig mit Feuer umzugehen pflegen, und weil in ihren ge¬
drängten Wohnungen die Rettung um so schwieriger werde.
Ähnlich verhalte es sich mit der Festigkeit. Wenn man die Festig¬
keitsregeln, also in erster Linie die Mauerdicke, genau vorschreiben wolle,
so werde diese verschieden zu wählen sein für ein Gebäude mit vielen
kleinen Räumen (infolge der vielen Verspannungswände und Gebälke) und
für Häuser mit wenigen großen Räumen. Von zwei Gebäudevolumina, die
in ihren Gesamtdimensionen übereinstimmen, verlange ein Haus mit wenigen
großen Räumen mehr Mauerdicke als ein Haus, das in viele Stockwerke
mit lauter kleinen Räumen eingeteilt Bei. Über diese Verschiedenheiten
habe man sich oft hinweggesetzt durch Einführung gleicher Regeln für
Mauerdicken im allgemeinen, eine Bequemlichkeit zugunsten der Bauenden
und der den Bau Prüfenden. Aber streng genommen müsse hier ein Unter¬
schied gemacht werden, und dieser falle dann zugunsten der Kleinwoh¬
nungen aus. Wenn man sich mit einfachen Regeln für alle Gebäude über¬
einstimmend begnügen wolle, so komme dabei die Kleinwohnung schlecht
weg, und dadurch seien die Ausnahmen, die vielfach zugunsteu von Klein¬
wohnungen aufgestellt worden seien, verursacht worden. Wenn man aber
das genau durchdenke, dann seien Ausnahmen, bei denen die Armut der
Bewohner eine Rolle spiele, nicht erforderlich.
So sei es auch mit der Gesundheit. Vergleiche man zwei Gebäude
von gleichem Gesamtvolumen, das eine bestimmt für arme Leute, das andere
für Reiche, so sei es doch gewiß unrichtig, wie auch vorgeschlagen worden
sei, den ersteren weniger Luft und Licht und Besonnung zu geben. Man
solle nicht Wohnungen zweiter Klasse für die armen Leute bilden, sondern
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192 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
die gesamte Bevölkerung solle das gleiche Maß von Luft, Licht und Be¬
sonnung genießen. Es sei auch schwer, diesen verschiedenen Bedürfnissen
für Reiche und Arme in einem Stadtbauplane zu genügen. Man könne
doch unmöglich hier Bezirke für reiche und dort für arme Leute statuieren.
Es sei ja richtig, daß der Arme weniger Ansprüche zu machen pflege, weil
er an weniger Licht und Luft in seiner Wohnung gewohnt sei. Aber er
halte es für eine soziale Aufgabe der heutigen Zeit, ihn zu erziehen zu
größeren Ansprüchen an Luft und Licht, und jedenfalls ihm baulich die¬
selben Ansprüche zu gestatten und zu gewähren wie dem Reichen.
Er freue sich deshalb, daß in den Leitsätzen ein Unterschied für Klein¬
wohnungen und Großwohnungen in bezug auf Licht und Luft nicht gemacht
sei. Die Absicht eines solchen Unterschiedes liege gewöhnlich darin, daß man
den kleinen Leuten billigere Wohnungen verschaffen wolle, und man glaube,
wenn man sie zusammendränge, wenn man hohe Gebäude, geringe Lüftung,
schlechten Lichteinfall zulasse, so würden dadurch die Kosten und somit auch
die Mieten sinken. Erfahrungsgemäß sei dies aber nicht der Fall. Die
Mieten seien nicht kleiner bei Zulassung enger Wohnungen, wie der Ver¬
gleich zwischen verschiedenen Städten genugsam lehre, und sie werden
auch nicht kleiner, wenn durch Änderung der Bauordnung die Baudichte
in einem Bezirk vermehrt werde. Der Preis der Mieten hänge von vielen
Faktoren zusammen ab, man könne nicht den einen Faktor, Luft und Lioht,
dafür allein in Rechnung stellen. Der Mietpreis hänge ab von den Bau¬
kosten im engeren Sinn, von den Bodenpreisen, von den Straßenbeiträgen,
und was speziell die Bodenpreise betreffe, so seien diese wieder abhängig
außer von der Baudichtigkeit, wie der Herr Korreferent mit Recht hervor¬
gehoben habe, auch von der Lage, von dem Verhältnis zwischen Angebot
und Nachfrage, von allerlei örtlichen Verhältnissen.
Auf die Abhängigkeit des Mietpreises von der Bau dich tigkeit könne
er hier nicht näher eingehen, aber es sei zu wünschen, daß diese ziffern¬
mäßig festgelegt werde. Dann komme wenigstens der Techniker zu einem
greifbaren, verwendbaren Ergebnis. Er habe das mehrfach versucht und
sei dabei zu der Überzeugung gekommen, daß in der Tat die Wohnungs¬
frage zwar nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie eine Bodenfrage sei.
Sehr wünschenswert aber wäre es weiterhin, den Zusammenhang zwi¬
schen Baudichtigkeit und Gesundheit exakt darzustellen, und zwar nicht
bloß mit allgemeinen Betrachtungen, wie sie der Arzt nach seinen Erfah¬
rungen ausspreche, sondern wirklich in großem Maßstabe, womöglich mit
Hilfe der Statistik. Dann erst werde man in der Lage sein, die Vorschriften
der Bauordnung mit Rücksicht auf die Gesundheit zu begründen, was jetzt
noch sehr wenig der Fall sei. Über den Einfluß der Höhenlage einer Woh¬
nung im Hause, der Höhe der einzelnen Stockwerke, der Bau dich tigkeit, der
Größe der Höfe, des Licbteinfalls u. dgl. auf die Gesundheit der Bewohner,
dafür fehle es noch an ausreichendem ziffernmäßigen Material trotz mancher
dahingehender Einzelarbeiten. Es sei ja sehr schwer, z. B. den Zusammen¬
hang von Baudichtigkeit und Gesundheit reinlich herauszubringen, weil eine
Menge anderer Faktoren ebenfalls auf die Gesundheit der Bewohner ein¬
wirke: die soziale Lage, Beruf, Ernährung u. a. Aber daß es möglich sei,
habe beispielsweise die sehr sorgfältige Untersuchung von Reineke in
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 193
Hamburg aus dem Cholerajahre bewiesen, wo der Einfluß der Baudichtigkeit
auf die Cholerasterblichkeit zahlenmäßig und in bildlichen Darstellungen
vortrefflich vorgeführt worden sei. Dieses Gebiet zu erweitern, halte er für
eine lohnende Aufgabe der Hygieniker und Statistiker.
Nun komme er zu dem Verlangen von These 3, daß auf den zur Be¬
bauung bestimmten Gebieten gewisse Bedingungen für geeignete Entwässe¬
rung und gegen Überschwemmungen erfüllt sein sollen, und diese Forde¬
rung habe der Herr Referent in seinem Vortrage noch schärfer als in den
Leitsätzen betont, während in den Leitsätzen, namentlich unter a und c, eine
gewisse Latitüde zugelassen sei. Das letztere scheine auch durchaus richtig.
Man könne das sogenannte „wilde“ Bauen nicht ganz entbehren, sonst würde
die Erweiterungsfähigkeit einer Großstadt, namentlich in einer industriellen
Stadt, ganz ungebührlich unterbunden werden. Man müsse die Bebauungs-
fahigkeit auch ohne regelrechte Entwässerung zulassen, sofern provisorische
Maßregeln von genügender Sicherheit für die Entwässerung der Baulich¬
keiten dargeboten werden. Das sei namentlich bei industriellen Baulich¬
keiten möglich, bei Wohnungen allerdings etwas schwieriger, und hier wäre
eine Beschränkung der Wohnungsfähigkeit unent wässert er Gelände, etwa
auf Wohnungen von ländlichem Charakter oder auf Wohnungen, die reihen¬
weise für Arbeiter hergestellt wären, wohl zulässig. In einigen neueren
Bauordnungen seien solche Ausnahmebestimmungen getroffen, welche einen
Übergangszustand bis dahin statuieren, daß eine regelmäßige Entwässerung
durch allmähliche Ausbauung der Kanalisation möglich werde; das scheine
ihm durchaus wünschenswert.
Ähnlich verhalte es sich auch bei Überschwemmungsgebieten.
Wenn man die Bebauung der Überschwemmungsgebiete verhindern wolle, so
komme man unter Umständen auf gewaltig hohe Kosten der Auffüllung dieses
Gebietes, und zwar gewöhnlich auf Kosten der Gemeinde. Das sei durchaus
nicht immer notwendig, man könne solche Überschwemmungsgebiete füglich
in die Bebauung hineinziehen, in der Voraussetzung, daß eine genügende
unterirdische Entwässerung gemacht worden sei und im übrigen die Über¬
schwemmung selbst durch genügende Deiche verhindert werde.
Mit Recht habe sich der Herr Referent gegen die bestehenden schlechten
Zustände gewandt, welche in älteren Stadtteilen vielfach zu Anden seien,
und habe nachgewiesen, inwiefern die baupolizeilichen Forderungen gegen
diese bestehenden schlechten Zustände Anwendung Anden dürfen. Aber als
Korrelat müsse auch durch die Bauordnung ein Schutz gewährt werden zu¬
gunsten von bestehenden guten Zuständen, und das scheine in vielen
Städten sehr wenig der Fall zu sein. Man habe Außenbezirke von länd¬
lichem Charakter, sonst gut baufähig, auch gesund hergestellt, und da komme
einer und baue, wenn die Bauordnung das nicht verhindere, eine Miets¬
kaserne hinein und verschände den ganzen Stadtteil, wie solches z. B. in
den reizvollen Vorstädten Hamburgs mehrfach zu sehen sei. Darauf müsse
die Bauordnung ihr Augenmerk richten, was auch möglich sei, als ja an
bestehende Zustände ein ganz anderer Maßstab gelegt werden könne als an
Zustände, welche erst im Werden begriffen seien.
Den bestehenden Bauverhältnissen einen Zwang anzulegen, werde den
vorhandenen Wohnungen nur zugute kommen, allerdings aber die weitere
VierteljahrsschrJft für Gesundheitspflege, 1904. 13
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194 XXVI11. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Ausschlachtung, die weitere Ausnutzung des Geländes in übertriebener
Weise verhindern.
In bezug auf die Abstufung der Bauvorschriften seien in den
Städteausstel]ungen verschiedene Arten zu sehen. Die allgemeinste, wie sie
in Frankfurt, Köln, Mannheim bestehe, teile das ganze Bebauungsgebiet in
große, ausgedehnte Zonen, mehr oder weniger regelmäßig gestaltet, aber im
allgemeinen in drei, vier, fünf große Flächen. Damit aber sei die individuelle
Behandlung der einzelnen Blöcke und Straßen nicht erreicht, und wolle man
diese auch noch berücksichtigen, dann komme man auf das von dem Herrn
Referenten, geschilderte sächsische Verfahren, wobei man durch sogenannte
Regulative die einzelnen Bezirke des Erweiterungsgebietes einzeln behandle.
Dadurch komme man dann vielleicht auf zwanzig, dreißig verschiedene
Regulative, wie sie hier in Dresden tatsächlich bestehen.
Ein anderes Verfahren behufs dieser individuellen Behandlung sehe
man in der Städteausstellung in den außerordentlich interessanten Plänen
von München dargestellt. Da seien die neuen Bautypen, und zwar mit ver¬
schiedenen Farben und Bezeichnungen versehen, nicht bloß bezirksweise,
sondern auf die einzelnen Straßen, sogar auf die einzelnen Straßenstrecken
im voraus über das ganze Gebiet verteilt, ein außerordentlich buntes Bild,
bei dem aber ohne Zweifel die größte Sorgfalt bei der Behandlung der
einzelnen Strecken Vorgelegen habe. Und nun gebe es auch noch einen
vierten Weg, den man in Stuttgart einschlage. Man suche dort erst bei
der Erschließung einer neuen Straße durch Bestimmung über Höhe der
Häuser, über Stockwerkzahl und Hofgröße u. s. w. das Bausystem festzustellen,
also nicht etwa im voraus, wie München es weit hinaus getan habe, sondern
nur immer von Fall zu Fall: sobald eine Straße eröffnet oder verlängert
werde, komme auch eine neue Bestimmung dazu.
Welche dieser Methoden nun die zweckmäßigste sei, das könne zum
Teil von örtlichen Gewohnheiten abhängen; aber doch auch nur zum Teil.
Um den Einfluß dieser verschiedenartigen Methoden der Abstufung auf das
Bauwesen zu kennzeichnen, sei es wichtig, zu untersuchen und nachzuweisen,
welche Vorzüge und welche Nachteile vorhanden seien, sowohl für die All¬
gemeinheit wie auch für die Interessen der Baulustigen und der Grund¬
eigentümer.
Zum Schluß wolle er betonen, daß die Leitsätze keine bestimmte
Forderungen enthalten, daß sie wohl absichtlich als Ratschläge aufgestellt
seien, um alle die Gegenstände zu nennen, nach denen von den einzelnen
Städten ihre Bauordnungen aufzustellen seien. Die Leitsätze seien dehnbar,
aber um so eher auch anwendbar für sämtliche Städte und auch für das
ganze Deutsche Reich, und so hoffe er, daß eine Reichsbauordnung auf
<?rund dieser Ratschläge entstehen möge.
Bezirksarzt Medizinalrat Dr. Hesse (Dresden) gibt als Arzt und
Medizinalbeamter der Überzeugung Ausdruck, daß die Leitsätze und die
Ausführungen der Referenten wohl geeignet seien, allgemein als Grundlage
für die Ortsbauordnungen zu dienen. Nur zu wenigen Punkten wolle er
sich einige Bemerkungen erlauben.
Zunächst sei es in 5a der Leitsätze der Lichteinfallswinkel von 45°,
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 195
der große Schwierigkeiten biete, den der Herr Korreferent so erklärt habe,
daß dieser Winkel nicht vom Erdboden aus zu messen sei, sondern von
dem unteren Rande der Erdgeschoßfenster. In Sachsen werde so verfahren,
daß man die Haushohe von der Erdoberfläche bis zur Hauptsimskante rechne
und nun diese Haushohe als Maß für die Straßen breite, bzw. die seitlichen
Hausabstände annehme. Eine weitere Schwierigkeit ergebe sich, wenn das
Dach ausgebaut werden solle. Dadurch erhöhe sich das Haus und dem
Erdgeschoß der gegenüberliegenden Häuser werde natürlich der Winkel von
45° nicht mehr gewahrt. In solchen Fällen fordere man in Sachsen ent¬
sprechend größere Gebäudeabstände.
Zu 7a der Leitsätze, wo von der Beleuchtung und den Lichthöfen
die Rede sei, wolle er bemerken, daß doch die Treppen und Flure etwas
anders dastehen als die anderen mitgenannten Räume: Waschküche, Bade¬
zimmer und Aborte. Für letztere könne er dem Text der Leitsätze zu¬
stimmen, bezüglich der Treppen und Hausflure aber habe er Bedenken,
wenn auch in der Praxis es sich oft nicht anders werde machen lassen.
Dann wolle er auch der Schwierigkeit gedenken, die hinsichtlich der
kleinen Familienwohnungen vorliege. In Dresden habe man etwas
andere Bestimmungen. Man rechne für eine kleinste Familienwohnung
30 qm Bodenfläche, von denen 15 qm auf die Schlafräume fallen müssen,
ein allerdings sehr geringes Maß, zu dessen Aufstellung aber zwingende
Umstände wohl Veranlassung gewesen Beien. Ferner dürfte es sich empfehlen,
bei 7d, Kellerwohnungen, die Beleuchtung nicht zu vergessen; nach
den Dresdener Bestimmungen müsse, soweit überhaupt Kellerwohnungen
zugelassen werden, die Summe der lichten Fensteröffnungen den sechsten
Teil der Fußbodenfläche betragen. Zu 8b empfehle es sich, als Auffüll¬
material ein solches zu verlangen, das nicht hygroskopisch sei.
Zu der Feststellung der Trockenfristen wolle er bemerken, daß es
vom ärztlichen Standpunkte aus sehr wünschenswert sei, daß durch die
Bauverständigen festgestellt werde, daß die Wohnungen in der Tat trocken
seien, bevor sie bezogen werden. Die Einführung gesetzlicher Bestimmungen
werde ihre großen Schwierigkeiten haben, wenngleich die Ausführung der
Mort elfe uchtigkeitsbestimmungen, die notwendig sei, eine verhältnismäßig
leichte Sache sei.
Bezüglich der Beteiligung der Ärzte, Nr. 12 der Leitsätze, wolle
er noch bemerken, daß angesichts der Unentbehrlichkeit dieser Forderung
in seinem Bezirke ziemlich bäuflg solche Besprechungen, wie sie von den
Referenten vorgeschlagen seien, abgehalten werden, und daß der Erfolg
dieser Besprechungen ein außerordentlich günstiger sei. Man sei schließlich
dahin gekommen, daß es ziemlich gleichgültig sei, ob der Verwaltungsbeamte
oder der Bausachverständige oder der Medizinalbeamte ein Gutachten abgebe,
sie seien alle so durchdrungen von gleichmäßigen Anschauungen, daß sie im
großen und ganzen in hygienischer Hinsicht ein und derselben Meinung seien.
Baupolizeidirektor Olshausen (Hamburg) bestätigt die Äußerung
des Herrn Referenten, daß Hamburg die einzige Stadt sei, in welcher das
Genehmigungsverfahren nicht eingefübrt sei, aber tatsächlich komme
das Hamburger Verfahren ganz auf dasselbe hinaus wie das Genehmigungs-
13*
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196 XXYI1I. Versammlung d. D. Vereins f. offentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
verfahren. Die Bauordnung enthalte die Bestimmung, daß auf eine Bau¬
anzeige innerhalb 14 Tagen Bescheid erteilt werden müsse. Werde kein
Bescheid erteilt, durch welchen der Beginn des Baues untersagt werde, so
könne der Mann mit dem Bau beginnen. Untersagt könne der Baubeginn
werden, wenn die Vorlagen nicht vollständig seien, oder wenn sie erkennen
ließen, daß die gesetzlichen Bedingungen nicht befolgt seien. Das komme
also auf dasselbe hinaus, die Untersagung habe absolut dieselbe Wirkung,
daß gesundheitsschädliche Zustände nicht entstehen können dadurch, daß
ein ungesetzlicher Bau begonnen werde.
Zu der Beaufsichtigung der Bauausführung, die er ebenfalls
für unbedingt notwendig halte, müsse er aber doch der Mitteilung des Herrn
Referenten gegenüber, daß z. B. in Hannover der Bau alle zwei Tage, in
München alle vier Tage revidiert werde, nach seiner fast 30jährigen Er¬
fahrung erklären, daß das einfach unmöglich sei. Die Bauarbeit sei eine
Saisonarbeit, es gebe eine Zeit großer Bautätigkeit und eine Zeit kleiner
Bautätigkeit; dazu komme noch der 1. April und der 1. Oktober, die Termine,
die im Bürgerlichen Gesetzbuche für den Wohnungswechsel vorgeschrieben
seien, und jeder Bauherr strebe danach, zu diesen Terminen seine Wohnung
fertigzustellen. Gerade zu diesen Terminen komme aber dann für die Bau¬
polizei eine ganz außerordentlich große Inanspruchnahme, die Beschaffung
eines genügenden Baupolizeipersonals sei eine schwierige Aufgabe für die
Stadtverwaltungen. Deshalb sei er der Ansicht, man solle in die Bauord¬
nung nichts über die Revisionen hineinschreiben, sondern es der Behörde
überlassen, wie sie sich einrichten könne. Sie könne niemals in dem Moment,
wenn eine sehr große Menge von Bauanzeigen komme, eine große Menge
von Bauten zur Ausführung gelange, plötzlich das nötige Personal beschaffen.
Sie müsse sich dann eben behelfen, wenn auch einmal einer etwas warten
müsse; immerhin müsse es natürlich das Bestreben der Baupolizei sein, den
Bauenden so weit wie möglich gerecht zu werden.
Oberbürgermeister Schneider (Magdeburg) wendet sich zunächst
zu These 3, in welcher von der Zulässigkeit der Bebauung die Rede sei und
gewisse Vorschriften gegeben werden, die unter allen Umständen zu erfüllen
seien, so die geeignete Entwässerung durch Kanalisation oder andere
unbedenkliche Einrichtungen. So sehr er diesem Satz beistimme, so habe
er doch auch, wie Herr Baumeister, das Gefühl, daß der Herr Referent in
seinen Ausführungen wesentlich schärfer gewesen sei als der an sich
unverfängliche Satz in These 3. Der Herr Referent habe verlangt, daß
überall da, wo ein ordnungsmäßiges Entwässerungssystem vorhanden sei,
überhaupt ein Neubau nicht gestattet werde, ohne daß er an dieses Kanali¬
sationsnetz angeschlossen werde. Aber wenn dies gewiß auch als Regel
gelten müsse, gebe es doch in den Verhältnissen einer Großstadt Zustände,
die unter Umständen eine Abweichung im wohlverstandenen Interesse der
Stadt nötig machen, und auch mit der Maßgabe, daß dadurch eine Schädi¬
gung der hygienischen Interessen nicht herbeigeführt werde. Es sei doch
eine Tatsache, daß da, wo wirklich die Bebauung bereits in größerem Um¬
fange sich entwickelt habe, die Bauterrains meist so teuer seien, daß man
z. B. Arbeiterwohnungen gar nicht oder nur in sehr beschränktem Umfange
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 197
herstellen könne. Auf der anderen Seite sei aber das Bedürfnis nach der
Errichtung solcher Wohnungen ein ganz eklatantes, und die Folge sei dann,
daß der Arbeiter den inneren Kommunalbezirk der Stadt verlasse und sich
in irgend einem Vororte ansiedle, der in bezug auf die baulichen Verhält¬
nisse der Kontrolle der Großstadt überhaupt nicht mehr unterliege, und wo
in baupolizeilicher Beziehung Verhältnisse bestehen, die sehr viel schlechter
seien als in der Stadt. Dann siedle sich der Arbeiter in immer größerer
Menge dort an, der Vorort wachse, er komme der Stadt immer näher, und
bald trete dann die Frage der Eingemeindung an die Stadt heran. Dadurch
erhalte die bis jetzt tadellose Stadt plötzlich einen Stadtteil, der nach dieser
Richtung sehr vieles zu wünschen übrig lasse. Deshalb sei es das Gebot
einer gesunden Politik, tunlichst dafür zu sorgen, daß derartige Leute von
vornherein auf dem engeren Gebiete der eigentlichen Gemeinde angesiedelt
werden. Dies gehe aber nur dadurch, daß man sie an die Peripherie bringe
und diejenigen Erleichterungen ihnen zugestehe, die es ihnen möglich machen,
eine solche Ansiedelung auszuführen. Eine solche Kolonie von Arbeitern
an der Peripherie habe man neuerdings in Magdeburg gestattet und habe
ihnen den Anschluß an die Kanalisation einstweilen erlassen mit Rücksicht
darauf, daß der Kanalbau zwischen der jetzt schon kanalisierten Strecke
und jenem Terrain so außerordentliche Kosten verursachen würde, daß es
unmöglich sein würde, sie aufzubringen. In solchen Fällen sei sorgfältig
zu prüfen, ob demnächst bei der weiteren Entwickelung der Stadt dieser
Teil in rationeller Weise an die Kanalisation angeschlossen werden könne.
Mit dieser Maßgabe, glaube er, könne man einstweilen recht wohl erleich¬
ternde Bestimmungen zugestehen, und so habe man in Magdeburg wider¬
ruflich zugestanden, daß dort vorläufig Gruben, natürlich mit ordnungs¬
mäßiger Abfuhr, angelegt werden. Auf diese Weise könne man den wirk¬
lichen und berechtigten Bedürfnissen der Stadt gerecht werden, ohne daß
man die gesundheitlichen und sonstigen kommunalen Interessen irgendwie
schädige.
In bezug auf einen weiteren Punkt, inwieweit die vom Standpunkte
der Öffentlichen Gesundheitspflege aufgestellten Forderungen Anwendung
finden sollen auf bereits bestehende Gebäude, müsse man, wie er glaube,
mit großer Vorsicht verfahren. Das städtische Haus sei allerdings ja nicht
mehr, was es früher gewesen sei, ein erb- und eigentümliches Besitztum der
Familie, es habe jetzt mehr oder weniger den Charakter einer Ware be*
kommen, welche frei verkäuflich von einer Hand in die andere gehe. Aber
in dieser Richtung scheine doch noch ein Unterschied zu bestehen bezüglich
des alten Zentrums der Städte, da es hier doch noch vielfach vorkomme,
daß dieselbe Familie seit Jahrhunderten in dem Besitze eines Hauses sei,
wo das Haus keineswegs den Charakter der Ware habe, und wo die ganze
wirtschaftliche Existenz des Mannes häufig mit dem Besitz dieses Hauses
verbunden sei. Da müsse man mit der Aufstellung von Forderungen, die
für die neuen Stadtteile zweifellos nach jeder Richtung hin berechtigt seien,
sehr vorsichtig sein, wenn man nicht zugunsten einer wichtigen Rücksicht
der öffentlichen Gesundheit andere wichtige Rücksichten wirtschaftlicher
Art, die unter Umständen außerordentlich schwerwiegend seien, einseitig
begünstigen wolle. Deshalb solle man hier nur das verlangen, was im ge-
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198 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins £. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
sundheitlichen Interesse unbedingt erforderlich sei. Wirklich sanitär un¬
haltbare Zustände dürfe man natürlich nicht dulden, aber mit dieser Maßgabe
werde man gewiß Übergangsstadien und Übergangszeiten konzedieren
müssen, die den Leuten Gelegenheit geben, sieb auf die neuen Verhältnisse
einzurichten, ohne daß sie ihren wirtschaftlichen Ruin zu befürchten haben.
Ein in der Praxis sehr schwieriger Punkt sei die Trockenfrist. Der
Herr Referent habe sich darüber gewundert, daß eine Reihe von Städten
dies gewissermaßen schematisch behandelt habe, indem man eine gewisse
Zeit als obligatorisch vorgeschrieben habe, vor deren Ablauf die Schlu߬
abnahme gegenüber der Rohbauabnahme nicht erfolgen dürfe. Man könne
in der Festsetzung dieser Frist zu weit gehen, man könne auch zu wenig weit
gehen, trotzdem glaube er vom Standpunkte des Praktikers dringend emp¬
fehlen zu sollen, in die Bauordnung feste Fristen hineinzunehmen, wenn
man sich nicht den größten Unannehmlichkeiten aussetzen wolle. Er selbst
sei in der Lage gewesen, Bauordnungen handhaben zu müssen, bei denen
diese Vorsichtsmaßregel der Frist nicht gewahrt sei, und die Folge sei ge¬
wesen, daß, wenn einmal bei besonders günstigen klimatischen Verhältnissen
oder aus anderen Umständen ein Haus frühzeitig trocken und abnahmefahig
gewesen und die Abnahme erfolgt sei, dann von anderen Bauunternehmern
dieser Vorgang benutzt werde, um für sich unberechtigte Vorteile herauszu¬
schlagen und die gleich kurze Frist zu verlangen, obwohl die Verhältnisse
vielleicht ganz anders liegen. Deshalb sei es besser, man setze eine feste
Frist, die vernünftig und nach Maßgabe der Verhältnisse bemessen werden
könne, auch verschieden bemessen werden könne je nach der Jahreszeit, in
der der Rohbau erfolgt sei. Und Dispens von dieser Frist solle man nur
in wenigen Ausnahmefällen zugestehen, da, wo wirklich Ausnahmezustände
vorliegen, die eine Berücksichtigung ganz besonders wünschenswert er¬
scheinen lassen. Sehr wichtig sei es dabei, daß dieser Dispens nicht von
der Baubehörde, sondern von einer von dieser unabhängigen Behörde erteilt
werde, in Preußen also durch den Bezirksausschuß.
Sehr erfreut sei er durch die Anerkennung, die der Herr Referent der
kommunalen Baupolizeiverwaltung gespendet habe, die Anerkennung,
die er dahin ausgesprochen habe, daß seiner Meinung nach die Handhabung
der Baupolizei durch die Selbstverwaltungskörper die richtige sei, trotz
mancher Mängel, die ihr anhaften. Dieses Wort aus dem Munde eines
hohen Staatsbeamten sei sehr wertvoll, und er möchte nur wünschen, daß
auch in den anderen Bundesstaaten dieses Wort Beherzigung finden möge,
und daß den Gemeinden dieser wichtige Zweig der Verwaltung auch in
immer weiterem Umfange übertragen werde, wie es leider in vielen Teilen
des Reiches bisher noch nicht geschehen sei.
Die von dem Herrn Korreferenten geäußerte Meinung, es solle den
Polizei Verwaltungen eine beratende Behörde zur Seite stehen, sei eine
Sache, die auch sehr vorsichtig angefaßt werden müsse. Denn die Polizei
lasse sich niemals parlamentarisch betreiben, da sei die persönliche Initiative,
die persönliche Verantwortung und das Bewußtsein dieser persönlichen Ver¬
antwortung von ganz ausschlaggebender Bedeutung. Und dann komme es
bei der Polizei vor allen Dingen darauf an, nicht nur, daß richtig verfahren
werde, sondern auch daß rasch verfahren werde. Wenn dann erst ein be-
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 199
ratender Körper zwischengesetzt werden solle, so könne das Publikum das
in einem sehr bedenklich verlangsamten Geschäftsgang recht unangenehm
empfinden. In grundsätzlichen Fragen möge solch eine gutachtliche Kom¬
mission unentbehrlich sein, und in diesem Sinne könne es auch in die Bau¬
ordnung aufgenommen werden, für die Exekutive aber, för den laufenden
Dienst müsse es in erster Reihe bei dem bleiben, dafi deijenige, der die
Verantwortung trage, auch die Macht habe.
Oberingenleur Yermobren (Hamburg) hat Bedenken dagegen, dafi
in These 3c als erste Vorbedingung für eine gesunde Bebauung die Ein¬
deichung des im Überschwemmungsgebiet belegenen Baugeländes genannt
sei und erst in zweiter Linie die Aufhöhung desselben auf sturmflutfreie
Höhe. Wenn er sich dafür aussprechen müsse, dafi die Aufhöhung der
Strafien und des Baugeländes als erste Forderung aufzustellen sei, so stelle
er sich dadurch zwar in einen gewissen Widerspruch zu Herrn Bau¬
meister, welcher in gewissen Fällen provisorisch eine Eindeichung zu-
lasßen wolle, finde aber darin eine Beruhigung, dafi sowohl sein Vor¬
gänger Andreas Meyer stets die Aufhöhung als erste Forderung hin¬
gestellt habe, als auch dafi der Verein früher den Grundsatz aufgestellt habe,
dafi das Baugelände so hoch liegen müsse, dafi es vor Überschwemmungen
gesichert sei.
Zu diesen Ausführungen komme er, weil man gerade jetzt in Hamburg
ausgedehnte Gebiete neu der Bebauung erschließen wolle. In Hamburg sei
ein Stadtteil, Hammerbrook, der ursprünglich als Fabrikdistrikt beabsichtigt
gewesen sei, der aber nachher in der Bebauung eine wesentlich andere
Eigenschaft angenommen habe und zu einem Wohndistrikt mit hohen Etagen¬
häusern geworden sei. Dieser Distrikt liege unter der Sturmfluthöhe der
Elbe und sei eingedeicht, und wegen der niederen Lage der Siele in ihm
müsse alle8 Abwasser in ein höheres Sielnetz aufgepumpt werden. Das sei
natürlich eine mißliche Sache, sie erfordere erhebliche Kosten und bei
schweren Gewitterregen besondere Vornahmen. Der Hauseigentümer, dessen
Keller zu tief liege, oder der kein Rückstauventil eingerichtet habe, so dafi
die tiefliegenden Geschosse von Überschwemmungen zu leiden haben, ver¬
mute dann die Ursache in nicht genügender Arbeit der Sielpumpe und
belästige die Behörde mit nicht gerechtfertigten Beschwerden. Man
solle deshalb, wo es irgend zu vermeiden sei, ein Baugelände nicht auf
Pumpen der Sielabwässer einrichten. In einzelnen Teilen einer bebauten
Stadt werde man sich zuweilen auf solche Weise durch provisorische Ma߬
nahmen helfen müssen, neue Stadtteile aber solle man gleich hoch anlegen.
Die tiefe Lage der Strafien und Häuser habe eine tiefe Lage der Siele im
Grundwasser zur Folge, wodurch der Bau derselben außerordentlich schwierig
werde, ja praktisch unausführbar werden könne. Ferner könne man den
Sielen kein ordentliches Gefälle geben, weil man sonst mit den oberen Siel¬
strecken aus der Straße herauskommen würde; man müsse die Siele an¬
nähernd horizontal legen, wie es in dem bereits erwähnten Hammerbrook auch
geschehen sei. Die Folge davon sei gewesen, dafi die ursprünglich horizon¬
tal angelegten Siele in dem Marschgrunde teilweise versackt seien und im
Längsprofil eine Zickzacklinie bilden, in deren Tiefpunkten sich dannSink-
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200 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Stoffe ablagern, die za Ausdünstungen Veranlassung geben und fortwährend
bedeutende Reinigungsarbeiten erfordern.
Bei einer Berechnung und Gegenüberstellung der Kosten des Aufpum-
pens und der Aufhöhung sei man zu dem überraschenden Resultat gelangt,
daß unter den in Hamburg vorliegenden Umständen, wo Auf höhungsmaterial
aus der Baggerei reichlich zur Verfügung stehe, es kaum mehr koste, das
Gebiet aufzuhöhen, als das Sielwasser überzupumpen, wobei die jährlichen
Kosten des Überpumpens kapitalisiert seien. Da nun in Hamburg den
Grundeigentümern für das Überpumpen der Sielwässer keine besondere Ge¬
bühr berechnet werde, so könnte also der Staat mit denselben Kosten das
Gelände auf höhen und den Käufern zur Verfügung stellen, ohne ihnen für
diese Aufhöhung besondere Auflagen zu machen.
Er müsse deshalb die Sicherung neuer Baugelände gegen Überschwem¬
mungen als absolut notwendig und nicht nur als wünschenswert bezeichnen
und die Anlage der Straßen und des Baugrundes in hochwasserfreier Höhe
in erster Linie fordern, und erst, wenn solche durchaus nicht ausführbar
erscheine, die Eindeichung des Geländes. Eine solche Hervorhebung der
genügenden Aufhöhung eines Geländes vor der Gestattung seiner Bebauung,
die der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege auch stetB betont
habe, würde für den Techniker, der die Bebauungspläne aufzustellen und
zu vertreten habe, außerordentlich wertvoll sein.
Sanitätsrat Dr. Altschul (Prag) berichtet, daß man in Böhmen ein
Baugesetz habe, das für das ganze Land gelte, und daß man dann noch für
einzelne Städte, so für Prag, lokale Bauordnungen habe. In diesen sei
allerdings den sanitären Anforderungen noch nicht in der Werne Genüge
getan, wie es die heutige Hygiene fordere, was sich aber voraussichtlich sehr
bald ändern werde.
In Böhmen sei die Baupolizei der Gemeinde übertragen, die Gewerbe¬
behörde sei aber die politische Behörde. Bei gewerblichen Anlagen werde
das sogenannte Ediktalverfahren eingeleitet, d. h. es finde eine Erhebung
statt, bei welcher sowohl der Arzt (Landesbezirksarzt) als der Staatstech¬
niker sein Gutachten abgebe. Die Behörde in erster Instanz, die Bezirks¬
hauptmannschaft, bewillige oder verweigere, und dann komme der Rekurs
an die Statthalterei, die den Landessanitätsrat als Begutachter habe, so daß
auch hier das ärztliche Gutachten gehört werde. Darüber stehe dann als
letzte Instanz das Ministerium des Innern, welchem der Obersanitätsrat als
beratende Instanz zur Seite stehe. Auf diese Weise werde die Anlage von
Gewerbeunternehmungen nach der baulichen wie nach der sanitären Rich¬
tung hin in der entsprechenden Weise geregelt.
Die Stadt Prag stehe zurzeit mitten in einer Assanierung im großen
Stile. Ein Stadtteil mit 25000 Bewohnern liege im Überschwemmungsgebiet,
und hier habe genaue Nachforschung ergeben, daß Wohnungsdichte, die
Dichtigkeit der Bebauung und die Dichtigkeit der Bewohner mit den Ge¬
sundheitsverhältnissen im umgekehrten Verhältnis stehe; in diesem dichtest
bebauten Stadtteil seien die Infektionskrankheiten, besonders Typhus und
Blattern, gar nicht auszurotten gewesen. Deshalb sei die Assanierung dieses
Stadtteils beschlossen worden, ein Teil sei auch bereits ausgeführt. Wie
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 201
bei der Assanierung von Neapel habe man auch in Prag die Überzeugung
gewonnen, daß bloß durch Niederlegung des ganzen Stadtteils Wandel ge¬
schaffen werden könne, und dies sei auch tatsächlich in Angriff genommen
worden.
Die Assanierung in Prag habe etwas gelehrt, was in epidemiologischer
Beziehung wichtig sei. Im Jahre 1830 sei dieser Stadtteil der gesündeste
Stadtteil von Prag gewesen; er sei das Ghetto, die Judenstadt, gewesen.
Jetzt sei er nicht mehr das Ghetto, sondern der Wohnsitz der armen Be¬
völkerung, und die Armut sei es in erster Linie, nicht nur die Wohndichtig-
keit, die diesen Stadtteil zum ungesundesten Teil der Stadt gemacht habe.
Nun komme er aber noch zu einem wichtigen Punkt: die Assanierung
vertreibe die arme Bevölkerung aus diesem Teil der Stadt, man habe aber
keinen Ersatz, um die Leute unterzubringen. Prag habe keine Peripherie,
die Stadt sei derart gelegen, daß sie ohne natürliche Grenze von Vororten
umrahmt sei, die ihre eigenen Verwaltungen haben. Es scheine ihm doch
sehr wichtig zu sein, bei Assanierungsfragen zu entscheiden, wo die aus
diesem Assanierungsgebiet vertriebene Bevölkerung untergebracht werden
könne. In Prag seien die armen Leute gezwungen, recht weit hinauszu¬
wandern und in noch ungesundere Wohnungen zu kommen, als die sie eben
verlassen haben. Die Assanierung geschehe eigentlich für die Reichen, es
werde dort ein Gebiet geschaffen, in welchem Paläste mit sehr hohen Miet¬
zinsen sich befinden, und der Arme müsse sehen, wo er bleibe.
Professor Dr. T. Esmarch (Göttingen) weist darauf hin, daß von den
beiden Referenten betont worden sei, welches wertvolle Material an Plänen,
Skizzen und Abbildungen in der Städteausstellung vereinigt sei, die alle zu
studieren wohl kaum jemand hier in der Lage sein dürfte. Deshalb erlaube
er sich den Vorschlag, diese Gelegenheit zu benutzen, um das Wichtigste
von Plänen, Skizzen und Abbildungen, das eben behandelte Thema be¬
treffend, das sich zurzeit auf der Städteausstellung vereinigt befinde, dem
Bericht über die Versammlung beizufügen. Auf diese Weise werde der Be¬
richt an Wert gewinnen und eine dauernde Erinnerung an die Ausstellung
geben, die zweifellos allseitig gewürdigt und geschätzt werde J )*
Professor Nussbaum (Hannover) findet sich in den meisten Punkten
in Übereinstimmung mit den Referenten, nur in einem Punkt nicht; es sei
dies der Widerstreit der Meinungen, ob die geschlossene oder die offene
Bauweise die gesündeste sei. In dieser Frage seien einige Gesichts¬
punkte hier noch nicht erwähnt worden, welche für die Anwendung der ge¬
schlossenen Bauweise sprechen. In erster Linie sei das Verkehrsgeräusch
zu nennen, welches bei der offenen Bauweise ungehindert in das Innere des
Blocks, in die Höfe und Gärten eintrete, umgekehrt unter Umständen auch
heraustrete, z. B. beim Teppichklopfen. — Ferner sei nicht berührt, daß ge¬
schlossene Bauweise es erst ermögliche, in den Städten die Familienhäuser,
d. h. die bescheideneren bürgerlichen Familienhäuser zur Durchführung zu
*) Nach Schluß der Sitzung beschloß der Ausschuß, die Herren Rumpelt und
Stubben zu ersuchen, unter den im Saale ausgehängten Plänen die geeignet
erscheinenden auszusuchen und ihren Referaten beizufügen.
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202 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
bringen, wobei er die Frage nicht entscheiden wolle, ob das geschlossen
oder das offen gebaute Einfamilienhaus den Vorzug verdiene. Wenn der
Herr Referent sich Bremen ansehen wolle, werde er wohl auch zu der Über¬
zeugung gelangen, daß die geschlossene Bauweise, wenn man gleiche Ge¬
bäudehöben und gleiche Gebäudeabstände zugrunde lege, solche Vorteile
vor der offenen habe, daß eine Bevorzugung der offenen Bauweise aus hygieni¬
schen Gründen kaum möglich sein werde. Die offene Bauweise biete aus¬
schließlich ästhetische Vorzüge, deshalb solle man sie anwenden, um schöne
Städte oder schöne Stadtteile schön zu erhalten. Aus volkswirtschaftlichen
Gründen werde es jedoch erforderlich sein, daß man die offene Bauweise in
der Regel auf die Gebiete der landhausmäßigen Bebauung beschränke.
Vermißt habe er ferner in dem Referat die Behandlung der Wärme¬
verhältnisse im Hause. Neben Licht und Luft seien gerade die Wärme¬
verhältnisse, im Sommer wie im Winter, maßgebend für die Gesundheit der
Bewohner. Unter Umständen trete Licht und Besonnung in Gegensatz zu
den Bedingungen der Wärmeverhältnisse, sowohl in der Straße, namentlich
in Süddeutschland, wo man des Schattens im Sommer für den Verkehr drin¬
gend bedürfe, wie in den Wohnungen, wo eine ringsum freie Lage der Außen¬
wände im Winter wie im Sommer höchst ungünstig für die Wärmeverhält¬
nisse der Räume einwirke. Namentlich für die ärmere Bevölkerung spiele
dieser Umstand eine große Rolle und müsse berücksichtigt werden, sowohl
bei der Festsetzung der Freilage der Gebäude, wie bei der Bemessung der
Fensterflächen.
Den Darlegungen des Herrn Baumeister über die Stellung der Klein¬
wohnungen in der Bauordnung, namentlich der Bemerkung, daß im allge¬
meinen eine Trennung in bezug auf gesundheitliche Forderungen nicht statt¬
finden dürfe, stimme er bei. Aber ein Hauptgesichtspunkt sei unerwähnt
geblieben: Man fordere eine Bevorzugung der Kleinwohnungen in der Bau¬
ordnung aus volkswirtschaftlichen Gründen, damit Kleinwohnungen in größe¬
rer Anzahl entstehen. An ihnen sei allerorts Mangel, und kein Bauunter¬
nehmer, kaum ein Großunternehmer sei geneigt, unter den jetzigen Verhält¬
nissen Kleinwohnungen zu bauen. Biete man ihm aber wesentliche Ver¬
günstigungen, so sei zu hoffen, daß einer solchen Anregung Folge geleistet
und der Kleinwohnungsmarkt dann ausreichend beschickt werde. Dieser
Gesichtspunkt sei ein so wichtiger, daß man kleine Nachteile wohl mit in
den Kauf nehmen könne.
Ferner handle es sich darum, denjenigen Gesellschaften und Genossen¬
schaften zu helfen; sie zu fördern und zu unterstützen, die gemeinnützig
vorgeben, um die Zahl der gesunden und dennoch preiswerten Kleinwoh¬
nungen zu vermehren. Auch nach dieser Richtung dürfe die Bauordnung
sich denjenigen Gesichtspunkten nicht entziehen, gegen welche Herr Bau¬
meister gesprochen habe.
In bezug auf die Trockenfristen wolle er bemerken, daß der Vor¬
schlag, sie aufzugeben, nur bezweckt habe, an die Stelle eines höchst un¬
sicheren Verfahrens zur Feststellung der Trockenheit einer Wohnung ein
sicheres Verfahren treten zu lassen. Die Trockenfrist gebe unter Um¬
ständen, wenn die klimatischen Verhältnisse, die Witterungseinflüsse u.s.w.
günstig seien, allerdings eine gewisse Sicherheit der Austrocknung der Woh-
Digitized by
Google
Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 203
nungen, aber nur in gewissen Fällen; in der Regel fehle jede Sicherheit.
Deshalb sei er dafür, daß man an Stelle der Trockenfristen eine Unter¬
suchung der Wohnung auf den Feuchtigkeitsgehalt der Wände vor dem
Beziehen anstelle, wodurch allein ein sicheres und exaktes Verfahren durch¬
geführt werden könne. Über die Möglichkeit der Durchführung zu ent¬
scheiden, sei nicht seine Sache, aber in Hinsicht auf den wissenschaftlichen
Wert müsse er betonen, daß die Trockenfristen desselben yöllig ermangeln.
Legationsrat Gerstmeyer (Berlin) will auf Grund seiner Erfah¬
rungen als ehemaliger Dezernent der Baupolizeiverwaltung in Breslau sich zu
der Frage äußern, ob eine kommunale oder staatliche Baupolizei
vorzuziehen sei. Der Herr Referent habe die Befürchtung geäußert, die
städtische Baupolizei Verwaltung werde vielleicht geneigt sein, die Baupolizei
zu lax zu handhaben. Ihm habe es seinerzeit in Breslau obgelegen, die
staatliche Baupolizei in eine städtische Überzufuhren, und bei dieser Gelegen¬
heit sei er gerade zu der entgegengesetzten Ansicht gelangt. Bald nachdem
die Baupolizei von der Stadt übernommen worden sei, seien in der Stadt¬
verordnetenversammlung Klagen laut geworden, daß die Baupolizei zu streng
gehandhabt werde, und zwar obwohl fast alle Baugesuche in Übereinstim¬
mung mit der Baudeputation erledigt worden seien. Er könne versichern,
daß die Bauhandwerker, die als Mitglieder der Baudeputation bei der Bau¬
polizei beteiligt gewesen seien, für die baupolizeilichen Anforderungen stets
das größte Verständnis und Interesse gezeigt hätten. Als Beispiel dafür
wolle er nur anführen, daß, als es sich darum gehandelt habe, einen Bau,
der infolge minderwertiger Ausführung mit dem Einsturz gedroht habe, ab¬
brechen zu lassen und an den Unternehmer eine entsprechende polizeiliche
Forderung zu stellen, die Mitglieder der Baudeputation in Übereinstimmung
mit den städtischen Baupolizeibeamten dafür gewesen seien, der königliche
Kreisbauinspektor aber auf privates Ansuchen des betreffenden Bauunter¬
nehmers sich habe bereit Anden lassen, ihm zu bescheinigen, daß der Bau
ohne Gefährdung des öffentlichen Interesses stehen bleiben könne. Die Sache
habe nachher auch die Regierung und den Herrn Oberpräsidenten beschäftigt,
und von beiden sei zugunsten der städtischen Baupolizei entschieden wor¬
den. Seiner Überzeugung nach sei die Verbindung zwischen Kommunal¬
verwaltung und Baupolizei eine außerordentlich glückliche gerade wegen der
Möglichkeit einer leichten Verständigung zwischen Baupolizei und Kommu¬
nalverwaltung. Im übrigen sei er auch der Ansicht, daß die Berücksichti¬
gung der kommunalen Interessen und zum Teil auch der kommunal-fiskali¬
schen Interessen auch im wohlverstandenen Interesse der Baupolizei liege.
Medizinalrat Dr. Reineke (Hamburg) gibt gegenüber dem von
Herrn Baumeister ausgesprochenen Wunsch, daß die Medizinalbeamten ein
reicheres statistisches Material über den Zusammenhang zwischen der
Beschaffenheit der Wohnungen und der Gesundheit der Bevölkerung liefern
möchten, der Befürchtung Ausdruck, daß die Medizinalbeamten wohl kaum
in der Lage seien, diesen Wunsch zu erfüllen. Bei seiner Bearbeitung der
Cholera in Hamburg, die Herr Baumeister als Muster hingestellt habe, sei
die Sache sehr einfach gewesen. Da habe man zwei feste Punkte gehabt,
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204 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
einmal die in ihrer Wirkung sehr charakteristische Schädlichkeit, die wäh¬
rend einer ganz kurzen Zeit, drei bis vier Wochen, auf die Bevölkerung ge¬
wirkt habe, und zweitens den Umstand, daß sie auf eine Bevölkerung ein¬
gewirkt habe, die während dieser Zeit nicht umgezogen, sondern in derselben
Wohnung geblieben sei. Wenn sich solche Verhältnisse bei anderen Epi¬
demien wiederholen, könne man ähnliche Statistiken machen, man könne
es vielleicht auch bei Säuglingssterblichkeit tun, bei welcher man nur ein
Lebensjahr vor sich habe und ein Wohnungswechsel in der Regel nicht
stattfinde, aber man werde auf die allergefährlichsten Irrwege der Statistik
geraten, wenn man den Einfluß der Wohnung auf die Gesamtbevölkerung
nach anderen Beziehungen statistisch prüfen wolle. Man solle beispielsweise
die Beeinflussung der Gesundheit eines Menschen beurteilen, der während
seines Lebens in vielen Wohnungen gewohnt habe, bald in dieser, bald in
jener Stadtgegend, bald im Keller, bald unter dem Dach; gerade der Arme,
der in mangelhaften Wohnungen hause, ziehe ja häufig um. Wie wolle
man nun sagen, welche von diesen Wohnungen es gewesen sei, die auf sein
Befinden Einfluß gehabt habe, und ob die in seinem Befinden eingetretenen
Nachteile nun auch wirklich Folge der Wohnung seien, oder ob noch
andere Faktoren daran beteiligt seien, Not, Überfüllung, Schmutz und
andere Dinge!
Dann müsse aber doch auch darauf hingewiesen werden, daß man be¬
treffs der Gesundheitsschädigungen ein einigermaßen brauchbares Zahlen¬
material nur über die Todesfälle besitze, während die Schädlichkeit der
Wohnung sich doch nicht in erster Linie in der Sterblichkeit geltend mache.
Die meisten Schädlichkeiten offenbaren sich in Gestalt von Blutarmut,
Rheumatismus und ähnlichen Leiden, und gerade darüber fehle es an allen
Zahlen. Es gebe ja eine ganze Reihe von Statistiken über den Einfluß von
Kellerwohnungen, von Bodenwohnungen u. s. w. auf die Gesundheit, aber
nach seiner Ansicht seien alle diese Arbeiten wenig wert Der Arzt könne in
Hülle und Fülle Einzelbeobachtungen bringen, jeder Arzt, der einigermaßen
zu tun gehabt habe, werde erzählen können von bleichen, leidenden Kindern
und Müttern, die aufgeblüht seien, wenn sie aus schlechten Wohnungen in
bessere gekommen seien, wie habituelles Kopfweh verschwunden, Bleichsucht
besser geworden sei und tausend ähnliche Dinge. Und das dürfe auch ge¬
nügen, um die hier gestellten Anforderungen an die Beschaffenheit der
Wohnungen zu rechtfertigen. Aber zahlenmäßige Beweise, wie Herr Bau¬
meister sie gewünscht habe, und gar Beweise für den Einfluß der einzelnen
Stockwerke u. dgl. seien absolut nicht zu beschaffen, und wolle sich einer
daran versuchen, so werde er bald festgeraten und jedenfalls kein brauch¬
bares Material beibringen.
Oberbaurat Professor Baumeister (Karlsruhe) widerspricht der
Äußerung von Professor Nussbaum, daß man mit Rücksicht auf die wirt¬
schaftlichen Verhältnisse bei Kleinwohnungen ein wenig hygienische Nach¬
teile mit in den Kauf nehmen müsse. Der Ansicht sei er nicht, er glaube,
daß Kleinwohnungen und Großwohnungen, arme und reiche Leute das
gleiche Maß von hygienischer Fürsorge, von Licht und Luft genießen sollen.
Um Beweise für oder gegen zu geben, würde eine möglichst zahlenmäßige
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 205
Darstellung einmal von dem Einfluß der Baudichte auf die Kosten und
andererseits von dem Einfluß der Baudichte auf die Gesundheit erforderlich
sein. Da letzteres, wie der Vorredner dargelegt habe, außerordentlich
schwierig sei, so werde die Frage vielleicht noch lange in suspenso bleiben
und mehr dem Gefühl zu überlassen sein. Aber das sei sicher: man dürfe
in sozialer und moralischer Hinsicht einen Unterschied zwischen Armen- und
Reichenwohnungen nicht statuieren, wenigstens nicht von vornherein in
neuen Bauordnungen; da müsse gleiches Recht für alle gefordert werden.
Herrn Vermehren gegenüber wolle er betonen, daß es ihm gleichgültig
erscheine, ob in Überschwemmungsgebieten die Eindeichung oder die Auf¬
höhung in erster Linie genannt werde, es seien eben zwei Mittel, die sorg¬
fältig von Fall zu Fall überlegt werden müssen, und von denen man weder
das eine, noch das # andere unter allen Umständen als das richtige hin¬
stellen könne. In dieser Beziehung wolle er auf ein Beispiel hinweisen.
Nach dem französischen Kriege habe es sich um die Stadterweiterung von
Straßburg gehandelt, und das Erweiterungsgebiet sei Überschwemmungsgebiet
der lim gewesen. In der Kommission, der er auch angehört habe, seien die
Ansichten geteilt gewesen, und speziell die Straßburger seien für die Ein¬
deichung gewesen, einer von ihnen mit der Bemerkung: nous sommes un
peuble canard! Die Kommission sei in ihrer Mehrheit aber doch anderer
Ansicht gewesen, und heute sei dieser Stadtteil von der alten Stadt bis nach der
Ruprechtsau hinaus vollständig aufgehöht. Dabei seien oft sehr ver¬
schiedene Dinge zu beachten, nicht bloß der Gegensatz zwischen Aufhöhungs¬
kosten und Pumpkosten, sondern auch die Verschiedenheit in den Siel¬
kosten selbst, ferner die ganz bedeutenden Fundamentierungskosten der
Gebäude, wenn diese alle um mehrere Meter in die Höhe rücken sollen,
natürlich auch etwaige 8chiffahrtsinteressen u. a.
Da sich niemand weiter zum Wort gemeldet hat, schließt der Vor¬
sitzende die Diskussion und erteilt den Referenten das Schlußwort.
Korreferent, Geh. Baurat Stflbben: „Meine Herren! Gestatten
Sie mir als Schlußwort nur wenige Bemerkungen, von denen sich die ersten
an meinen hochverehrten Gönner Herrn Oberbürgermeister Schneider in
Magdeburg wenden, und zwar zunächst zu der Frage, ob man Neubauten,
ja ganz neue Straßenanlagen, kleine Stadtviertel sogar, gestatten soll in
Außenteilen der Gemeinden, wo noch keine geordnete Entwässerung, keine
Kanalisation vorhanden ist. Diese Frage ist man vielleicht als Stadt¬
vertreter mitunter zu bejahen genötigt, denn es gibt Fälle, wo es noch
wichtiger ist, die Wohnungen zu vermehren, als bei Wohnungen die äußer¬
sten Forderungen der Gesundheitspflege zur Geltung zu bringen. Das
kommt gewiß vor, es sind aber unbedingt Ausnahmen. Und noch eins: Die
Gemeindevertreter sind schließlich bereit, auf das Drängen von Baulustigen
oder Baugenossenschaften, von gemeinnützigen Baugesellschaften hin der¬
artige neue kleine Stadtviertel draußen ohne geordnete Wasserableitung
entstehen zu lassen, mit Rücksicht auf die großen Kosten, die es macht, auf
große Entfernungen hinaus eine geeignete Kanalisation einzurichten. Ich
mache aber darauf aufmerksam, daß recht häufig nachher die Rechnung
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206 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
präsentiert wird, daß, nachdem man eine Zeitlang sich mit allerlei Hilfs¬
mitteln, mit den dichten, aber undichten Gruben, mit der regelmäßigen, aber
unregelmäßigen Abfuhr beholfen hat, dann doch so dringend an die Stadt-
yerwaltung und die Stadt Vertretung die Forderungen kommen: Schafft uns
doch endlich auch eine geordnete Kanalisation, wir sind doch nicht Bürger
zweiter Klasse, das gehört sich ja gar nicht u. s. w., daß dann die Stadt ge¬
nötigt ist, nachher vielleicht noch etwas tiefer in den Geldbeutel zu greifen, um
den inzwischen entstandenen Übelständen abzuhelfen. Ich wollte darauf auf¬
merksam machen, um den hochverehrten Herren Gemeindevertretern, die
hier versammelt sind, es nicht allzu leicht zu machen, neue Straßen oder
gar neue Stadtteile entstehen zu lassen auf Grund unzureichender hygieni¬
scher Vorbedingungen.
„Das Zweite ist die Frage der Baupolizeikommissionen. Der
Herr Oberbürgermeister hat es mit Freuden verzeichnet, daß Herr Geheim¬
rat Rumpelt als hoher Staatsbeamter es anerkannt hat, wie trefflich die
Baupolizei durch kommunale Organe verwaltet wird, und ich bin aus eigener
Erfahrung der Meinung, daß darin Herrn Geheimrat Rumpelt zuzustimmen
ist; dieser hat aber sein Anerkenntnis zu einem Hauptteile damit begründet,
daß bei der kommunalen Handhabung der Baupolizei gerade in den
Baudeputationen, in den Baupolizeikommissionen den sachverständigen
Bürgern der Stadt als Vertrauensmännern der Bürgerschaft Gelegenheit
gegeben wird, sich von der Güte der baupolizeilichen Vorschriften persön¬
lich zu überzeugen, daß sich allmählich die Überzeugung, daß die Bau¬
ordnung gehandhabt werden müsse, nach außen überträgt, und daß so
die Gewöhnung an neue Vorschriften mehr und besser in die Bevölkerung
übergeht, als wenn alles nur von oben herab von Staatsbeamten rein bureau-
kratisch gehandhabt wird. Wenn nun bloß der Staatsbeamte durch den
Kommunalbeamten ersetzt würde und der das ebenso bureaukratisch macht,
so sind wir eigentlich keinen rechten Schritt weiter gekommen. Eine
Kleinigkeit weiter sind wir vielleicht insofern, als dieser Kommunalbeamte
mit der städtischen Behörde in Zusammenhang ist und gewisse allgemeine
Interessen der Stadt besser zu beachten und zu betreiben vermag als der
Staat. Hat das auch gewisse Schattenseiten, so überwiegen die Vorteile
doch zweifellos. Aber ich habe doch den Wunsch, daß man diesen Kommunal¬
beamten etwas stärken möge gegenüber der Bürgerschaft, auch stärken
möge gegenüber der staatlichen Aufsichtsbehörde, und zwar dadurch stärken
möge, daß man ihm einen gewissen Rückhalt in einer kommunalen Bau¬
polizeikommission gibt. Es gibt ja viele Städte mit solchen Kommissionen;
ich glaube, die Mehrzahl hat ähnliche Einrichtungen unter verschiedenen
Namen. Andere gibt es, die derartige Kommissionen oder Deputationen
nicht haben. Ich wünsche nun keinesfalls eine Baupolizeikommission, die
über alle Fälle aburteilt und die sich an die Stelle des Polizeichefs setzt.
Davon kann gar nicht die Rede sein. Darin bin ich mit Herrn Oberbürger¬
meister Schneider unbedingt einverstanden, daß die Exekutive allein in
den Händen des Polizeichefs sein muß, damit er schnell, bestimmt und
schneidig handeln kann. Aber für eine ganze Reihe sowohl von grundsätz¬
lichen Fragen als von Auslegungsfragen, bei Ausnahmebewilligungen und
bei Erlaß neuer Bestimmungen ist es wichtig, daß der Polizeivorstand sich
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 207
stützen kann auf das Gutachten einer beratenden Baupolizeikommision. Nur
in dem Sinne habe ich diese empfohlen.
„Mit Herrn Kollegen Vermehren hat sich ja schon Herr Oberbaurat
Baumeister insofern einverstanden erklärt, als die Frage, ob man im
Überschwemmungsgebiet eindeichen oder aufhöhen soll, örtlich zu lösen ist.
Ich will Herrn Vermehren darin durchaus zustimmen, grundsätzlich besser
ist zweifellos die Aufhöhung, denn dann hören alle die Schwierigkeiten und
Kosten auf, die bei einem eingedeichten Stadtteil nachher unvermeidbar
sind. Ich bin persönlich so weit gegangen, daß ich Straßen bis auf 7 m habe
aufhöhen lassen und die Baugründe auch. Es stand sehr guter Boden zur
Verfügung, und das Gebiet war nicht allzu groß. Während man damals
anfangs große Augen machte über einen solchen Vorschlag, ist man heute
darüber einig, daß es zweifellos die richtige und die beste Lösung der Sache
gewesen ist. Es gibt aber manche Fälle, wo man durchaus eindeichen muß.
Wir haben am Rhein ganze Stadtflächen, die eingedeicht sind, und auch
solche, die zukünftig eingedeicht werden sollen. Ja, man kann nicht einmal
absolut verhindern, daß innerhalb eines uneingedeicbten Überschwemmungs¬
gebietes das eine oder das andere gebaut werde. Das sind aber seltene
Ausnahmefälle, die man als solche zu behandeln hat.
„Gegen Herrn Professor Nuß bäum möchte ich noch wenige Bemer¬
kungen machen. Die ungünstigen Wärmeverhältnisse bei der offenen Be¬
bauung sind in beschränktem Umfange gewiß vorhanden, auch von mir an¬
gedeutet worden; sie gehören zu denjenigen, so oft übertriebenen Punkten,
in welchen die offene Bauweise hinter der geschlossenen zurücksteht. Gewiß
kann man auch in geschlossener Reihe gesundheitlich befriedigend bauen,
wie nicht bloß Bremen, sondern auch rheinische, holländische und belgische
Städte zeigen. Aber dabei müssen wir doch feststellen, daß grundsätzlich
die offene Bebauung hygienisch den Vorzug vor dem geschlossenen
Reihenbau verdient, und daß es deshalb vom Hygieniker unrichtig wäre, die
offene Bebauung bekämpfen zu wollen. Das sollten wir anderen überlassen.
Die Nachteile, die, wie gesagt, meistens übertrieben werden, liegen auf der
wirtschaftlichen Seite, und deshalb können wir die offene Bauart nicht absolut
und überall einführen. Wir müssen sie einschränken, unter Umständen
sehr einschränken nach den Verhältnissen des Ortes, nach der Art der Be¬
wohner, nach der Art des Geländes. Namentlich für Arbeiterwohnungen
allgemein oder auch nur in großem Maßstabe die offene Bebauung zu ver¬
langen , das würde in einer großen Stadt zu weit gehen. Der Reihenbau
verdient für Arbeiterwohnungen den Vorzug, soweit man nicht mit denselben
an die Peripherie geht. Es empfiehlt sich aber sehr — und das ist in
sächsischen und rheinischen Städten vielfach zur Ausführung gebracht
worden — an die von mir geschilderte halb offene Bebauung zu denken,
die auch den Arbeiterwohnungen den großen Vorzug direkter Besonnung
gewährt.
„Was die Bevorzugung von Kleinwohnungen durch baupolizeiliche Be¬
stimmungen betrifft, so dürfen wir die nicht erkaufen durch Opferung wich¬
tiger hygienischer Anforderungen. Ich schließe mich in dieser Hinsicht
Herrn Professor Baumeister an.
„Noch eine kleine Bemerkung, meine Herren, bezüglich der Publikation,
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208 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
die Herr von Esmareb wünschte. Ich darf wohl mitteilen, daß der
Ausschuß des Vereins bereits eine kleine Summe bewilligt hat, um einen
Bearbeiter zu Anden, der dieses ganze schöne Material, das Herrn Geheim¬
rat Dr. Rumpelt zugegangen ist, in eine faßliche Beschreibung bringen
soll, die in der „Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬
pflege“ erscheinen soll. Ob es schon möglich sein wird, sie dem Bericht
über diese Versammlung beizufügen, das weiß ich nicht; ich fürchte, daß die
Zeit nicht ausreichen wird. Eine ganz andere Sache ist aber die Menge von
schönen Ausstellungsgegenständen hier in der Städteausstellung. Diese
können wir natürlich nicht als Gesundheitspflege verein bearbeiten; sie
werden aber bearbeitet werden, wie ich auch mitteilen kann, durch den
Ausschuß des deutschen Städtetages. Wir werden also eine doppelte, für
die Dauer berechnete Veröffentlichung sowohl über unsere Verhandlung
haben, wie über das, was auf der Städteausstellung hier in baupolizeilicher
Beziehung ausgestellt ist.
„Im übrigen danke ich für die freundliche Beurteilung.“
Referent, Geheimer Regierungsrat Dr. Rumpelt:
„Meine hochgeehrten Herren! Wenn ich Wert daraufgelegt habe, das
letzte Wort zu haben, so bin ich mir gleich bewußt gewesen, daß das in dem
speziellen Falle den Nachteil für mich hätte, nach Herrn Geheimrat Stübben
zu sprechen. Es bleibt mir nichts weiter übrig, als die Brosamen zu
sammeln, die von seinem Tische gefallen sind.
„Ich möchte da aber vor allen Dingen konstatieren, daß unsere Leit¬
sätze doch im allgemeinen die Zustimmung der Versammlung gefunden zu
haben scheinen, daß wesentliche Beanstandungen doch eigentlich nicht er¬
folgt sind. Beanstandet wurden nur einzelne meiner Ausführungen, die
nach der Meinung einiger Herren von den vorsichtiger gehaltenen Leit¬
sätzen abwichen und die Gedanken in einer ihnen unerwünschten größeren
Schärfe zum Ausdruck brachten. Es bezieht sich das hauptsächlich auf die
Frage der Bebauungsfähigkeit vor erfolgter Entwässerung, sowie innerhalb
des Überschwemmungsgebietes. Ich muß bekennen, meine Herren, daß ich
hier beeinflußt worden bin durch unsere sächsischen Verhältnisse. Das
sächsische Baugesetz enthält in dieser Beziehung ganz bestimmte Vor¬
schriften. Es geht davon aus, daß in den Städten, wenigstens für Neubau¬
gebiete, unbedingt die Entwässerung vorangehen muß, bevor gebaut werden
darf, und ebenso bestimmt unser Baugesetz, was zu geschehen hat innerhalb
des Überschwemmungsgebietes. Ich muß auch dazu bemerken, daß das
nicht etwa nur von den Sachverständigen und Ministerialbeamten, sondern
in allererster Linie von unseren sächsischen Gemeinden selbst angeregt worden
ist. Gerade Vertreter unserer sächsischen Gemeinden haben bei den Be¬
ratungen im Landtage ganz ausdrücklich gefordert, daß Ausnahmen hin¬
sichtlich der Entwässerung, der Beschleusung höchstens in ländlichen Ver¬
hältnissen bewilligt werden dürfen.
„Das Bild, das der Herr Oberbürgermeister Schneider aus Magdeburgs
Ihnen entworfen hat von der städtischen Arbeiterkolonie draußen an der
Grenze des städtischen Weichbildes, ist das, was unsere Gemeinden mit
Schrecken erfüllt, und nach den Erfahrungen, die wir mit derartigen Kolonien
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 209
gemacht haben, ist es allerdings, glaube ich, etwas, was auf das äußerste
zu widerraten ist, und es ist auch selbst der Übelstand, den das Hinaus¬
drängen gewisser Arbeiterkreise in die benachbarten Landgemeinden für
die Stadt mit sich bringt, viel, viel geringer als solche von der eigentlichen
Stadt losgerissene und außer jedem Zusammenhang befindliche große Kolo¬
nien. Wir werden jedenfalls hier in Sachsen daran festbalten, daß die Be-
bauungsfahigkeit in den Städten und in industriellen Orten abbängt von der
vorherigen Regelung der Entwässerungsfrage. Ebenso werden wir in bezug
auf das Überschwemmungsgebiet an unseren Grundsätzen festbalten, und
ich glaube, nicht zum Schaden unserer öffentlichen Verhältnisse.
„Dann ist auch von Herrn Oberbürgermeister Schneider geltend ge¬
macht worden, daß den bestehenden Verhältnissen gegenüber doch vielleicht
eine noch größere Schonung nötig wäre, als sie selbst von meiner Seite
schon empfohlen worden ist. Auch ich hatte ausdrücklich anerkannt, daß
es sich hier eben doch um rechtlich bestehende Verhältnisse handelt. Auch
in den Fällen, die der Herr Oberbürgermeister vielleicht im Auge hat, wenn
es sich um größere Veränderungen schon vorhandener Bauten handelt, wird
man nicht etwa die Vorschriften für Neubaugelände in ihrer ganzen Schärfe
zur Anwendung bringen dürfen. Aber, meine Herren, wir müssen
doch auch damit rechnen, daß gerade im Stadtinnern unserer großen
Städte vielfach eine ganz andere Entwickelung vor sich geht; es ist die
Verwandlung der Wohnviertel in reine Geschäftsviertel. Es bildet sich auch
in unseren deutschen großen Städten nach und nach im Innern eine City
mit kolossal gesteigerten Werten und mit vollständiger Entleerung von
wirklichen Wohnungen. Daß es unter solchen Verhältnissen nicht zu hart
ist, kostspieligere Herstellungen und Vorkehrungen zu verlangen, glaube ich,
wird wohl von allen Seiten zugestanden werden können.
„Meine Herren! Der Herr Vertreter unseres böhmischen Nachbarlandes
hat hervorgehoben, daß man bei den Assanierungen gar zu leicht dahin
käme, gerade kleine Leute wohnungslos zu machen, und dadurch in gesund¬
heitlicher Beziehung eher schädigend wirke. Ich darf im Anschluß daran
vielleicht nur kurz bemerken, daß in unserem sächsischen Baugesetz für die
Fälle der Zonenenteignung oder auch der Umlegung ausdrücklich den Ge¬
meinden zur Pflicht gemacht worden ist, darauf Bedacht zu nehmen, daß
die Leute, welche infolge dieser Maßregeln ihre Wohnungen verlieren, auch
in entsprechender Weise wieder untergebracht werden können.
„Dann, meine Herren, die Frage der Trockenfristen! Ich glaube,
die Äußerungen, die hierüber gefallen sind, bestätigen, was ich gesagt habe,
daß sich die Trockenfristen bei den kommunalen Behörden und bei den
Baupolizeibehörden überhaupt einer großen Beliebtheit erfreuen. Sie sind
zweifellos im allgemeinen recht bequem; ich will auch nicht dagegen polemi¬
sieren. Ich möchte aber davor warnen, daß sie zu schablonenhaft festgestellt
und gehandhabt werden. Aus meiner eigenen Erfahrung als Amtshauptmann
in Chemnitz muß ich bemerken, daß in denjenigen Gemeinden, welche
Trockenfristen eingeführt hatten, fast bei jedem Bau um Dispens gebeten
wurde, und daß, wenn einmal eine Trockenfrist eingehalten wurde, das Haus
so und so oft trotzdem nicht trocken war, als es bezogen wurde. Ich habe
infolgedessen etwas skeptischer über diese Trocken fristen denken gelernt.
Vierteljahrsschrift för Gesundheitspflege, 1904. 24
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210 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
„Meine Herren! Was die Frage der städtischen Baupolizei an¬
langt, so hatte ich allerdings ein etwas schlechtes Gewissen bei der Zu¬
stimmung, die Herr Oberbürgermeister Schneider mir ausdrückte. Denn
er sang ja eigentlich gerade das Lob der bureaukratischen Baupolizeibehörde.
Aber ich glaube, wir verständigen uns in dem Sinne, den Herr Geheimer
Baurat Stübben bereits angedeutet hat. Für die Erledigung des einzelnen
normalen Baugesuches soll nicht der immerhin etwas schwerfällige
Apparat der ganzen Selbstverwaltung in Bewegung gesetzt werden. Aber
bei prinzipiellen und zweifelhaften Fragen ist es allerdings sehr wünschens¬
wert, daß auch die Selbstverwaltungsorgane mit eingreifen.
„Meine Herren! Ich glaube das Zeugnis der hohen Versammlung an-
rufen zu können, daß ich mit großer Wärme für diese Selbstverwaltung
eingetreten bin. Ich habe es deswegen nicht ganz verstanden, daß einer
der Herren gegen mich polemisiert und mir vorgebalten hat, die Breslauer
städtische Baupolizeibehörde habe so sehr viel besser gearbeitet als die
staatliche Behörde. Ja, meine Herren, wenn das in einem einzelnen Falle
vorgekommen sein sollte, daß ein staatlicher Bauinspektor zu nach¬
giebig und lax gewesen wäre, so beweist dies an sich noch gar nichts.
„Im allgemeinen werden mir die Herren, die im Kommunaldienst
stehen, recht geben, daß gewisse Schattenseiten und Übelstände auch bei
der kummunalen Verwaltung der Baupolizei bestehen, und daß namentlich
rasches und rücksichtsloses Durcbgreifen für eine bureaukratische staat¬
liche Behörde leichter ist als für ein Selbstverwaltungsorgan. Das bindert
mich aber, wie gesagt, nicht, für die Selbstverwaltung auch auf diesem Ge¬
biete einzutreten.
„Meine Herren! Ich komme zum Schluß. Ich darf wohl nochmals
konstatieren, daß sich ein sehr erfreuliches Einverständnis bekundet hat
hinsichtlich aller wesentlichen Punkte in unseren Leitsätzen und damit
hinsichtlich aller derjenigen Anforderungen, die wir im Interesse und im
Namen der öffentlichen Gesundheitspflege an die Baupolizei zu stellen haben.
„Herr Oberbaurat Baumeister hat in dem schönen Idealismus, der sein
ganzes Wirken von Anfang an gekennzeichnet hat, der uns in allen diesen
Fragen so wertvolle Anregungen gegeben und uns auch schon zu so be¬
merkenswerten Zielen geführt hat, in diesen Leitsätzen bereits die Grund¬
lage für eine Reichsbauordnung erblickt. Diesem Idealismus kann ich mich
nun allerdings nicht hingeben. Ich glaube nicht, daß die Leitsätze bereits
eine geeignete Unterlage für einen gesetzgeberischen Akt des Reiches bieten.
Auch hat gerade die heutige Besprechung wieder gezeigt, daß unsere Ver¬
hältnisse in Deutschland noch lange nicht überall so ausgeglichen sind, um
von einer allgemeinen Reichsbauordnung eine glückliche Lösung der ein¬
schlagenden Fragen zu erwarten. In Sachsen haben wir im Gegenteil
weiter dezentralisiert und haben gesagt: das Landesbaugesetz gilt, wenn
und soweit nicht die Gemeinden sich eigene, ihren individuellen Interessen
und Bedürfnissen entsprechende baugesetzliche Vorschriften geben, und ich
glaube, meine Herren, gerade im Interesse des Wohlseins unserer Gemeinden
und gerade im Interesse einer wirklich praktischen Baupolizei werden wir
besser tun, diesen Weg auch weiter zu beschreiten. Wir können dabei
immer, wenn wir auch getrennt marschieren, vereint schlagen.“
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege. 211
Vorsitzender Geh. Medizinalrat Dr. Löffler:
„Meine Herren! Nachdem die Herren Referenten ihr Schlußwort ge¬
sprochen haben, ist dieser Gegenstand erledigt, und es bleibt mir nur noch
übrig, denselben den allerauf richtigsten herzlichen Dank des Vereines aus¬
zusprechen für die außerordentliche Mühe und Sorgfalt, welche sie verwendet
haben, um das so sehr umfangreiche und schwierige Material in so aus¬
gezeichneter Weise zu bewältigen. Von ganzem Herzen wünschen wir, daß
die Ergebnisse ihrer Studien, wie sie jetzt vorliegen, zum Heil und Segen
für die weitere Entwickelung unserer deutschen Städte gereichen mögen,
und daß künftighin doch einmal, wie es unser Altmeister Baumeister
gesagt hat, auf die Schlußsätze eine neue Reichsbauordnung sich auf bauen
möge. Das wird dann der schönste Lohn für ihre Mühen sein. u
Hierauf übernimmt Güll. B&urat Stübbeil wieder den Vorsitz und
erteilt zu einer Mitteilung zur Geschäftsordnung das Wort an
Bürgermeister Dr. Job&nsen (Minden): „Meine Herren! Gestatten
Sie mir nur wenige Worte zur Geschäftsordnung.
„Ich muß vorausschicken, daß ich zum ersten Male diesen Kongreß be¬
suche. So außerordentlich interessant und wertvoll die Verhandlungen und
die Ergebnisse für uns alle sind, erlauben Sie mir vielleicht, einem leichten
Befremden doch Ausdruck zu verleihen. Dieses Befremden bezieht sich
auf die Geschäftsordnung, und zwar auf zwei Punkte. Der erste ist der:
Von den fünf Punkten, die auf der Tagesordnung stehen, fehlte bei vier das
Korreferat, auch beim fünften waren zwar zwei Referenten vorhanden, aber
kein Referent und Korreferent. Meine Herren! Ich glaube, daß es sicher im
Interesse der Behandlung einer Frage liegt, wenn man den Gegenstand
gleich zweiseitig beleuchtet, und zwar, wie das ja eigentlich bei der Zusammen¬
setzung unserer Versammlung gegeben ist, neben der Theorie und der Wissen¬
schaft auch der Verwaltung von vornherein das Wort gibt
„Meine Herren! Wenn Sie in diesem Punkte vielleicht nicht ganz mit
mir übereinstimmen, so, glaube ich, werden Sie vielleicht im zweiten Punkte
doch eher meiner Ansicht sein. Bei dem ersten Punkte, der auf der Tages¬
ordnung des ersten Tages stand, hatten sich acht Herren zum Worte gemeldet.
Da glaubte der Herr Vorsitzende die Pflicht zu haben, die Herren aufzu¬
fordern , sich möglichst kurz zu fassen. Als sich dann noch ein neunter
Herr gemeldet hatte, da meinte er der Zustimmung der Versammlung sicher
zu sein, wenn nunmehr die Rednerliste geschlossen würde. Ganz das gleiche
Schauspiel entwickelte sich bei dem ersten Punkte der Tagesordnung des
zweiten Tages. Meine Herren! Wenn ich das Verzeichnis der Teilnehmer
dieser Versammlung durchsehe, so finde ich fast ausnahmslos Herren, die
mitten in der Praxis stehen: beamtete und nicht beamtete Ärzte, Architekten,
Staatsbeamte, Mitglieder städtischer Vertretungen oder Verwaltungen. Meine
Herren! So außerordentlich wertvoll für uns die Referate sind, ich glaube,
einem großen Teil der Versammlung ist noch wertvoller die Praxis, und die
gibt nur die Diskussion. Daß wir den Leitsätzen im wesentlichen alle zu¬
stimmen, ich glaube, das wird regelmäßig am Schlüsse jedes Punktes mit
Freude konstatiert werden. Aber ich glaube, nicht ich allein habe diese
14 *
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212 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
Sehnsucht nach den Mitteilungen, die die Diskussion liefert; denn die liefert
uns erst die Mitteilungen, wie die von uns für richtig erkannten Grundsätze
in der Praxis durchzuführen sind, welche Erfolge man damit erzielt, welche
Mißerfolge, welche Bedenken u. s. w. sich da geltend gemacht haben.
„Es geht lediglich mein Wunsch dahin, der Ausschuß möge in Erwä¬
gung ziehen, ob es nicht angängig ist, in Zukunft das Korreferat zuzufügen,
und ob es nicht möglich ist, durch eine andere Einteilung der Geschäfts¬
ordnung der Praxis und den Mitteilungen aus der Praxis denjenigen Raum
zu geben, den heute am letzten Tage, meine Herren, die Verhandlungen
schon in Wirklichkeit gewonnen haben.“
Oberbürgermeister Schneider (Magdeburg): „Meine Herren! Ich
habe es immer als einen wesentlichen Vorzug unserer Versammlungen be¬
trachtet, daß wir unserem Vorstande in bezug auf die geschäftliche Behand¬
lung das vollste Vertrauen entgegengebracht haben. Meine verehrten Herren!
Ich glaube nicht, daß die Ausführungen des Herrn Vorredners irgendwie
geeignet sind, uns in unserem Vertrauen gegenüber dem Vorstande auch nur
irgendwie beeinträchtigen zu lassen. Ich möchte hier nur feststellen, daß
der Vorstand, wie er es stets gewohnt gewesen ist, in unparteiischer, in
zweckmäßiger und in sachgemäßer Weise die Geschäfte gehandhabt hat,
daß auch namentlich der Vorwurf, es sei irgend einer der Herren verkürzt
worden in der Redefreiheit, als unberechtigt zurückzuweisen ist. Ich glaube,
die sämtlichen Verhandlungsgegenstände sind in so erschöpfender Weise
verhandelt worden, wie es nach Lage der Verhältnisse und nach Lage der
uns immerhin nur beschränkt zu Gebote stehenden Zeit möglich war, und
ich glaube, die Ergebnisse der Verhandlungen sind derart, daß wir jeder
einzelne, nach Hause gehen werden mit dem vollen Bewußtsein, wir haben
hier wie gewöhnlich gründlich, erschöpfend verhandelt, und wir haben unser
Wissen, unser Können in den verschiedenen Verhandlungszweigen wesent¬
lich erweitert.
„Meine Herren! Namentlich möchte ich ganz dringend bitten, daß wir
die Frage, ob neben dem Referenten auch noch ein Korreferent zu bestellen
ist, ausschließlich unserem geehrten Vorstande überlassen, der in dieser Be¬
ziehung ja zweifellos am meisten geeignet ist, zu wissen, ob der Gegenstand
nach seinem Umfange, nach seiner Bedeutung, nach den Zweifelsfragen, die
sich nach der einen oder anderen Richtung ergeben haben, geeignet ist, von
einem oder von zwei Referenten behandelt zu werden. Grundsätzlich für
jeden Gegenstand zwei Referenten zu bestellen, würde ich — und ich glaube.
Sie werden mir in Ihrer großen Mehrheit beistimmen — lediglich für einen
ganz unnötigen und öden Formalismus halten.
„Ich glaube, das war doch nötig zu sagen meinem verehrten Vorredner,
der mir das nicht verübeln möge.“
Baumeister Stadtrat Hartwig (Dresden): „Meine Herren! Der
Wunsch von Herrn Bürgermeister Johansen wird von mir nicht aufgefaßt
als ein Vorwurf gegen den Vorstand. Ich glaube, mein verehrter Herr Vor¬
redner, Herr Oberbürgermeister Schneider, hat das in dieser Beziehung
etwas zu scharf aufgefaßt. Es war ein Wunsch, dem ich volle Berechtigung
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Die Bauordnung im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege.
213
zusprechen möchte, und ich bin auch von der Höhe des Vorstandes überzeugt,
daß er einen solchen Wunsch nicht übelnehmen wird. Gerade bei der Bau¬
polizei wäre es doch im intensivsten Maße wünschenswert gewesen, wenn ein
Korreferat zustande gekommen wäre. Ich nenne etwas anderes ein Korreferat,
eine Beleuchtung derjenigen Sätze, welche die beiden Referenten gegeben
haben, und welchen Meinungen gegenüber nun doch auch andere Meinungen
möglich sind. Zum Beispiel hätte aus der Praxis der Baupolizei in Sachsen
eine Beleuchtung derjenigen Umstände, unter welchen sie gehandhabt wird,
überraschende Resultate ergeben, namentlich die Hinweise darauf, wie und
unter welchen Umständen Dispensationen erteilt werden, von denen nach¬
mals kein Mensch versteht: wieso, warum! Ich habe mit einem in der Bau¬
polizei praktisch tätig gewesenen Manne diese Grundsätze besprochen, und
wir beide sind darüber einig gewesen, daß das Wesentlichste, was jetzt gesagt
werden muß, in einem Korreferat treffend zu verwerten gewesen wäre. u
Vorsitzender Gflh.B&urat Stflbben: „Meine Herren! Ich nehme an,
daß die Geschäftsordnungsdebatte sich erschöpft hat, und ich nehme ferner
an, daß Herr Bürgermeister Johansen, wenn er noch öfter an unseren Ver¬
handlungen teilnimmt, folgendes als richtig anerkennen wird: Die Geschäfts¬
praxis unseres Vereins hat sich in dreißigjähriger Tätigkeit gebildet und, ich
glaube wohl sagen zu dürfen, erprobt. Der Ausschuß berät über die Frage,
ob Referent und Korreferent, oder ob auch im Sinne des Herrn Hartwig
ein Gegenreferent aufgestellt werden soll, ausführlich und sehr vorsichtig.
Daß er dabei natürlich auch einmal so beschließen kann, wie es einem der
geehrten Anwesenden nicht genehm ist, liegt ja in der Natur der Sache. Ich
möchte aber bitten, daß wir das jetzige Geschäfts verfahren, das sich erprobt
hat, auch für die Zukunft beibehalten. Ich habe für mich die Überzeugung,
daß Herr Bürgermeister Johansen, wenn er uns länger hier besucht haben
wird, dem beistimmen wird.“
Bürgermeister Dr. Johansen (Minden): „Ich bitte um Entschuldi¬
gung, wenn ich in der Tat falsch verstanden worden bin. Ich will mich mit
dem Herrn Vorredner, der eben gesprochen hat, durchaus nicht identifizieren.
Ich habe auch durchaus nicht beabsichtigt, dem Ausschuß irgend welchen
Vorwurf zu machen. Ich habe lediglich — wenn die Herren sich an die
Worte erinnern wollen, die ich sagte — erklärt, ich möchte dem Ausschuß
anheim geben, zu erwägen, ob er nicht nach dieser Richtung hin eine Ände¬
rung eintreten lassen wollte. Ich habe das lediglich getan, weil ich an den
beiden ersten Tagen bei den ersten Punkten den Eindruck hatte, es wäre
schade, daß wir nicht etwas aus der Praxis über diese Punkte gehört haben.
Ein Mißtrauen liegt mir durchaus fern. tt
Oberbürgermeister Schneider (Magdeburg): „Ich nehme an, daß
der Herr Vorsitzende unsere Versammlung schließen will, und da ich ja nach¬
her das Wort nicht mehr habe, möchte ich es vorher erbitten. Ich bin fest
überzeugt, daß ich mich in dem zu Sagenden in vollster Übereinstimmung mit
Ihnen allen befinden werde. Es liegt mir am Herzen, in Ihrer aller Namen
Digitized by
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214 XXVIII. Versammlung d. D. Vereins f. öffentl. Gesundheitspflege zu Dresden.
dem geehrten Vorstande für die umsichtige und tatkräftige Leitung unserer
diesjährigen Verhandlungen unseren ganz besonderen Dank auszusprechen,
aber speziell diesen Dank auszusprechen unserem hochverehrten Herrn
Geheimerat Stübben, von dem wir ja gewohnt sind, daß er seine Sache
meisterlich macht, der aber diesmal sich noch selber flbertroffen hat. Denn er
ist wirklich in einer Reihe von Rollen aufgetreten, von denen jede einzelne
ihre ganz besonderen Schwierigkeiten hat. Er hat hier unsere Geschäfte in
gewohnter Weise mit Umsicht und mit Tatkraft und mit Verständnis geleitet,
er ist aufgetreten an den verschiedenen Festtafeln als ein gottbegnadeter
Gelegenheitsredner und hat uns dadurch große Freude bereitet, und heute
hat er uns auch noch schließlich in all der Arbeitslast einen schönen be¬
lehrenden Vortrag gehalten. Ich glaube, daß eine derartige Vielseitigkeit
eines Vorsitzenden noch nicht leicht zu verzeichnen gewesen ist. Also,
meine verehrten Herren, ich glaube, wir dürfen unsere Verhandlungen nicht
schließen, ohne daß wir allen diesen verehrten Herren und speziell Herrn
Geheimerat Stübben unseren wärmsten Dank aussprechen!“
Vorsitzender, Geh. Baurat Stübben: „Ich danke Ihnen, meine
Herren und Damen, und namentlich Herrn Oberbürgermeister Schneider
für die freundliche Beurteilung meiner Tätigkeit hier!
„Ich habe dann nur noch, bevor ich die Versammlung schließe, allen
denen, die zu ihrem guten Gelingen beigetragen haben, den Herren Refe¬
renten namentlich, nochmals den Dank des Ausschusses auszusprechen und
diesen Dank in besonderer Weise noch auszudehnen und zu wiederholen an
die Adresse der Stadt Dresden und ihrer Verwaltung. In diesem Sinne
schließe ich die diesjährige Tagung mit dem Rufe: Der deutsche Verein
für öffentliche Gesundheitspflege, er lebe hoch! — und nochmals
hoch und zum dritten Male hoch!“
(Die Anwesenden, die sich erhoben haben, stimmen freudig in das drei¬
malige Hoch ein.)
Schluß der Sitzung 2 Uhr.
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Kritiken und Besprechungen.
215
Kritiken und Besprechungen.
Das Gesundheitswesen des Preufsisohen Staates im Jahre 1901 .
Bearbeitet von der Medizinalabteilung des Ministeriums fflr geist¬
liche usw. Angelegenheiten. Berlin, R. Schoetz, 1903. gr. 8. XV
— 497 und 117 S.
Kaum ist ein halbes Jahr verflossen seit Erscheinen des letzten Sammel¬
berichtes, so liegt auch schon der neue stattliche Band über das Jahr 1901
vor, und es ist in Aussicht genommen, daß die Veröffentlichungen jährlich
und in schnellerer Aufeinanderfolge stattfinden sollen.
Dieses Vorhaben ist nur mit Freuden zu begrüßen, das Werk wird sich
dadurch nur noch mehr Freunde erwerben, und der Wert des Buches wird
durch die nur kurze Zeit zurückliegenden Erfahrungen und Erhebungen er¬
heblich gesteigert.
Trotzdem in dem Bericht nur das Jahr 1901 Berücksichtigung findet,
so ist der Umfang desselben doch nur wenig geringer im Verhältnis zu
denen, welche eine dreijährige Berichtszeit umfaßten. Das liegt einesteils
an der so lobenswerten ausführlichen Beschreibung der gemeldeten Beob¬
achtungen, anderenteils an der Erweiterung der Funktionen, welche durch
das Kreisarztgesetz entstanden sind, und den eifrigeren sanitären Bestre¬
bungen , welche mit Hilfe dieses Gesetzes mehr in Fluß gebracht wurden.
Ferner ist durch die Gründung der königlichen Versuchs- und Prüfungs¬
anstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseitigung in Berlin ein großes,
segenverheißendes Feld sowohl für die beamteten Ärzte als auch besonders
für die Städte und Ortschaften eröffnet worden.
Der Bericht selbst bietet im ersten Jahr nach der Neuorganisation des
preußischen Sanitätswesens noch manche Lücken, welche durch die Neu¬
besetzung der Stellen und die Übergangszeit ihre Erklärung finden.
Das Kapitel „Infektionskrankheiten“ ist durch eine kritische Beurtei¬
lung der Zu- und Abnahme von Krebsfällen in den einzelnen Ortschaften
bereichert.
Die Beteiligung der Kreisärzte auf den Gebieten der Wohnungshygiene,
Sanierung der Ortschaften, Wasserversorgung, Beseitigung der Abfallstoffe,
Schulhygiene, Armen- und Krankenpflege ist in erfreulichem Zunehmen be¬
griffen.
Zwischen den beamteten Ärzten und Gewerbeinspektionen scheint es
noch nicht so zum harmonischen und eifrigen Zusammenarbeiten gekommen
zu sein, wie es im Interesse der Sache wünschenswert erscheint. Sollte
die Ursache nicht in dem an manchem Orte noch etwas schwerfälligen Ap¬
parat zu suchen sein, indem zu viel Papier verschrieben wird, während ge¬
meinschaftliche Besichtigungen sowohl die Menschen als auch manche Fragen
der Lösung näher bringen?
Durch die Gründung bakteriologischer Laboratorien an dem Sitze ein-
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216
Kritiken und Besprechungen.
zelner Regierungen ist einem vielfach geäußerten Bedürfnis abgeholfen
worden, allerdings noch keineswegs in genügendem Maße, denn bei der
Reichhaltigkeit der kreisärztlichen Tätigkeit, bei der Überwachung der
Vorschriften des Reichsseuchengesetzes werden notwendig noch mehr Unter¬
such ungsstationen folgen müssen, welche nicht zu weit weg von den Seuchen¬
herden liegen dürfen.
Ein Typhusstuhl, welcher eine längere Bahnreise gemacht hat, kann im
Laboratorium mit geringerer Sicherheit als solcher diagnostiziert werden,
als wenn er möglichst frisch zur Verarbeitung kommt. Der Bericht führt
allerdings eine Reihe von Untersuchungsstellen auf, welche ihre Räume und
Kräfte zur Verfügung halten, es werden diese Institute aber nicht so nutz¬
bringend für die betreffenden Kreise, speziell in hygienischen Fragen arbeiten
können, da sie nach anderen Gesichtspunkten und für andere Zwecke ge¬
gründet sind.
Die Einrichtung von Gesundheitskommissionen scheint auf fruchtbaren
Boden gefallen zu sein, das Verständnis der Gemeinden für die Desinfektion
und die Anstellung dazu geeigneter Leute ist im Zunehmen begriffen, bis in
den fernsten Osten ist in sanitären Fragen ein frischer, fröhlicher Wind zu
spüren. Die Ziele und Wünsche, welche bei der Neuregelung des Kreisarzt¬
gesetzes niedergelegt sind, von denen auch im letzten Kapitel die wichtigsten
Erlasse angeführt werden, sie beginnen allmählich sich zu verwirklichen und
haben zum großen Teil schon herrliche Früchte gezeitigt, wovon der ganze
Bericht ein schönes Zeugnis ablegt; und hoffentlich ist die Zeit nicht mehr
fern, wo den Kreisärzten nicht nur fliegende, sondern feststehende Kranken¬
stationen zur Verfügung gestellt werden. Es wird die Arbeitsfreudigkeit
erhöht, und die Seuchenbekämpfung kann wirksamer gestaltet werden. Die
Zeit ist reif dafür, jetzt heißt es werben. Prophylaxe und Therapie müssen
Zusammenarbeiten.
Diese Wünsche gehören zwar nicht in ein Referat, aber wenn man
sieht, wie schön und verständnisvoll das Sanitätswesen ausgebildet worden
ist, wie überall an seinem Ausbau gearbeitet wird, so ist man versucht,
auch den nötigen Schlußstein zu fordern. Es wird sicher jeder den Bericht
mit großem Genuß lesen, und vielen wird der gleiche Gedanke kommen.
E. Pfeiffer (Hamburg).
Dr. med. A. Grotjahn und Dr. phil. F. Kriegei: Jahresbericht
über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete
der sozialen Hygiene und Demographie. Zweiter Band:
Bericht über das Jahr 1902. Jena, Fischer, 1903. gr. 8. 473 S.
Sehr prompt ist der zweite Band dieses Jahresberichtes (für das Jahr
1902) erschienen, lind dies verdient besonders hervorgehoben zu werden,
weil der Wert von derartigen retrospektiven Literaturauszügen mit der
Raschheit ihres Erscheinens wächst. Die Zahl der Mitarbeiter ist auf zwölf
erhöht worden, wodurch ein reichhaltigerer Inhalt des Jahresberichtes er¬
möglicht wurde, so daß der zweite Band in sehr „erweitertem Umfange 14
erscheinen konnte.
Neu sind die Abschnitte: „Aus den Parlamenten“ und „Von den Kon-
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Kritiken und Besprechungen.
217
gressen". Wenn auch diese Abschnitte zumeist nur die Aufz&hlung der
Verhandlungsgegenstände enthalten, so wird man dennoch in dieser Quellen¬
angabe für bestimmte wissenschaftliche Arbeiten einen willkommenen Behelf
erblicken können.
Die Einteilung des Stoffes ist im übrigen dieselbe geblieben wie im
ersten Jahresberichte: Chronik der sozialen Hygiene, Gesetzestafel von
Deutschland und dem Auslande, Methode und Geschichte der sozialen
Hygiene, Bevölkerungsstatistik und Mortalität, Morbidität, Prophylaxe und
Krankenfürsorge, Soziale Hygiene der Arbeit, Soziale Hygiene der Ernährung,
Soziale Hygiene der Wohnung und Kleidung, Soziale Hygiene der Kinder
und jugendlicher Personen, öffentliche Gesundheitspflege, Entartungstheorie,
Konstitutionspathologie und sexuelle Hygiene, Vermischtes.
Sehr ausführlich (und in gleicher Weise wie die Referate eingeteilt)
ist die „Bibliographie“ gehalten.
Die Referenten: A. Gottstein, A. Grotjahn, A. Koch-Hesse,
J. Marcuse, F. Prinzing, P. Hüls, F. Kriegei, B. Spiethoff,
A. Blaschko, M. Bloch, G. Bernhard, S. Saenger, A. Südekum,
haben sich ihrer schweren Aufgabe mit vielem Geschick entledigt. Die
Referate sind kurz und präzise abgefaßt, und es erscheint auch manche
kritische Bemerkung eingefügt, die uns die Orientierung erleichtert. Manchem
Leser werden vielleicht die Referate oft zu kurz erscheinen: aber „Jahres¬
berichte“ sollen nur den wesentlichen Inhalt der angezeigten Werke an¬
geben, sie sollen und können nicht als Literaturfaulenzer dienen, die uns
der Mühe der Literaturstudien entheben, sie sollen uns nur die Auswahl
erleichtern und eine allgemeine Orientierung ermöglichen, und diesen Zweck
erfüllt der Jahresbericht von Grotjahn und Kriegei in vollständigstem
Maße. Altschul (Prag).
Prof. Dr. Max Rubner: Lehrbuch der Hygiene. Systematische
Darstellung der Hygiene und ihrer wichtigsten Untersuchungs¬
methoden. Zum Gebrauch für Studierende der Medizin, Physikats-
kandidaten, Sanitätsbeamte, Ärzte, Verwaltungsbeamte. 7. Auflage.
Leipzig und Wien, Deuticke, 1903. gr. 8. 983 S., mit 295 Abbild.
Das Rubnersche Lehrbuch erschien erstmalig im Jahre 1890. Wenn
innerhalb 13 Jahren sieben Auflagen notwendig wurden, so spricht dies
mehr für die Vortrefflichkeit und Brauchbarkeit des Buches als alle aner¬
kennenden Besprechungen. Der Zweck des Buches, nicht nur den Ärzten,
sondern auch den Verwaltungsbeamten die wichtigeren Fragen der öffent¬
lichen Gesundheitspflege auseinanderzusetzen, ist vollkommen erfüllt. Die
gewaltigen Fortschritte, die die Gesundheitslehre ständig macht, sind in
jeder weiteren Ausgabe voll verwertet worden, so auch in der jetzt erschie¬
nenen siebenten Auflage, die alle neueren wissenschaftlichen Tatsachen der
letzten Jahre, nicht minder auch die stets zunehmende praktische Verwertung
hygienischer Erkenntnis in vollem Umfang berücksichtigt. Was dem
Rubnersehen Buch von Anfang an besonderen Wert verlieh, war die große
Zahl trefflicher Abbildungen, die in der neuen Ausgabe fast die Zahl 300
erreicht. F. A.
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218
Kritiken und Besprechungen.
Prof. Dr. Ludwig Heim: Lehrbuch der Hygiene. Stuttgart,
Enke, 1903. gr. 8. 363 S., mit 43 Abbildungen im Text.
Ben Zweck des vorliegenden neuesten Lehrbuches der Hygiene charak¬
terisiert der Verfasser dahin, daß die Darstellung des Gesamtgebietes der
Hygiene kurz und bündig sein soll; daß außer den Meistern und ihren
Schülern auch andere und jüngere Autoren mit ihren Ansichten und For¬
schungsergebnissen zu Worte kommen sollen, und daß ferner die Quintessenz
der praktischen Erfahrung und wissenschaftlichen Erkenntnis, die hygie¬
nische Gesetzgebung, in großem Umfang berücksichtigt werden soll. Diesem
Plan ist das Buch treu geblieben. Da es wesentlich für Ärzte geschrieben
ist, sind selbstverständlich die ärztlichen Teile der Gesundheitspflege, der
öffentlichen wie der privaten, in erster Linie berücksichtigt, und speziell die
Infektionskrankheiten nehmen einen sehr großen Teil des Lehrbuches für
sich in Anspruch. Doch finden auch alle übrigen Kapitel der Hygiene,
Nahrung und Kleidung, Schule und Gewerbe, Wohnung mit Lüftung und
Heizung, Wasserversorgung und Badewesen, Beseitigung der Abfallstoffe,
Krankenhäuser u. a. ihre Schilderung. Besonders wertvoll sind die sehr
zahlreichen und vollständigen Hinweise auf die gesetzlichen und behörd¬
lichen Vorschriften, die sich in allen Kapiteln finden. Ein sorgfältiges
Namen- und Sachregister erleichtert die Benutzung des Lehrbuches als Nach-
schlagebuch. Der reiche Inhalt und die knappe übersichtliche Form werden
dem Buch zahlreiche Freunde und weite Verbreitung sichern. F. A.
Prof. Dr. H. Büchner: Acht Vorträge aus der Gesundheits-
lehre. Zweite durchgesehene Auflage besorgt von Prof. Dr. M.
Gr über. Leipzig, Teubner, 1903. 8. 138 S., mit zahlreichen Ab¬
bildungen im Text.
Die Vorträge sind im Winter 1896/97 im Münchener Volkshochschul¬
verein vor einem aus allen Bevölkerungsschichten zusammengesetzten Hörer¬
kreis von dem damaligen, leider so früh gestorbenen Ordinarius der Hygiene
an der Münchener Hochschule, Professor Büchner, gehalten worden und
sind erstmalig im Jahre 1898 im Druck erschienen. Schon nach wenigen
Jahren war das Büchlein vergriffen, und so hat Büchners Nachfolger auf
dem Lehrstuhl der Hygiene in München, Professor Max Gruber, es über¬
nommen, diese zweite Auflage zu besorgen, wobei er so wenig als möglich
an Text und Ton der Vorträge etwas geändert und tiefergreifende Ände¬
rungen nur da vorgenommen hat, wo durch den Fortschritt der Wissenschaft
dies geboten schien.
So hat das Schriftchen den frischen, fesselnden Ton beibehalten, den
ihm Büchner zu geben wußte, der, wie er die strengsten wissenschaftlichen
Probleme zu erforschen und zu lösen verstand, auch ausgezeichnet war als
populärer Darsteller der feststehenden Wahrheiten und Lehren der Gesund¬
heitspflege. Die Vorträge, kurz, präzis und für jedermann verständlich ab¬
gefaßt, begreifen alle die wichtigsten Gebiete der Hygiene: Luft, Licht,
Wärme, Wohnung, Ventilation, Wasserversorgung und Boden Verunreinigung,
denen sich dann in den beiden letzten Vorträgen die Lehre von den Infek¬
tionserregern, den Spaltpilzen, und von der Desinfektion an9chließen.
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Kritiken und Besprechungen.
Das Büchlein, das sich leicht und angenehm liest, überragt weit die
meisten der zahlreichen sog. populären Schriften über Gesundheitspflege,
nnd ist ihm weiteste Verbreitung zu wünschen. A. S.
Hafenarzt Dr. Nocht: Der Dienst des Hafenarztes in Hamburg.
Zweiter Bericht. Hamburg, Voß, 1903. gr. 4. 62 S., mit 6 Ab¬
bildungen und 1 Karte im Text.
Nachdem die Gesetzgebung und Organisation des seit 10 Jahren ein¬
gerichteten hafenärztlichen Dienstes für die gesundheitspolizeiliche Über¬
wachung des gesamten Schiffsverkehres im Hamburger Hafen jetzt zu einem
gewissen Abschluß gelangt zu sein scheint, ist die in diesem die Jahre 1885
bis 1902 umfassenden zweiten Bericht des Hafenarztes Dr. Nocht gegebene
eingehende Darstellung des Dienstes und seiner Ergebnisse von besonderem
Wert.
Eine Reihe von Anlagen bringt die gesetzlichen Bestimmungen.
Wichtig ist die in der Hafenordnung von 1897 getroffene Anweisung
der Schiffsführer betr. die gesundheitspolizeiliche Beaufsichtigung des Schiffs¬
verkehrs durch den Hafenarzt, sowie die in § 22 dieser Verfügung gegebene
Festlegung der Befugnisse desselben: „Der Hafenarzt ist befugt, alle Iso¬
lierungen, Ausschiffungen, Desinfektionen, Impfungen und sonstigen Ma߬
nahmen, welche ihm im Interesse der öffentlichen Gesundheitspflege erfor¬
derlich erscheinen, an Bord anzuordnen und erforderlichenfalls mit Hilfe
der Hafenpolizei ausführen zu lassen. Dasselbe gilt von Anordnungen in
bezug auf die Instandhaltung und Sauberkeit, Ventilation, Heizung und
Einrichtung der Mannschaftsräume und auf die Güte des Proviants und des
Trinkwassers.“ — Für die aus verseuchten Häfen kommenden Schiffe gelten
noch die durch eine Desinfektionsanweisung für Seeschiffe ergänzten Verord¬
nungen gemäß den internationalen Sanitätskonventionen von Dresden und
Venedig und den daraufhin von den deutschen Seeuferstaaten getroffenen
Vereinbarungen, von denen die zu erwartenden Bundesratsvorschriften im
Gefolge des Reichsgesetzes betr. die Bekämpfung gemeingefährlicher Krank¬
heiten grundsätzliche Abweichungen kaum bringen werden.
Die sanitätspolizeiliche Untersuchung und Überwachung der Seeschiffe
wird im einzelnen dargelegt; die getroffene Verwendung von unter den
Ärzten stehenden Gesundheitsaufsehern für viele der Besichtigungen erwies
sich als zweckdienlich. Interessant sind die Ausführungen über die ver¬
schiedenen gegen die Schiffsratten eingeleiteten Vernichtungsmaßregeln; die
Tötung durch ein aus CO und CO 2 bestehendes, nicht explosibles und nicht
entzündliches Gasgemisch, das, durch geeignete Verbrennung von Koks in
einem Generatorofen erzeugt und durch die Ventilatoren in die Laderäume
geleitet, überallhin, auch zwischen dichtgestautes Ladegut dringt, bewährte
sich gut.
Zu den Dienstobliegenheiten des Hafenarztes gehört durch die neue
Medizinalordnung nunmehr auch die Leitung der gesundheitspolizeilichen
Kontrolle der Seeschiffe in Cuxhaven, des ärztlichen Dienstes beim Aus¬
wandererwesen, sowie des Seemannskrankenhauses und des damit verbun¬
denen Institutes für Schiffs- und Tropenkrankheiten, schließlich durch
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220
Kritiken und Besprechungen.
besondere Verfügung des Senats die medizinalbehördliche Prüfung der Aus¬
rüstung der Kauffarteischiffe mit Hilfsmitteln zur Krankenpflege und der
Mitnahme von Schiffsärzten. F. Reiche (Hamburg).
Sanitätsrat Dr. G. Herzfeld, Bahnarzt: Handbuch der bahnärzt-
lichen Praxis.
Wie Verfasser in dem Vorwort zu seinem Handbuch sagt, stellt das¬
selbe einen ersten Verbuch dar, alles zusammenzufassen, was dem Bahnarzt
in seinem Beruf als solchem nötig zu wissen und zu kennen ist.
Referent bemerkt hier voraus, daß der Versuch im ganzen recht wohl
gelungen ist, und daß die Lücken des Werkes in einer zweiten Auflage
leicht beseitigt werden können; allzu große und allzu viele sind es ja nicht.
Ebenso können, ohne daß der Wert des Buches darunter leiden wird, manche
Abschnitte wesentlich gekürzt werden, während andere, wie die Statistik
und die Hygiene der Eisenbahnen, dringend nach einer Erweiterung ver¬
langen.
In der Einleitung bespricht Verfasser die Aufgaben und Obliegenheiten
des Bahnarztes und macht die Forderungen des um die Eisenbahnhygiene
hochverdienten Otto Braehmer zu seinen eigenen. — Der Abriß der Ge¬
schichte der deutschen Eisenbahnen ist kurz ausgefallen; ohne vermittelnden
Übergang kommt Verfasser dann auf die Verwaltung der Eisenbahn zu
sprechen, um dann ebenso unvermittelt auf das Reichseisenbahnamt über¬
zugehen. Vortrefflich gelungen ist die Bearbeitung der Betriebsordnung
für die Haupteisenbahnen Deutschlands, ebenso die Signalordnung; nur ist
zu furchten, daß dieselben eine Abänderung erfahren haben werden, bis sie
die Bahnärzte nach dem Buch studiert haben werden.
Den Hauptabschnitt des Werkes bildet die Besprechung der bahnärzt¬
lichen Tätigkeit, wobei Verfasser die der Beamten selbst einer eingehenden
Beschreibung würdigt, den Einfluß des Dienstes bespricht, die Schwere des
Dienstes ins Auge faßt und dann die Erkrankungen des Dienstpersonals
erläutert. An dieser Stelle mußte unbedingt die Besprechung der Nachtruhe
der Beamten, sowie die Übernachtungslokale, die Vorrichtungen für die Ver¬
pflegung der Beamten (Kocheinrichtungen , Bäder usw.) gebracht werden;
dieselben werden allerdings später erwähnt, aber unter dem Kapitel der
Beamtenfürsorge, als ob mit der Errichtung von Übernachtungslokalen z. B.
den Beamten zunächst eine Wohltat erwiesen werden sollte. Nein! Tadel¬
lose Übernachtungslokale sind in erster Linie eine absolute Forderung für
die Sicherheit des Betriebes.
Ausführlich bespricht Verfasser die Erkrankungen des Dienstpersonals
und die Unfallserkrankungen desselben.
In dem Kapitel der Beamtenfürsorge finden sich leider wesentliche
Mängel; zumeist ist nur auf die kgl. preußisch - hessische Eisenbahngemein¬
schaft Rücksicht genommen, während die übrigen Eisenbahnverwaltungen
kaum berührt werden. Dem hier untergebrachten Kapitel der Kleidung der
Eisenbahnbeamten werden ganze zwölf Zeilen gewidmet, den Badeeinrich¬
tungen für die Eisenbahnbeamten einige Zeilen mehr. Gut bearbeitet ist
das Rettungswesen und die Tätigkeit des Bahnarztes als Sachverständiger.
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Kritiken und Besprechungen.
221
Zu umfangreich scheint dem Referenten das Kapitel Aber die Mit¬
wirkung bei Ausführung des sozialen Gesetzes zu sein; es umfaßt weit über
100 Seiten, während die Statistik auf einer Seite abgetan wird. Auch die
Eisenbahnhygiene ist knapp und einseitig besprochen und bedarf bei der
nächsten Auflage einer gründlichen Umarbeitung.
Die letzten Kapitel betreffen die sanitätspolizeiliche Tätigkeit, die Orga¬
nisation der Bahnärzte, Verträge und Vertragsbestimmungen. — Das Literatur¬
verzeichnis ist nicht erschöpfend.
Jedem Bahnarzte müssen wir die Anschaffung des Werkes dringend
ans Herz legen; dasselbe wird ihm als Nachschlagebuch in vielen Fragen
rasch und sicher Aufschluß bieten. Stich (Nürnberg).
Dr. R. Wehmer, Regierungs- und Medizinalrat: Enzyklopädisches
Handbuch der Schulhygiene. Erste Abteilung. Leipzig und
Wien, Pichler, 1903. gr. 8. mit 134 Abbildungen.
Die Schulhygiene hat in dem vorliegenden Werke wieder eine aus¬
gezeichnete Bearbeitung gefunden, was darauf zurückzuführen ist, daß der
Herausgeber, der selbst durch die Herausgabe eines „Grundrisses der Schul¬
gesundheitspflege“ sich mit der Materie als besonders vertraut erwiesen hat,
verschiedene Mitarbeiter gefunden hat, welche durch ihre spezielle Sach¬
kenntnis für die Bearbeitung der einzelnen Abschnitte besonders geeignet
erschienen.
Die Abschnitte über Baumaterialien und Baustoffe und über den Bau¬
grund von Büsing, über Ausflüge, Wanderungen, Bergsteigen, Schüler-
(und Turn-)fahrten, über Erwerbstätigkeit oder -arbeit der Kinder, über
Ferien, über häusliche Aufgaben von Krollik enthalten, um einzelne Bei¬
spiele anzuführen, alles Wissenswerte in Kürze und dem neuesten Stand der
Anschauungen und Erfahrungen entsprechend, ebenso die medizinischen
Abschnitte von Nawratzki (Psychiatrie), Silen (Augenheilkunde) und dem
Herausgeber (allgemeine Erkrankungen und Infektionskrankheiten). Vielen
der Leser werden die Berichte über das Schulwesen und die schulhygie¬
nischen Einrichtungen in verschiedenen Ländern in der vorliegenden Abtei¬
lung: Baden, Bayern, Belgien, China, Dänemark, Elsaß - Lothringen, Frank¬
reich, Freie und Hansastädte, Griechenland, Großbritannien, Hessen, Japan
sehr willkommen sein. Einzelne derselben hätten vielleicht etwas kürzer
ausfallen können; so haben z. B. in Belgien die Gehaltsverhältnisse der Schul¬
lehrer, wie die Anstellung derselben stattfindet, welche Beiträge der Staat,
die Gemeinden und die Provinzen für die Schule leisten, für die Schulhygiene
nur eine recht fern liegende Bedeutung.
Die Ausstattung des Buches ist bezüglich der Abbildungen eine recht
gute, der Druck ist für ein Buch über Hygiene unzulässig, so daß er für
den Gebrauch beim Unterricht verboten werden müßte. Während nach den
von verschiedenen Schulverwaltungen angenommenen Vorschriften Cohns
durch eine 1 qcm große Öffnung nicht mehr als zwei Zeilen sichtbar sein
dürfen, sind in der Enzyklopädie reichlich drei Zeilen zu lesen, es entspricht
demnach keineswegs den Forderungen der Augenhygiene und damit auch
bezüglich der Ausstattung nicht denen der Schulhygiene und der Hygiene
überhaupt. Arthur IIartmann (Berlin).
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222
Kritiken und Besprechungen.
Paul Johannes Müller: Das Schulzimmer. Vierteljahrsschau
über die Fortschritte auf dem Gebiete der Ausstattung
und Einrichtung der Schulräume, sowie des Lehrmittel¬
wesens mit besonderer Berücksichtigung der Forderungen
der Schulhygiene. Verlag von P. Johs. Müller & Co., Berlin SW*
Bei der kritischen Beurteilung der neuen Zeitschrift, deren erstes Heft
vorliegt, muß man für einen Augenblick vergessen, daß der Herausgeber
der neuen Zeitschrift selbst Fabrikant von Schulmöbeln ist, was immerhin
eine objektive Wertbemessung anderer, von der „Konkurrenz“ gelieferter
Einrichtungen der „Schulzimmer“ mindestens erschwert. Wenn man aber
von dieser Tatsache absiebt, so muß man sagen, daß der Inhalt des vorliegen¬
den Heftes ein recht wertvoller und interessanter ist.
Paul Johannes Müller hat eine sehr beachtenswerte Abhandlung
geliefert „Über den Wert der Begriffe: Plusdistanz, Nulldistanz und Minus¬
distanz. Ein Beitrag zur Klärung der Schulbankfrage“. Sehr instruktive,
vortrefflich ausgeführte Photogramme machen es in der Tat äußerst fraglich»
ob die Festhaltung der bisher immer geforderten Minusdistanz für die rich¬
tige Sitz- bzw. Schreibhaltung der Schüler jene Bedeutung und jenen Wert
haben, den man ihnen bislang beigemessen hat, und man muß Müller bei¬
pflichten, wenn er verlangt, daß man der „Distanz“ keine Bedeutung bei¬
messe und seine Aufmerksamkeit dem horizontalen Abstande zwischen der
Lehne und der Pultkantenprojektion zuwende. Natürlich wird man noch
weitere praktische Versuche und Nachprüfungen der Müll er sehen Vor¬
schläge von anderer Seite abwarten müssen, ehe man die ganze Streitfrage
als erledigt betrachten kann. Immerhin sind aber Müllers Einwände gegen
die „Distanz“ so gewichtige, daß man dieselben nicht ignorieren kann.
Hans Suck bespricht die Versuche Wernickes mit staubbindenden
Ölen und kommt auf Grund eigener Versuche zu dem gleichen Resultate wie
W'ernicke, daß diese Öle ein vortreffliches Mittel sind, den Staub in den
Schulen zu vermindern, wenn auch der Anwendung dieser Öle noch kleine
Fehler anhaften. Suck empfiehlt unter anderem, zum Auskehren nicht
weiche Haarbesen, sondern Piassavabesen zu verwenden.
„Amtliche Verfügungen“, „Kurze Mitteilungen“ und eine „Patentschau*
(technische Neuheiten), sowie „Besprechungen“ bilden den weiteren Inhalt
des vorliegenden Heftes. Altschul (Prag).
Dr. Paul Ritter: Zahn- und Mundhygiene im Dienste der
öffentlichen Gesundheitspflege. Supplement II, Liefg. 4 des
Handbuchs der Hygiene, herausgegeben von Weyl. Jena, Fischer,
1903. gr. 8. 220 S., mit 5 Abbildungen und 2 Kurven.
Der Verfasser hat in der vorliegenden Arbeit den Versuch gemacht,
die Mund- und Zahnhygiene im Dienste der öffentlichen Gesundheitspflege
in zusammenfassender Darstellung zu behandeln, ein Gebiet, das noch ver¬
hältnismäßig neueren Datums ist, und für das, wie die neuerlichen Be¬
wegungen namentlich auf dem Gebiete der Schulgesundheitspflege wie in
der Militärhygiene dartun, das Interesse in steigendem Maße zunimmt.
Dementsprechend hat die Literatur über diesen Gegenstand in den letzten
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Kritiken und Besprechungen.
223
Jahren einen außerordentlichen Umfang angenommen. Die hier gefundenen
Ergebnisse zu ordnen, den Weg der Forschung anzugeben und endlich die
aufzustellenden Forderungen zu pr&zisieren, war der Zweck der Ausführungen
des Verfassers.
Eline Durchsicht des Gebotenen lehrt, daß es dem Verfasser in vollem
Umfange gelungen ist, dieses Ziel zu erreichen.
Im ersten, allgemeinen Teil behandelt Verfasser die Pflege der Zähne
und des Mundes und ihre Beziehung zum Gesamtorganismus des Kindes
und des Erwachsenen, sowohl bei vorhandener allgemeiner Gesundheit wie
bei Störungen derselben und Erkrankungen anderer Organe. In pro¬
phylaktischer Beziehung haben hierbei diejenigen Punkte Berücksichtigung
gefunden, welche nach dem heutigen Stande der Hygiene geeignet erscheinen,
dem in der Entwickelung begriffenen Individuum gesunde Zähne zu schaffen
und zu erhalten.
Im zweiten, speziellen Teil erörtert der Verfasser die Mittel und Wege,
die in Anwendung zu kommen haben, um die notwendigen prophylaktischen
Maßnahmen im Interesse des Volkswohls durchzusetzen. Ihrer Bedeutung
entsprechend nehmen hierbei die Zahn- und Mundpflege in der Schule und
das bisher auf diesem Gebiete Geleistete, die Zahn- und Mundpflege in
Gewerbebetrieben, unterschieden nach den einzelnen in Frage kommenden
gewerblichen Schädlichkeiten, und die Zahn- und Mundpflege im Heere einen
verhältnismäßig großen Raum ein. Außer statistischen Unterlagen gibt der
Verfasser ein übersichtliches Bild der hier bestehenden Einrichtungen unter
Berücksichtigung auch des Auslandes, um im Anschluß daran die zu er¬
hebenden besonderen Forderungen zu erörtern.
Die vorliegende Arbeit stellt einen wertvollen Beitrag auf dem großen
Gebiet der Hygiene dar, der sich auf dem speziellen Gebiet der Zahn- und
Mundpflege als ein ebenso willkommener wie brauchbarer und zuverlässiger
Führer erweisen wird. Roth (Potsdam).
Dr. med. Schwarz, Direktor des städtischen Schlacht- und Viehhofes zu
Stolp i. P.: Bau, Einrichtung und Betrieb öffentlicher
Schlacht- und Viehhöfe. Dritte, neu bearbeitete und stark
vermehrte Auflage. Berlin, Springer, 1903. gr. 8. 948 S., mit
400 Abbildungen und 6 Tafeln.
Wenn ein umfangreiches Werk wie das vorliegende nach je vier Jahren
zuin dritten Male eine neue Auflage erfordert, so ist damit seine Bedeutung
erwiesen. In der Tat ist das Buch seit Jahren der Ratgeber aller Sanitäts¬
und Verwaltungsbeamten und erfreut sich einer großen Wertschätzung, die
ihm in der neuesten Bearbeitung erst recht entgegengebracht werden wird,
da namentlich die bildnerischen Beigaben sehr beträchtlich vermehrt er¬
scheinen. Einem „Wunsche der Kritik“ entsprechend wurde insbesondere
auch der historische Teil erweitert: das 1. Kapitel des Buches ist ein höchst
interessantes Stück wichtiger Kulturgeschichte geworden. Dank dem Eifer,
mit welchem sich jetzt alle Gemeinden ihrer Pflichten auf diesem Gebiete
bewußt werden, ist die Zahl der neu errichteten Anlagen in stetem Wachsen,
und wie das Buch eine Anzahl neuer Anstalten als „Musterbeispiele“ aus-
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224
Kritiken und Besprechungen.
führlich beschrieb, hat es dem baulichen Teile überhaupt mit Recht einen
sehr großen Umfang gewidmet, so daß dieser Teil allein so groß geworden ist
wie in seiner ersten Auflage das ganze Buch. Aber aus demselben Grunde
ist es bedauerlich, daß man mit Rücksicht auf die Stärke des Buches davon
Abstand nahm, auch ein Literaturverzeichnis beizufügen, denn die Gemeinden,
welche an die Neuordnung ihrer Schlachthausaufgaben herantreten, müssen
sich mit Rücksicht auf die bedeutenden dabei in Betracht kommenden
Finanzfragen in umfassender und vielseitigster Weise informieren können.
Außer allen technischen Seiten der Angelegenheit (einschließlich der Beamten-
und Versicherungsfragen) sind auch die neuen zahlreichen einschlägigen
Gesetze, Regulative usw. in dem Buche behandelt und mit reichlichen An¬
merkungen und Erläuterungen versehen.
Landsberger (Charlottenburg).
Professor Dr. Otto Busse, Greifswald: Das Obduktionsprotokoll.
Zweite Auflage. Berlin, R. Schütz, 1903.
Der von Grawitz’ langjährigem Assistenten bearbeitete Leitfaden der
Protokollartechnik hat in verhältnismäßig kurzer Zeit seine zweite Auflage
erlebt und damit schon seine praktische Brauchbarkeit erwiesen. Wer das
Buch kennt, wird diesen Erfolg als verdient bezeichnen, da es seinen Gegen¬
stand in sachgemäßer und erschöpfender Weise behandelt, und wird seine
Verbreitung begrüßen, da von ihr eine Minderung der den Obduktions¬
protokollen noch vielfach anhaftenden Mängel zu erhoflen steht.
Die neue Auflage hat gemäß den entsprechenden Bestimmungen die
technischen Fremdworte durch deutsche Ausdrücke ersetzt, soweit jene nicht
ganz in unsere Sprache übergegangen sind — eine gewiß zu billigende
Einschränkung. Es sind ferner einzelne Ergänzungen besonders in betreff
der alsbald bei der Obduktion auszuführenden mikroskopischen Unter¬
suchungen angefügt worden. Die Zeichnungen, welche die Herz- und Ge¬
hirnschnitte veranschaulichen sollen, sind klar und übersichtlich. Ein An¬
hang bringt ein Musterprotokoll und den Wortlaut des preußischen Regulativs
von 1875. Beigegeben ist dem Buche ein 20 Seiten starkes Oktavheft
„Schemata für Obduktionsprotokolle“. Diese Schemata führen in der vor¬
geschriebenen Buchstaben- und Nummerneinteilung sämtliche Punkte auf,
die im Protokoll zu berücksichtigen sind. Referent hat sich besonders dar¬
über gefreut, daß der Verfasser sich darauf beschränkt hat, diese Punkte
als Stichworte anzuführen, und der Versuchung widerstanden hat, ein voll¬
kommenes, in Sätze gefaßtes Protokollschema auszuarbeiten, das der Obdu¬
zent mit möglichster Schonung jeder Denktätigkeit dann nur noch durch
Auswahl einzelner Worte zu vervollständigen hat.
F. Straßmann (Berlin).
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Ken erschienene Schriften.
225
Neu erschienene Schriften über öffentliche
Gesundheitspflege.
(100. Verzeichnis.)
1. Allgemeines.
Arbeiten ans dem kaiserlichen Gesundheitsamte. Bd. XX, Heft 2. Berlin,
Springer, 1903. Lex.-8. S. 155 — 386 mit 4 Tafeln. 10 M.
B&loh, Lewis: Amannal for boards of healtb and health offioers. Albany, Banks,
1903. 12. 204 p.
Baumgarten, A., Dr.: Katechismus der Gesundheitslehre für die Schuljugend.
Unter Mitwirkung eines Lehrers zusammengestellt. Wörishofen 1908. gr. 8.
V — 79 S. 0*50 M.
Baur, Alfred, Dr. med.: Hygienischer Taschenatlas für Haus und Schule. Wies¬
baden, Nemnich, 1903. 12. 26 Tafeln mit erläuterndem Text. 1*50 M.
Berninger, Johannes: Ziele und Aufgaben der modernen Schul- und Volks¬
hygiene. Winke und Ratschläge für Lehrer, Schulärzte und Eltern. Wies¬
baden, Nemnich, 1903. gr. 8. 90 S. 2 M.
Gruber, Max, Dr., Prof.: Führt die Hygiene zur Entartung der Rasse? Vortrag.
Stuttgart, Moritz, 1903. gr. 8. 36 S. 0*75 M.
Heim, Ludwig, Dr., Prof.: Lehrbuch der Hygiene. Stuttgart, Enke, 1903. gr. 8.
VIII — 863 S. mit 43 Abbildungen im Text. 8 M.
Langlois, J. P.: Precis d’hygiene. Paris, Doin, 1903. 18. 8 Frcs.
Laurent, H. Dr.: Manuel d’hygiöne populaire. Paris, impr. David, 1903. 8.
T50 Frcs.
Le Noir de Tourteauville: De la protection de la saute publique. Commen-
taire et guide pratique de la loi du 15 fevrier 1902. Reims, Michaut, 1903.
8 . 20 Frcs.
Momy, Dr.: La Protection de la sante publique. Loi — commentaires de la
hoi — räglements d’administration. Paris, Bailliöre, 1903. 16. 96 p.
1*50 Frc.
Offizieller Bericht über die zweite Hauptversammlung des Deutschen Medizinal¬
beamten-Vereins zu Leipzig am 14. und 15. September 1903. Berlin, Fischers
med. Buchhandlung, 1903. 8. 193 S.
Pavette, 0.: Notions pratiques de Sciences et d’hygiene ä Pusage des öcoles
primaires et des classes elemeutaires des lycees et Colleges. Avec collabo-
ration pour les notions d’hygiöne de M. Guillou. Paris, Belin, 1903. 12.
Avec 74 figures. 1*50 Frc.
Pfeiffer, A., Dr., Reg.- und Geh. Medizinalrat: Neunzehnter Jahresbericht über
die Fortschritte u. Leistungen auf dem Gebiete der Hygiene. Jahrgang 1901.
Supplement zur „Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheits¬
pflege*, Band XXXIV. Braunschweig, Vieweg & Sohn, 1903. gr. 8. X—660 S.
Poore, G. Vivian, Dr.: Essays on rural hygiene. Third edition. London, Long-
mans, Green & Co., 1903.
BeyUaud, Gustave: Note sommaire sur Phygiöne des oolons dans lespays chauds.
Paris, Gainche, 1903. 8. 26 p.
Wakefield, H. Rowland: Experimental hygiene. London, Blackie, 1903. 8. 228 p.
illustr. 2 sh. 6 d.
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1904. 15
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226
Neu erschienene Schriften.
Weyl, Th., Dr.: Handbuch der Hygiene. Dritter Supplementband, 1. bis 3.
Lieferung. Inhalt: G. Pinkenburg: Der Lärm in den Städten und seine
Verhinderung. — Dr. H. Leymann: Die Verunreinigung der Luft durch
gewerbliche Betriebe. — B. Tschorn: Die Rauchplage. Jena, Fischer,
1903. gr. 8. 200 S. mit 78 Abbildungen. 4*80 M.
2 . Statistik und Jahresberichte.
Bericht über die Gesundheitsverhältnisse und Gesundheitsanstalten in Nürnberg.
Herausgegeben vom Verein für öffentliche Gesundheitspflege zu Nürnberg
unter Mitwirkung des Stadtmagistrats. Jahrgang 1902. Nürnberg 1903. 8.
365 S.
Clöment, Henry: La depopulation en France; ses causes et ses remedes, d’apres
los travaux les plus recents. Paris, Bloud, 1903. 8. 64 p.
Coghlan, T. A.: The delcine in the birth rate of New South Wales. An essay
in statistics. Sydney, Gullick, 1903. gr. 8. 69 p.
Hirschberg, E., Dr., Prof., Dir.: Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin.
XXVII. Jahrgang, enthaltend die Statistik der Jahre 1900 bis 1902. Im Auf¬
träge des Magistrats herausgegeben. Berlin, Stankiewicz, 1903. 8. XVII—
702 S. mit 3 Tafeln. 14 M.
Jung, Jules: Familie, population. Etüde critique des moyens actuellement pro-
poses pour favoriser Paccroissement de la natalite en France. Paris, Pedone,
1903. 8. 5 Frcs.
Medizinalbericht von Württemberg für das Jahr 1901. Im Auftrag des königl.
Ministeriums des Innern herausgegeben von dem königl. Medizinalkollegium.
Stuttgart, Kohlhammer, 1903. Lex.-8. 172 S. mit 6 Plänen und 2 Über¬
sichtskärtchen im Text. 2*50 M.
Salvat, Pax: La depopulation de la France. These. Lyon, Storck, 1903. 8.
2 50 Frcs.
Statistik, Schweizerische —, 137. Lieferung: Ehe, Geburt und Tod in der
schweizerischen Bevölkerung während der 20 Jahre 1871 bis 1890. III. Teil,
2. Hälfte: Die Todesursachen. Zürich, Orell Füßli, 1893. gr. 4. 75 und
163 S. mit 5 farbigen Tafeln. 8 M.
3. Wasserversorgung, Entwässerung und Abfuhr.
Baucher, T.: Analyse chimique et bacteriologique des eaux potables et mine¬
rales. Epuration des eaux. Lögislation. Paris, Vigot, 1903. 12. avec 16 figures.
7 Frcs.
Bloch, Heinrich: Beitrag zur Bakterienflora der Straßburger Wasserleitung.
Inaugural-Dissertation. Straßburg 1903.
Dibdin, W. S.: Purification of sewage and water. Tird edition. London, Sani-
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15*
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Keuten, J., Dr., Kreistierarzt: Gesetzliche Bestimmungen für den Trichinen-
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Kratschmer, Florian: Taschenbuch für praktische Untersuchungen der wichtig¬
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Liohtenfelt, H., Dr.: Anleitung zur Begutachtung de9 Nährwertes der Kost
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Ostertag, Dr., Prof.: Die sanitätspolizeiliche Regelung des Milchverkehrs.
Berlin, Schoetz, 1903. 4. 8 S. 0 20 M.
Ostertag, Edelmann und Glage: Deutsche Fleischbeschauerzeitung. Erster
Jahrgang: Oktober 1903 bis September 1904. 12 Hefte. Berlin, Schoetz,
1903. gr. 8. 6 M.
Postolka, August, Amtstierarzt: Lehrbuch der allgemeinen Fleischhygiene,
nebst einer Sammlung einschlägiger Normalien, für Beamte der politischen
Behörden, der Gemeinden und für Richter. Wien, Braumüller, 1903. gr. 8.
XII—544 S. mit 42 Abbildungen. 12 M
Röttger, H., Dr., Oberinspektor: Kurzes Lehrbuch der Nahrungsmittelchemie.
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Leipzig, Barth, 1903. gr. 8.
XIV — 698 S. mit 21 Abbildungen. 11 M.
Schmutterer, W.: Taschenbuch für Fleischbeschauer. München, Gerber, 1903.
12 . 29 S.
8 molensky, P., Dr.: Traite d’hygiene, procedes rapides de recherche des falsi-
fications et alterations. Traduction du russe par S. Broido et Zaguelman.
Paris, Steinbeil, 1903. 8. 784 p. avec 119 figures. 20 Frcs.
TJngewitter, R.: Die Nährwerte der Nahrungsmittel und ihre Verwendung
zur rationellen Ernährung nach Dr. Lahmann nebst Obersichtstabelle.
Zum Gebrauch für die praktische Küche zusammengestellt. Zweite ver¬
besserte und vermehrte Auflage. Stuttgart, Koch, 1903. gr. 8. 12 S. und
Tabelle 61 X 47*5 cm. 0*50 M.
Weiß, Albert, Dr., Geh. Medizinalrat: Lehrkursus der praktischen Trichinen-
und Finnenschau für angehende und angestellte Trichinenschauer im Deutschen
Reich und in Preußen. Sechste vermehrte Auflage. Düsseldorf, Schwann,
1903. 12. 127 S. 1*50 M.
Windisch, W., Dr., Prof.: Das Bier auf seinem Wege vom Faß ins Glas. Volks¬
tümlicher Vortrag. Berlin, Parey, 1903. gr. 8. 64 S. 0 50 M.
Anhang: Alkoholismus.
Ackermann, Oswald, Dr.: Alkoholgenuß als Krankheitsursache. Gemeinver¬
ständlich bearbeitet. Leipzig, Barth, 1904. 8. 64 S. 1 M.
Alkohol-Merkblatt: Gegen den Mißbrauch geistiger Getränke! Bearbeitet im
kaiserl. Gesundheitsamte. Berlin, Springer, 1903. schmal Fel. 4 S. mit
Abbildungen. 0*05 M., 10 Stück 0*50 M.
Auf zum Kampfe gegen den Alkohol! Ein offenes und herzliches Wort an
alle, die es lesen wollen. Braunschweig, Wollermann, 1904. gr. 8. 14 S.
0*10 M.
v. Bunge, G., Dr., Prof.: Wider den Alkohol. Gesammelte Reden und Abhand¬
lungen. Basel, Alkoholgegnerbund, 1903. 8. 71 S. 0*20 M.
Dannmeier, H., Rektor: Die Aufgaben der Schule im Kampf gegen Alkoholis¬
mus. Vortrag. Langensalza, Beyer, 1903. gr. 8. 26 S. 0 35 M.
Frey, Hermann, Dr.: Alkohol und Muskelernährung. Eine kritische Studie
über die diesbezüglichen Arbeiten von Prof. Destree, Prof. Kraepelin,
Dr. Scheffer und Dr. Schnyder, nebst neueren eigenen Beiträgen. Wien,
Deuticke, 1903. gr. 8. 62 S. mit 7 lith. Tafeln. 4 M.
Martius, Wilhelm, Dr.: Die schulentlassene erwerbsarbeitende Jugend und der
Alkohol. Zweite vermehrte Auflage. Berlin, Mäßigkeitsverlag, 1903. gr. 8.
76 S. 0*75 M.
Naef, Eduard, Dr.: Zur Revision der Gesetzgebung über das Alkoholmonopol.
Zürich 1903. 16. 26 S.
Popert, Hermann M., Dr., Landrichter: Hamburg und der Alkohol. Zweite
Auflage. Volksausgabe. Hamburg, Gräfe, 1903. 89 S. 0*50 M.
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Basel, Helbing & Liehtenhahn, 1903. gr. 8. 28 S.
Talion, P., Cpt.: La Campagne antialcoolique dans l’armee. Rule de l’officier.
Paris, Berger-Le vrault, 1903. 12. 76 p. 0*75 Frc.
14. Verschiedenes.
Beerwald, R., Dr.: Die Ursachen u. die Beseitigung der Kurpfuscherei. Vortrag.
Berlin, Coblentz, 1903. gr. 8. 20 S. 0*50 M.
Huber, Walter: Die Feuerbestattung, ein Postulat kultureller Entwickelung,
und das St. Galler Krematorium. St. Gallen, Scheitlin, 1903. gr. 8. 72 S.
mit Abbildungen. 1*50 M.
Pinkenburg, G., Stadtbauinspektor: Der Lärm in den Städten und seine Ver¬
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Sepp, P. B., Gymnasialprofessor: Wichtige Gesundheitsregeln. Achte Auflage.
Augsburg, Kranzfelder, 1903. 8. 16 S. 0*10 M.
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Digitized by
Alexander Spiess f
Einen sehr schweren und schmerzlichen Verlust haben
die Herausgeber und der Verleger dieser Zeitschrift, hat
der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege er¬
litten. Der langjährige Mitredakteur der Vierteljahrsschrift,
der ständige Sekretär des Deutschen Vereins für öffentliche
Gesundheitspflege seit seiner Gründung im Jahre 1873,
Geheimer Sanitätsrat Dr. Alexander Spiess, hat in den
Morgenstunden des 31. Januar seine Augen für immer ge¬
schlossen. Ein Fehltritt von einer Treppenstufe führte zu
einer Zerreissung der* Kniescheibensehne und nach drei¬
wöchigem Krankenlager zum Tode.
Alexander Spiess, der Sohn des in seiner Vater¬
stadt Frankfurt a. Main hochgeachteten Arztes Dr. Gustav
Spiess, welcher durch seine Mitarbeit an Virchows Patho¬
logie und Therapie auch weiteren ärztlichen Kreisen bekannt
geworden ist, wurde am 6. April 1833 geboren, studierte
in Göttingen, promovierte daselbst 18B6 und begab sich
dann bis zu seiner Niederlassung in Frankfurt im Jahre
1859 auf Studienreisen, erweiterte sein medizinisches Wissen
und erwarb Welt- und Menschenkenntnis.
Angeregt durch seinen Vater und Georg Varren-
trapp beschäftigte er sich schon in den ersten Jahren
nach der Niederlassung mit Fragen der öffentlichen Ge¬
sundheitspflege, redigierte von 1866 ab die vom Ärztlichen
Verein herausgegebenen Jahresberichte über die Verwaltung
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Google
II
des Medizinalwesens, der Krankenanstalten und der öffent¬
lichen Gesundheitspflege der Stadt Frankfurt a. Main und
beteiligte sich an diesen Berichten mit einer nicht geringen
Zahl von Aufsätzen.
Am 15. September 1873 wurde der Deutsche Verein
für öffentliche Gesundheitspflege in Frankfurt a. Main ge¬
gründet. Der Ausschuss wählte den Verstorbenen am
folgenden Tage zum ständigen Sekretär des Vereins; in
dieser Stellung blieb er zur Freude aller Mitglieder bis
zu seinem Tode. Mit bewundernswerter Umsicht hat er
stets seines wahrlich nicht leichten Amtes in aller Be¬
scheidenheit gewaltet, alle Vorbereitungen zu den Ver¬
sammlungen so sachkundig getroffen, dass der Verlauf
derselben von Anfang bis zu Ende gesichert war. Seine
persönlichen Beziehungen zu den Leitern der städtischen
Behörden, zu allen massgebenden Persönlichkeiten, nicht
zum mindesten seine Liebenswürdigkeit im Umgänge, sein
feiner Takt, seine umfassenden Kenntnisse überwanden die
oft nicht geringen Schwierigkeiten, welche die örtlichen
Verhältnisse der Versammlungsorte, mehr noch aber die
Zusammensetzung des Vereins mit sich brachten; allen
Teilnehmern an den Versammlungen wird der mit Buhe
und klarem Blick unermüdlich tätige, Jedermann zur Ver¬
fügung stehende ständige Sekretär unvergesslich bleiben.
Vom Jahre 1875 ab leitete Spiess mit Varrentrapp
diese Zeitschrift, welche er seit Varrentrapps Rücktritt
am 1. Januar 1886 mit dem Unterzeichneten weitergeführt
hat; zahlreiche Besprechungen hygienischer Schriften und
eigene Arbeiten, namentlich aus dem Gebiete der Schul¬
hygiene, hat er in der Vierteljahrsschrift veröffentlicht.
Von allen Fachmännern als besonders wertvoll anerkannt
sind die von Spiess für die Vierteljahrsschrift jährlich
gelieferten Repertorien der in deutschen und ausländischen
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III
Zeitschriften erschienenen Aufsätze über öffentliche Gesund¬
heitspflege, eine überaus mühevolle und zeitraubende Arbeit,
die nur von einem so gewissenhaften, ordnungsliebenden
und sorgfältigen Manne wie Spiess einwandfrei geleistet
werden konnte. Wie sorgsam der Verewigte gearbeitet
hat, das kann ausser seiner Familie nur sein Mitredakteur
beurteilen, der es während eines Zeitraumes von 18 Jahren
erfahren hat und jetzt bei Einsicht der über die Redaktion
geführten Bücher bewundernd vor dieser Zuverlässigkeit
steht.
Neue Arbeit, aber auch neue Freude brachte dem Ver¬
storbenen die Ernennung zum Stadtarzt im Jahre 1883, ein
Amt, für welches Georg Varrentrapp seit Jahren unter
Hinweis auf englische Vorbilder geschrieben und gewirkt
hatte. Spiess war der erste Stadtarzt im Deutschen Reich
und wurde massgebender Berater der städtischen Behörden
in allen hygienischen Fragen. Der neuen Aufgabe widmete
er sich voll und ganz, nahm an allen Fragen der öffent¬
lichen Gesundheitspflege regen Anteil, war Mitglied des
Armenamtes und leitete die Geschäfte der Armenärzte, an
deren Sitzungen er beratend teilnahm, verteilte die Arbeiten
der Schulärzte und hatte entscheidenden Einfluss bei der
Gestaltung der Baupläne für die Schulen nach hygienischen
Gesichtspunkten, welche er nachdrücklich und mit Erfolg
vertrat. Besondere lebhaft interessierte sich Spiess, der
auch Mitglied der Anstaltsdeputation und Vorsitzender der
Krankenhausdeputation war, für die Arbeiten der Gesund-
b eitskommission.
Seine Tätigkeit für . den Deutschen Verein für öffent¬
liche Gesundheitspflege fand die verdiente Anerkennung
bei der Feier des 25 jährigen Bestehens des Vereins auf
der Versammlung zu Köln im Jahre 1898 nicht nur von
staatlicher Seite durch die Verleihung des Roten Adler-
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IV
Ordens 3. Klasse mit der Schleife, sondern auch durch ein
Ehrengeschenk des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege.
Die seit der Gründung desselben noch lebenden Mit¬
glieder der jährlich neu gewählten Vereinsausschüsse, welche
nach den Sitzungen in seinem gastfreien Hause stets die
angenehmsten Stunden verlebt hatten, überreichten ihm eine
kunstvoll gearbeitete altdeutsche Uhr, an der in sinnigen
Versen und Sätzen seine Tätigkeit für den Deutschen Verein
dargestellt war.
Bei der letzten Tagung des Vereins in Dresden im
Jahre 1903 ernannte die Versammlung Alexander Spiess
zum Ehrenmitglied, eine Auszeichnung, welche vor ihm
nur Max v. Pettenkofer erfahren hatte.
Hochgeachtet von seinen Mitbürgern als Arzt und als
Mensch, tief betrauert von seiner Familie und seinen Freun¬
den ist der anspruchslose Mann, der unscheinbar und still
ohne weiteres Streben als Pflichterfüllung nach innerem
Triebe und eigener Überzeugung sein Leben führte, von
uns geschieden. Am 3. Februar fand, ganz seinem Wesen
entsprechend auf seinen Wunsch das stille Begräbnis auf
dem schönen Frankfurter Fried hofe statt.
Ein treuer, deutscher Mann, voll geraden Sinnes, der
niemals aus Eigenliebe, Eigensucht oder Eigensinn sich
beugte oder an seinen Ansichten festhielt, ist dort gebettet.
Aber solange diese Zeitschrift erscheint, solange der
Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege besteht,
wird Alexander Spiess nicht vergessen werden.
Namens der Herausgeber und des Verlages der Deutschen
Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege
M. Pistor.
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Th. Oehmcke, Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
237
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
Insbesondere hergeleitet aus dem Gegensätze von Stadt zu Land und von
Mietshaus zu Einzelhaus, samt Abriß der städtebaulichen Entwickelung
Berlins und seiner Vororte.
Von
Th. Oehmcke,
Regierung«- und Baurat a. D. in Gr.-Lichterfelde bei Berlin.
Kennzeichnende Merkmale des abgelaufenen Jahrhunderts sind die
Entstehung, sowie das unaufhaltsame Wachsen der Großstädte, welche Er¬
scheinung in Deutschland namentlich in den späteren Jahrzehnten des Jahr¬
hunderts von einer stärkeren Abwanderung der ländlichen Bevölkerung in
die Städte begleitet ist. Als eine der Hauptursachen des Anschwellens der
Großstädte ist die zu jener Zeit stattgehabte mächtige Entwickelung der
Industrie anzusehen. Sie verschaffte sich eine Überlegenheit über das
Handwerk, indem sie sich die schnellen Fortschritte der realen Wissen¬
schaften zunutze machte und sich in umfassendem Maße der Mitarbeit
wissenschaftlich vorgebildeter Kräfte bediente.
Für Industrie wie für Handwerk ist das Absatzgebiet maßgebend. Die
Industrie braucht, um die kostbareren leitenden Kräfte bezahlen zu können,
Großbetriebe und damit weite Absatzgebiete. Die überraschende Entwicke¬
lung der Verkehrsmittel war eine weitere Hauptursache des Emporblühens
der Industrie und für die Zunahme der Großstädte. Der Handwerker war
früher bei dem Absätze seiner Arbeiten vorwiegend auf seinen Wohnort be¬
schränkt, wird auch jetzt bei den verbesserten Verkehrsmitteln sich seltener
ein über seinen Wohnort und die nächste Umgebung hiuausgehendes Absatz¬
gebiet erobern.
Fast jeder Industriezweig stützt sich, sowohl was Warenerzeugung als
was Warenverteilung angeht, auf zahlreiche, möglichst ihm räumlich nahe
gelegene andere Industriezweige. Die für eine industrielle Entwickelung
notwendige Ansammlung zahlreicher verschiedener Großbetriebe drängt aber
auf die Bildung von Großstädten hin, in manchen Fällen und für gewisse
Betriebe auch auf die Entstehung von Industriegegenden, welche mit Gro߬
städten nach mancher Richtung hin ähnlich sind.
Das Anwachsen der Großstädte hat bisher schon den betreffenden
Städteverwaltungen die größten Aufgaben gestellt und erfordert die volle
Aufmerksamkeit der Landesverwaltungen. Dies Anwachsen ist für die Ent¬
wickelung der Wissenschaft der öffentlichen Gesundheitspflege in deren
wesentlichsten Teilen erst der Anlaß geworden.
Auch die hier im nachfolgenden zu besprechenden Fragen einer weit-
15*
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238
Th. Oehmcke,
räumigen und luftigen Anlage und Gestaltung der Städte haben ihre Bedeu¬
tung zum großen Teil erst durch das Anschwellen der Großstädte erhalten.
Um das Jahr 1800 gab es in dem Gebiete des jetzigen Deutschen
Reiches nicht eine Stadt mit 200000 Einwohnern und nur zwei Städte mit mehr
als 100 0000 Einwohnern, Berlin und Hamburg. Nach der Volkszählung
von 1895 hatten dagegen nicht weniger als 28 Städte des Deutschen Reiches
mehr als 100 000 Einwohner, welche Zahl sich 1900 sogar auf 33 erhöhte.
Die Einwohnerzahl von Berlin stieg von etwa 172 000 im Jahre 1800
auf 1 888 848 am 1. Dezember 1900. Sie hat sich in den letzten vier Jahr¬
zehnten des Jahrhunderts vervierfacht. Die graphische Darstellung (Abb. 1)
veranschaulicht dieses Wachstum des näheren.
Abb. 1.
Einwohn.
London hatte 1801 958 000 Einwohner. Es gab in Großbritannien
damals keine weitere Stadt mit mehr als 100 000 Einwohnern. Im Jahre
1901 zählte London deren 4 537 000 (mit Vororten 6 581000), und gab es
außerdem in Großbritannien vier Städte mit mehr als 500 000 Einwohnern.
Die eingangs erwähnte, mit dem schnellen Anwachsen der Großstädte
einhergehende starke Abwanderung der Bevölkerung des platten Landes in
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239
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
die Städte ist für einige Staaten in Tabelle 1 ersichtlich gemacht. Diese
Abwanderung ist im Deutschen Reiche besonders erheblich. Als eine be¬
merkenswerte, aus dieser Tabelle ersichtliche Tatsache erscheint uns das
noch außerordentlich starke Überwiegen des ländlichen Anteils in der Be¬
völkerung der Vereinigten Staaten von Nordamerika.
Tabelle 1 (nach Rubner) 1 ):
Staat
Jahr
Stadt
Proz.
Land
Proz.
Deutsches Reich .
f 1871
36-1
639
l 1890
47-0
53*0
Frankreich.
i 1851
25*5
74-5
l 1886
36*0
64*0
England.
1891
71*7
28*3
[ 1840
8 5
91'5
Vereinigte Staaten von Nordamerika . .
l 1890
23 ' 1
70*9 ( 76 * 9 ?)
Nach Baliod a. a. 0., S. 36 hatte von 1875 bis 1895 in Preußen die
Bevölkerung der Landgemeinden um etwa 11*5 Proz., die der Städte um
47 Proz. zugenommen. Die Stadtbevölkerung betrug 1875 34*7 Proz. der
Gesamtbevölkerung, 1895 40*7 Proz. derselben.
Die landwirtschaftliche Bevölkerung, welche nicht mit der ländlichen
Bevölkerung zusammenfällt, machte in Preußen 1867 48*85 Proz., 1882
42 Proz., 1895 nur noch 36 Proz. der Gesamtbevölkerung aus.
Kapitel I. Stadt und Land.
1. Abschnitt. Allgemeines.
Zwei Anhaltspunkte wollen wir für die Hervorhebung des hygienischen
Gegensatzes der dichten Bebauung unserer städtischen Wohnplätze einer¬
seits und des weiträumigen städtischen Anbaues anderseits benutzen,
nämlich zuerst die Gegenüberstellung des gesundheitlichen Einflusses des
Wohnens in der Stadt und desjenigen auf dem Lande, sodann zweitens die
Gegenüberstellung des gesundheitlichen Einflusses des Wohnens in einem
großstädtischen Mietshause und des Wohnens in einem Einfamilienhause.
Der Gegensatz zwischen dem Wohnen in der Stadt und demjenigen auf dem
Lande, sowie der G^ensatz zwischen dem Wohnen in einem großen Miets¬
hause und demjenigen in einem Einfamilienhause sind sehr ausgeprägte.
Nach Klarlegung dieser Gegensätze wird es uns, wie wir hoffen, eher ge¬
lingen, die voneinander abweichenden Wirkungen des dichten und des
weiträumigen städtischen Anbaues annähernd zutreffend darzustellen.
Beginnen wir mit dem Gegensätze von Stadt und Land. Derselbe soll
uns indessen nur so weit beschäftigen, als es für die Behandlung unseres
Hauptthemas wünschenswert ist. Wir haben uns daher im wesentlichen
auf die Erörterung der äußeren Verhältnisse des Wohnens in der Stadt
gegenüber dem Wohnen auf dem Lande zu beschränken, und soll der Unter-
• *) „Hygienisches von Stadt und Land“, a. a. 0. (siehe Literaturverzeichnis
am Schluß).
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240
Th. Oehmcke,
schied der städtischen and der ländlichen Berufe, der bezüglich seines hygie¬
nischen Einflusses ein sehr großer ist, nur kurfc berührt werden.
Betrachten wir einen noch in etwas größerer Entfernung von einer
Großstadt gelegenen, etwa neugegründeten Vorort, in dem Wasserleitung usw.
noch fehlt, der aus mit Gärten eingefaßten Häusern von bescheidener Höhen¬
entwickelung besteht, so werden die gesundheitlichen Verhältnisse in dem¬
selben von denen auf dem platten Lande nicht sehr verschiedene sein.
Wird dieser Vorort im Laufe der Zeit mit besserem Straßenpflaster,
mit Wasserleitung und Kanalisation versehen, wird aber dieselbe landbaus¬
mäßige Art der Bebauung beibehalten, so werden die Gesundheitsverhält¬
nisse dieses Vorortes bezüglich des Wohnens oft entschieden günstiger
werden, als diejenigen auf dem platten Lande es sind.
Sehen wir uns dagegen einen näher an einer Großstadt gelegenen Vor¬
ort oder eine Vorstadt an, in welchen zwar eine weiträumigere Bebauung
als im Stadtinneren festgehalten wird, jedoch das umfangreiche Mietshaus
mit zahlreichen Stockwerken vorherrscht, so werden die Gesundheitsverhält¬
nisse oft erheblich ungünstiger sein — selbst wenn auch Wasserleitung usw.
hier schon ausgeführt sein sollten — als auf dem Lande. Für die Fest¬
stellung des Unterschiedes zwischen derartigen städtischen Wohnplätzen
und dem Stadtinneren wird die Heranziehung des hygienischen Gegensatzes
von Stadt und Land von beschränkterem Werte als im Falle vorher sein.
Für die Erörterung unseres Besprechungsvorwurfes Land und Stadt
und der unterschiedlichen Einwirkung von Land und Stadt auf die Ent¬
wickelung der Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen die Angriffe des
Klimas und gegen die Angriffe der sozialen Schädlichkeiten ist es geboten,
einen Blick auf die allmähliche Entwickelung der körperlichen und geistigen
Eigenart der jetzigen Kulturvölker zu werfen. Reihen von Jahrtausenden
hat es bedurft, bis der Jäger, der wegen des Kampfes gegen die dem ein¬
zelnen überlegene Tierwelt und gegen die menschlichen Bedroher seiner
Jagdgebiete zu Horden sich zusammenschloß, zum Viehzüchter, und dieser
nach langer Entwickelung *) zu dem schon geregeltere Gemeinschaften bil¬
denden Ackerbauer wurde. Um sich vor Untergang zu bewahren, mußte
der einzelne seine Leibes- und Geistesorgane derart ausbilden, wie es die
genannten Berufe, auf die er allein angewiesen war, ihm geboten. Die vom
einzelnen erworbenen Eigenschaften gingen durch Auslese und Vererbung
in den Besitz der Rasse über und wurden zu für die Rasse kennzeichnenden.
Die Eigenschaften, welche die in Frage kommenden Völker 6ich durch
diese genannten ländlichen Berufe, die auch vielfach nebeneinander ausgeübt
wurden, erworben hatten, sicherten der Gattung auf lange hin ihren Bestand.
Ganz unvermittelt änderte sich nun in neuester Zeit die Zusammensetzung
der Volkskörper bezüglich der Berufe nach dem lange unveränderten Be¬
stände. Große Teile der bis dahin fast ausschließlich ackerbautreibenden
Bevölkerungen gingen zu städtischen Berufen über, und bei einigen Völkern
bildet der schnell anwachsende Teil der Stadtbewohner schon die Volks¬
mehrheit.
*) Hansen «zibt a. a. 0., 8. 89 ff. eine anziehende Darstellung dieser Vor¬
gänge, wie wir letztere nach dem Stande unseres Wissens annehmen müssen.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
241
Nach der Volkszählung vom 1. Dezember 1900 wohnten 45*65 Proz.
der Einwohner des Deutschen Reiches in Gemeinden unter 2000 Einwohnern
— man rechnet diese als Landgemeinden — und 54*35 Proz. in größeren
Gemeinden. Noch im Jahre 1895 war das Verhältnis nahezu gleich. Im
Jahre 1871 wohnten noch 64 Proz. in den kleineren (Land-) und 36 Proz.
in den größeren (Stadt-) Gemeinden.
Das Gebiet des jetzigen Königreiches Preußen, in dem 1895 die land¬
wirtschaftliche Bevölkerung nur noch 36 Proz. der Gesamtbevölkerung betrug,
besaß bis vor etwa 100 Jahren nur einen kleinen Bruchteil von städtischer,
namentlich großstädtischer Bevölkerung. Der damals noch unerschöpfliche
Zuzug vom Lande schaffte mit Leichtigkeit Ersatz für den Abgang in dem
schneller sich verbrauchenden, aber wegen seines geringen Umfanges nicht
ins Gewicht fallenden städtischen Anteile der Bevölkerung.
Man hat die Frage aufgeworfen, ob die Eigenart eines solchen Volkes,
die ihm seinen Bestand in der Ausübung ländlicher Berufe sicherte, die
Gewähr bietet, es in städtischen Berufen und bei städtischer, namentlich
großstädtischer Lebensweise in seinem Bestände zu erhalten. Hüppe sagt
darüber folgendes 1 ): „Die Akklimatisationsfähigkeit einer Rasse ist auch
noch von einem anderen Gesichtspunkte aus zu betrachten, nämlich in bezug
auf die Einflüsse des Land- und Stadtlebens usw. tt . „Die Großstadt
einerseits, das Landleben des Ackerbauers, des Tierzüchters und des Wander¬
hirten anderseits stellen aber ganz verschiedene Anforderungen in körper¬
licher, sittlicher und geistiger Beziehung usw. tf .... „Während sich jetzt
die Städte wenigstens zum Teil selbst erhalten können, vermochten sie es
früher nur durch Zuzug vom Lande. u
Hansen unternimmt a. a. 0. an der Hand ausgedehnter statistischer
Unterlagen in einigem Gegensätze zu dieser letzten Anführung den Nach¬
weis, daß eine Stadtbevölkerung ohne Zuzug vom Lande ihrem Nieder¬
gange nicht entgehen könne. In bezug auf das Beispiel Leipzigs sagt er
S. 27: „Wenn aber die Bevölkerung einer stationären Stadt fortwährend
zur Hälfte aus Zugezogenen besteht, so folgt daraus, daß die eingeborene
Bevölkerung in je zwei Menschen altern durch den Zuzug von auswärts voll¬
ständig ersetzt wird“ *).
Wenn man auch die Frage der vollständigen Anpassungsfähigkeit der
neueren, noch im wesentlichen den ländlichen Berufen angepaßten Kultur¬
völker an das Stadtleben, namentlich an das Großstadtleben, dahingestellt
sein lassen will, wird man doch die Frage einer „teilweisen“ Anpassungs¬
fähigkeit zu bejahen haben, und die Möglichkeit der erheblichen Verlang¬
samung des immer noch stattfindenden unverhältnismäßig schnellen Ver¬
brauches der Stadt- und Großs.tadtbevölkerung zugeben müssen.
l ) A. a. O., 8. 217 ff.
*) Hansen bezieht sich, wie erwähnt, auf die Bevölkerung Leipzigs, welche
nach der Zählung von 1875 aus 25 Proz. in Leipzig und aus 75 Proz. auswärts
Geborenen bestand. Um die Größe der „stationären* Bevölkerung in seinem Sinne
zu erhalten, rechnet er von der Gesamtbevölkerungszahl 25 Proz. für solche, welche
sich nur vorübergehend in Leipzig aufhielten, und weitere 25 Proz. für den Zuzug
mit der dazu gehörigen Kinderzahl aus anderen Städten ab.
Hansen will also eigentlich sagen, daß die eingeborene Bevölkerung in je
zwei Menschenaltern durch den Zuzug „vom Lande* vollständig ersetzt wird.
Vierteljahnschrift für Gesundheitspflege, 1904. jß
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242
Th. Oehmcke,
Id welcher Weise und unter welchen Bedingungen eine solche für den
Bestand der einzelnen Völker notwendige Anpassung stattfinden und eine
solche Umbildung des Menschen befördert werden kann, kann hier nur
flüchtig und nur nach wenigen Richtungen hin angedeutet werden. Uner¬
läßlich für die Beförderung dieser Anpassung ist eine viel allgemeinere Ver¬
breitung der Kenntnis von den Schädlichkeiten des städtischen Lebens und
der Erfahrung, dieselben in bezug auf sich und andere zu verhüten. Un¬
erläßlich ist es namentlich, daß die Angehörigen des gebildeten Teiles der
städtischen Bevölkerung ausnahmslos von der Notwendigkeit sich über¬
zeugen, daß sie bewußt hygienisch leben müssen, um bei den gesund¬
heitlichen Gefahren des Stadtlebens einem vorzeitigen Siechtum zu ent¬
gehen 1 ).
In der Jugenderziehung muß schon der Gedanke vorwaltend werden,
daß die Widerstandsfähigkeit gegen die schädlichen Einwirkungen des Stadt¬
lebens entwickelt werden müsse. Die Griechen und in dem ersten Teil ihrer
Geschichte auch die Römer waren Stadtbewohner, und doch wußten sich
dies'e Völker vor einem frühzeitigen Verfall zu schützen. In ihrer Jugend-
und Volkserziehung wurde aber auch das Hauptaugenmerk darauf gerichtet,
die Körperausbildung zu pflegen und die Beeinträchtigung derselben durch
eine einseitige Geistesausbildung, wozu im städtischen Leben die Gefahr
vorliegt, zu vermeiden.
Die Engländer gehören von den neueren Völkern am meisten zu denen,
welche Stadtbewohner geworden sind. Nach Tabelle 1 betrug 1891 die
Zahl der Landbewohner bei ihnen nur noch wenig mehr als ein Viertel
der Bevölkerung. Der mächtige Aufschwung der Industrie war hier schon
früher eingetreten als auf dem europäischen Festlande und hatte schon im
Laufe der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zur Bildung nam¬
hafter Großstädte geführt. Es nahmen bei der Zusammendrängung gewal¬
tiger Menschenmassen in ihnen auch die gesundheitlichen Zustände dieser
Großstädte zunächst ein recht bedrohliches Ansehen an. Indessen lernten
es die Engländer bald, Stadtbewohner zu sein. Durch die Ausbildung ihrer
hygienischen Gesetzgebung, die um die Mitte des Jahrhunderts bereits
achtungswerte Anfänge aufwies, und die jetzt einen sehr umfangreichen
Hauptteil ihrer Gesetzgebung überhaupt ausmacht, haben sie es ver¬
standen, jener die Gesundheitsverhältnisse ihrer Großstädte und Städte
bedrohenden Gefahren Herr zu werden, bzw. sie in erheblichem Maße ein¬
zuschränken.
Die Notwendigkeit der Pflege des Gesundheitswesens und der hygieni¬
schen Gesetzgebung ist bei den Engländern viel früher eingetreten als bei
den anderen Völkern, schon zu einer Zeit, als es beispielsweise bei uns
*) Absehend von dem Thema „Stadt und Land“ möchten wir einschalten,
daß die gebildete Klasse dem handarbeitenden Teile der Bevölkerung gegenüber
der gesundheitlichen Segnungen der in der Berufstätigkeit liegenden Körperübung
entbehrt. Unseres Dafürhaltens ist diesem Umstande zu einem Teile der schnell
wachsende politische Einfluß der handarbeitenden Klasse zuzuschreiben. Dieser
Einfluß dürfte nur dann wieder in engere Grenzen zu weisen sein, wenn die gebil¬
dete Klasse dem die Körperentwickelung zurückhaltenden Mißstande einseitig
geistiger Berufstätigkeit durch Körperschulung nachhaltig begegnet.
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243
Gesundheit and weiträumige Stadtbebauung.
Großstädte und ihre Gesundheitsgefahren in erheblichem Maße noch nicht
gab, und als der vom Lande in die Stadt fließende Bevölkerungsstrom in
Deutschland noch mehr als reichlich floß, um ein gesundheitliches Zurück¬
gehen der Stadtbevölkerung zu verhüten.
Die englische Gesundheitsgesetzgebung verdankt übrigens, in ihren
Anfängen wie in dem Hauptteile ihrer Entwickelung, der Rührigkeit der
Selbstverwaltungskörperschaften ihren Ausbau, hat daher in der Überzeu¬
gung des „einzelnen“ von der Wichtigkeit der öffentlichen Gesundheits¬
pflege ihre Wurzel.
Diese Teilnahme und Befähigung für die Aufgaben einer bewußten
Gesundheitspflege ist ein kennzeichnendes Merkmal für die vollzogene An¬
passung einer Bevölkerung an das Stadtleben. Sie wird auch für eine
zweckdienliche Gestaltung der städtischen Wohnweise und der städtischen
Wohnplätze — des Gegenstandes unserer näheren Besprechung — nicht zu
entbehren sein.
Was die Neigung zum Landleben bei den einzelnen Rassen betrifft,
so darf die geringe Begabung zum Städtegründen und das Festhalten der
germanischen Völker an ländlichen Berufen, am Anfänge der geschicht¬
lichen Zeit und später, als bekannt vorausgesetzt werden. Erst spät er¬
hielt das Städteleben bei ihnen eine Bedeutung, während bei den Griechen,
den italischen Völkerschaften und anderen mit dem Anfänge der Ge¬
schichte der einzelnen Stämme meist auch schon Städtegründungen eng
verknüpft sind.
In Deutschland gilt Heinrich I. als eigentlicher Städtegründer. Er
regierte zu einer Zeit, als schon seit einer Reihe von Jahrhunderten ger¬
manische Stämme Weltreiche zertrümmert und solche errichtet hatten.
Tacitus berichtet in der „Germania“: „Daß die germanischen Völker
keine Städte bewohnen, ja, daß sie nicht einmal in zusammenhängenden
Wohnsitzen leben, ist allbekannt. Einsam und abgesondert siedeln sie sich
an, wo gerade ein Quell, eine Au, ein Gehölz einladet.“ An dieser von
Tacitus beschriebenen Art zu wohnen halten die Landbebauer nieder¬
sächsischen Stammes, welcher der Mischung mit nichtgermanischen Völkern
wenig oder gar nicht ausgesetzt gewesen ist, noch heute fest. Die stattlichen,
in gewollter Absonderung voneinander stehenden Bauernhäuser, welche
Wohnung, Stall und Scheune unter einem Dache vereinen, kennzeichnen
noch immer die Grenzen dieses und der ihm enger verwandten Stämme
— so der Friesen — mit den anderen deutschen Stämmen.
Während in Deutschland ein erheblicher Teil der Angehörigen der
Stände, die durch Bildung und Einfluß ausgezeichnet sind, unter den Land¬
bewohnern zu suchen ist 1 ), spielt sich das Leben der höheren Stände, z. B.
in Italien, wie es auch zu Zeiten der Renaissance und vorher schon der Fall
gewesen ist, fast lediglich in den Städten ab *). Der hierauf achtende
l ) Einen der sehr zahlreichen Beläge hierfür bietet uns das Leben des großen
Kanzlers des Deutschen Beiches, der mit warmer Liebe am Landleben hing.
Außer vielem anderen bestätigen dies zahlreiche Stellen seiner „Briefe an seine
Braut und Gattin“ (so der Brief vom 16. Mai 1851).
*) Eine eingehende geschichtliche Herleitung dieser Erscheinung findet sich
in Hansen, a. a. 0., 8. 251 ff.
16 *
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244
Th. Oehmoke,
Reisende wird es unschwer erkennen, wie in Italien die Besitzer der
übrigens dort wenig zahlreichen im landwirtschaftlichen Großbetriebe be¬
wirtschafteten Landgüter oder der sonstigen umfangreicheren ländlichen
Besitzungen nicht auf diesen Gütern, sondern meist in der Stadt ihren
Wohnsitz haben und die Bewirtschaftung jener Güter Pächtern oder Ver¬
waltern überlassen.
Eine außerordentliche Vorliebe für das Landleben und für ländliches
Wohnen ist den Engländern eigen. Diese Vorliebe ist einst aus dem Mutter¬
lande in die Vereinigten Staaten von Nordamerika verpflanzt und hat sich
— wenigstens nach schriftstellerischen Zeugnissen von daher — dort auch
erhalten.
2. Abschnitt. Statistik,
a) Statistik der Sterblichkeit in Stadt und Land.
Für Beurteilung der Gesundheitsverhältnisse der Bewohner verschie¬
dener Orte, der Angehörigen verschiedener Berufe usw. ist man in erster
Linie auf die Sterblichkeitsstatistik angewiesen. Zum Zwecke des Ver¬
gleiches der Sterblichkeit in Stadt und Land beginnen wir mit älteren, öfter
anderweit schon angeführten Angaben.
Nach Finkelnburg (a. a. 0.) starben von 1000 Lebenden im Jahre:
In sämtlichen
Auf dem
Mehr in den
Städten
Lande
Städten
England 1864 bis 1874 ....
247
19*5
52
Preußen 1875 bis 1879 ....
27*4
247
2*7
Es sind nach derselben Quelle für jenen Zeitraum für alle preußisohen
Provinzen, mit Ausnahme einer, die Sterbeziffern füt die Städte größer als
die für das Land.
Wie sehr die Gesundheitsverhältnisse der mit industriellen Arbeitern
überfüllten Großstädte seinerzeit hinter den GesundheitsVerhältnissen rein
ländlicher Bezirke in England zurüokgestanden haben, wird aus folgenden
Zahlen ersichtlich.
Es starben im Durchschnitt der Jahre 1849 bis 1853 von 1000Lebenden:
Männer
Frauen
In 51 Healthy districts.
17-5
16*2
In Manchester.
35*4
30*5
ln Liverpool.
40*9
36*3
Der verschiedene Anteil einer Anzahl der Hauptkrankheiten an den
Sterbeziffern in Stadt und Land in Preußen für 1877, für Männer und
Frauen getrennt, kann aus Tabelle 2 ersehen werden.
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245
Gesundheit und weiträumige Stadtbobauung.
Tabelle 2.
Todesursachen im Königreiche Preußen im Jahre 1877, nach Stadt
und Land geschieden (im Auszüge).
Es starben nach der amtlichen preußischen Statistik auf 10 000 Lebende:
“1
Todesursachen
Männer
^ Frauen
t
Land
Stadt
Land
Stadt
1
Altersschwäche (über 60 Jahre).
2606
15*77
29*63
1
22*38
2
Scharlach.
8*21
8*28
7*28
7*37
3
Masern und Böteln.
5*45
3 43
4'97
3*38
4
Diphtherie und Croup.
19-21
1400
16*64
13*20
5
Keuchhusten.
7*09
4*46
7*30
5*48
6
Typhus.
6*04
6*35
5*49
5*90
7
Einheimischer Brechdurchfall.
1*61
8*30
1*33
7*68
8
Diarrhöe der Kinder.
1*54
7*10
1*18
5*75
9
Tuberkulose .
31-96
42*76
26*63
32*00
lOj
Luftröhrenentzündung und Lungenkatarrh . .
1*21
6*03
1*00
5*52
11
Lungen- und Brustfellentzündung
11*07
| 14*70
7*87
11*27
12
Andere Lungenkrankheiten.
318
4*01
2*26
2*72
13
Herzkrankheiten .
0*93
303
0*95
3*38
14
I Gehirn krankheiten.
3*20
10*05
2*30
7*61
15
| Nierenkrankheiten.
0*92
288
0*35
1*68
16
Selbstmord.
242
4*04
0*45
0*74
I
■J
Überhaupt
(einschließlich auch der hier nicht aufgeführten
Krankheiten)
264*87
290*77
232*37
255*83
Den die Höhe der Sterblichkeit des Säuglingsalters bestimmenden
Krankheiten erliegen in den Städten fünfmal so viel Opfer als auf dem
Lande. An der verheerendsten Volkskrankheit, der Tuberkulose, starben
in der Stadt ein Drittel Männer mehr als auf dem Lande. Eine Mehr¬
sterblichkeit der städtischen Frauen ist auch vorhanden, aber sie ist nicht
so groß. Man glaubt daher die Ursache für die Verschiedenheit der Ver¬
breitung dieser Krankheit in Stadt und Land in der Verschiedenheit der
Berufstätigkeit — ob diese in geschlossenen, mit staubbildenden Stoffen
angefüllten Räumen oder ob sie, wie beim Landmann, im Freien stattfindet
— suchen zu sollen.
Wo die Beschäftigung in Fabriken bei der Landbevölkerung vorherrscht,
ist die Tuberkulosesterblichkeit auch bedeutend, allerdings nach den Unter¬
suchungen Finkelnburgs für die Rheinprovinz nirgend ganz so hoch wie
in den zu vergleichenden Fabrik städteD.
Für Herz-, Gehirn- und Nierenkrankheiten stellen sich die Sterbeziffern
unserer Tabelle für die Stadt je auf das Dreifache von denen des Landes,
und zwar sowohl für Männer als für Frauen.
Die allgemeinen Sterbeziffern haben, wie aus den hier im folgenden
benutzten neuesten statistischen Erhebungen und Untersuchungen ersicht¬
lich werden wird, in den letzten Jahrzehnten erheblich abgenommen.
Rahts stellt in Bd. V der Medizinal - statistischen Mitteilungen aus
dem Reichsgesundheitsamte Vergleichungen zwischen der Sterblichkeit der
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246
Th. Oehmcke,
Gesamtbevölkerung von 25 Großstädten (über 100 000 Einwohner) des
Deutschen Reiches (nur 3 der 28 dieser sind ausgelassen) und der Sterblich¬
keit der Bevölkerung außerhalb der 25 Großstädte, sodann zwischen den
Sterbeziffern jener Bevölkerung der Großstädte und der Gesamtbevölkerung
des Deutschen Reiches an. Er berechnet dabei die relativen Sterbeziffern
nach den Zahlen der Sterbefalle des Jahres 1896 und nach den Bevölke¬
rungszahlen, wie sie die Volkszählung vom 2. Dezember 1895 ergab.
Auf je 100 000 Lebende starben in den Großstädten 1 ) 1986, in der
Gesamtheit der Staaten 2106.
Danach könnte es scheinen, als ob die 25 Großstädte schon günstigere
Sterbeziffern als die Gesamtbevölkerung aufwiesen. Indessen erscheinen die
Zahlen in anderem Lichte, wenn wir die verschiedene Besetzung der Alters¬
klassen in Stadt und Land in Rücksicht ziehen.
Nach Rahts entfielen auf 1000 Lebende:
an Bewohnern
bis 15 Jahre
über 60 Jahre
in den 25 Großstädten.
290
58
in der Gesamtheit von 19 deutschen Staaten ....
347
79
in den preußischen Landgemeinden und Gutsbezirken
378
82
Die Besetzung der jüngsten und der ältesten Altersklasse, welche beide
stets die höchsten Einzelsterbeziffern haben, ist auf dem Lande also viel
stärker als in den Großstädten. Durch diese hohen Einzelsterbeziffern wird
die Gesamtsterbeziffer des Landes sehr ungünstig beeinflußt und erscheint
höher, als sie es ist.
Aus Tabelle 3 geht hervor, daß nur in der Altersklasse über 60 Jahre
die Großstädte günstigere, unter dem Durchschnitt bleibende Sterblichkeits-
Tabelle 3.
Es starben in 1896 nach Rahts:
Auf je 10 000 Lebende
In der
Gesamtheit der
19 Staaten
In den
25 Großstädten
Außerhalb der
25. Großstädte
des ersten Lebensjahres ....
2481*8
2727*4
2449-6
von 1 bis 15 Lebensjahren . .
101-5
115*3
99-8
von 15 bis 60 Lebensjahren . .
89*8
93*1
89*2
von 60 Jahren und darüber . .
685-6
659-6 j
688*5
Verhältnisse aufweisen, aber nur scheinbar, da festgestellt ist, daß die Greise
auf dem Lande im Durchschnitt älter sind als in der Stadt und daher natur¬
gemäß eine größere Sterblichkeit haben als die in der Stadt. In den drei
anderen Klassen sind die Sterbeziffern für die Großstädte höher als für die
Gesamtheit der Staaten und für die Bevölkerung außerhalb der Großstädte.
Es sind ferner in der Gesamtheit der Staaten 24*5 Proz., in den Gro߬
städten aber 30*6 Proz. aller Gestorbenen gerade im lebenskräftigsten Alter
(15 bis 60 Jahre) gestorben.
l ) 1895 betrug die Bevölkerung der Großstädte 13*9 Proz. der Gesamtbevölke¬
rung des Reiches.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
247
Rahts kommt für das Jahr 1896, also für einen noch nicht lange
zurückliegenden Zeitraum, bei seiner eingehenden und vorsichtigen Unter¬
suchung zu dem Schlüsse, daß die Sterblichkeitsverhältnisse in den Gro߬
städten — trotz der viel größeren Aufwendungen für Hygiene in ihnen —
jedenfalls entschieden ungünstigere sind als außerhalb derselben.
Wir haben gesehen, daß für den Vergleich der Sterbeziffern von Gro߬
stadt und Land der Verschiedenheit der Altersgliederung eine ausschlag¬
gebende Bedeutung beizumessen ist. In der Tabelle 4 ist die Besetzung
Tabelle 4.
Besetzung der Altersklassen der Bevölkerung in den deutschen
Großstädten und im Deutschen Reiche.
(Nach Maurice Block, angeführt bei Oldendorff-Weyl.)
Von 1000 Personen standen am 1. Dezember 1875 im Alter von:
_ 1
im Deutschen
Reiche
in
Berlin
in
Dresden
in
Köln
in
München
0 bis
10 Jahren ....
246
196
171
197
154
10 n
20
» . . . . ^
197
167 .
190
188
151
20 „
30
II * * * *
159
261
259
240
241
30 „
40
T» ....
134
173
147
147
167
40 „
50
n ....
103
97
100
93 |
122
50 „
60
n ....
84
i 62
i 73
75
87
60 „
70
*> ....
51
29
39
4!
53
70 „
80 Jahren ....
21
1 12
16
16 1
21
80 und mehr Jahren . .
3-7
1*9
2 9
3*1 |
3*6
Alter unermittelt ....
1*1
| 0*9
2*3
0*3
0*3
der Altersklassen von 10 zu 10 Jahren in einigen der bedeutendsten deut¬
schen Großstädte und im Deutschen Reiche enthalten. Auch in dieser Tabelle
ist der vorhin angedeutete Unterschied der Altersgliederung und die viel
stärkere Besetzung der lebenskräftigsten Altersklassen in den Großstädten
der schwächeren Besetzung dieser Klassen im ganzen Lande gegenüber augen¬
fällig, wenn auch die Zahlen einen etwas zurückliegenden Zeitpunkt betreffen.
Wie die allgemeinen Sterbekoeffizienten sich in den letzten Jahrzehnten
in Stadt und Land stetig verringert haben, tun die Zahlen der Tabelle 5
Tabelle 5.
Sterbeziffern für das Tausend Lebender in Preußen.
(Preußische Statistik.)
Jahr
Stadt
Land
Jahr
Stadt
Land
1875 .......
29*3
27*5
1891.
24*5
24*1
1880 .
28*5
26*6
1892 .
24*6
24*9
1885 .
27*4
26*9
1895 .
23*1
23*2
1890 .
25*3
25*5
1897 .
22*2
226
aufs deutlichste dar. Von 1875 bis 1897 sind die darin enthaltenen Sterbe¬
ziffern in den Städten um 25 Proz., auf dem platten Lande nur um 18 Proz.
gesunken. Es würde voreilig sein, aus letzterer Tatsache den Schluß
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248
Th. Oehmoke,
ziehen zu wollen, daß die Sterblichkeit in den 22 Jahren auf dem Lande
langsamer gesunken sei als in den Städten. Man wird sich zunächst die
Frage vorzulegen haben, ob die nach dem obigen Zahlenverhältnis scheinbar
stärkere Abnahme der Sterblichkeit in den Städten dem Lande gegenüber
nicht zum großen Teil Folge einer innerhalb der 22 Jahre etwa stärker
gewordenen Wanderung der lebenskräftigsten Alter vom Lande in die Stadt
ist. Bailod (a. a. 0.) kommt auch, wie später mitgeteilt werden wird, zu
einem anderen Ergebnis, als es das vorerwähnte, für das Land ungünstige
Zahlenverhältnis vermuten läßt.
Bisher haben wir schon mehrfach gesehen, daß die allgemeinen Sterbe¬
ziffern für den Vergleich verschiedener Bevölkerungen nur wenig Wert
haben, wenn in ihnen stärker wandernde Bevölkerungsteile vorhanden, d. h.
wenn ihre Altersgliederung eine verschiedenartige ist. Man hat sich daher
bestrebt, für den erwähnten Zweck einen geeigneteren Ausdruck für die
Gesamtsterblichkeit aufzustellen, als es die allgemeinen Sterbeziffern sind.
Wie Boeckh für die Stadt Berlin und andere Statistiker für andere Ört¬
lichkeiten, hat Ballod a. a. 0. für die Orte und Gebiete Preußens für er¬
dachte Bevölkerungen durch wissenschaftliche Berechnungen Sterbetafeln
aufgestellt. Für diese erdachten Bevölkerungen ist dabei eine Zusammen¬
setzung vorausgesetzt, wie sie die Bevölkerungen der Orte und Gebiete
haben würden, wenn die Bewohner alle am Orte ihrer Geburt verblieben
sein würden, und auch kein Zuzug von außen stattgefunden haben würde,
d. h. wenn diese Bevölkerungen „stationär“ geblieben wären.
Aus diesen Sterbetafeln Ballods (nur für Preußen sind es 67 Stück) sind
die Lebensaussichten (mittlere Lebensdauer) aller Altersklassen für Gegenwart
und Vergangenheit zu ersehen. Daraus wird dann auch ein summarischer
Sterbekoeffizient der Gesamtbevölkerung (Umkehrung der mittleren Lebens¬
dauer der Neugeborenen) abgeleitet, in welchem der Einfluß der verschie¬
denen Besetzung der Altersklassen ausgeschieden ist.
Aus einzelnen Angaben jener Sterbetafeln ist von Ballod neben zahl¬
reichen anderen zum Vergleich der Sterblichkeit in Stadt und Land auf¬
gestellten Tabellen Tabelle 6 zusammengestellt. Dieselbe gibt uns ein
Tabelle 6 (Auszug aus der Tabelle von Ballod).
Es betrug die mittlere Lebensdauer für das männliche Geschlecht in Preußen
beim Alter:
Unterschied
Großstädte
gegen Land
Land
Proz. |
30 Jahre .
f 1880/81
29*29
11*7
32*74
1 1895/96
30*95
15*3
35*70
40 Jahre .
1 1880/81
21*84
16
25*35
( 1895/96
23*66
17*4
27*40
50 Jahre .
f 1880/81
16*78
11
18*50
|( 1895/96 j
!7*65
16
20*37
anschauliches Bild davon, wie sehr die erwachsene männliche Bevölkerung
der Großstädte in ihrer Lebensdauer hinter der Bevölkerung der Land¬
gemeinden Preußens zurücksteht, und wie stark sich dieses Verhältnis von
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249
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
1881 bis 1896 noch mehr zuungunsten der Großstädte verschoben hat.
Es sind jene Unterschiede der Lebensdauer in Großstadt und Land im
allgemeinen noch nicht einmal die größten, welche sich aus dem Vergleiche
von Großstädten und Land überhaupt ergeben. So führt Ballod an, daß
die Lebensdauer der männlichen Erwachsenen der Großstädte von derjenigen
der zu 78 Proz. in Landwirtschaft tätigen Landgemeinden der vier Ost-
provinzen noch erheblich mehr abweicht, als dies nach Tabelle 6 der Fall
ist, nämlich in denselben Altersklassen für 1895/96 um 21 bis 24 Proz.
Er nimmt daher für Preußen als erwiesen an: 1. Die Lebensdauer hat
im allgemeinen erheblich zugenommen; 2. diese Zunahme ist für die Er¬
wachsenen auf dem Lande stärker gewesen als in den Städten, erheblicher
beim männlichen als beim weiblichen Geschlecht. Er kommt zu dem End¬
ergebnis: „Der Gegensatz in der Lebensdauer zwischen Stadt und Land,
besonders in dem kräftigen Mannesalter, besteht nicht nur unverändert
weiter, sondern hat sich noch verschärft. u Diese Tatsachen sind um so
schwerwiegender, als in den Großstädten in den letzten Jahrzehnten außer¬
ordentlich große Aufwendungen für Pflasterung, Straßenreinigung, Trink¬
wasserversorgung, Kanalisation, Krankenhauswesen, Schlaohthausbauten und
sonstige Gesundheitswerke gemacht worden sind, während von allem diesem
den Landgemeinden fast noch nichts zugute gekommen ist. Außerdem hat
die in neuerer Zeit stattgefundene Steigerung der Lebenshaltung in der
Hauptsache nur auf die städtische und industrielle Bevölkerung Bezug
gehabt, wie wir mit Ballod annthmen können.
Etwas außerhalb des Kähmens der vorstehenden Erörternngen über
den Unterschied der Sterblichkeit in Stadt und Land fällt der Inhalt der
Tabelle 6a, welcher die Sterbeziffern Berlins und seiner Hauptvororte ent-
Tabelle 6 a.
Gewöhnliche Bterbeziffern auf 1000 Lebende (ohneTotgeborene) für 1898
für Berlin und eine Anzahl Vororte, nach dem statistischen Jahrbuch der
Stadt Berlin von 1900.
Berlin.
Charlottenburg .
.17*24
.14*17
Groß-Lichterfelde (einschließlich
Lankwitz).
11*01
Vororte der
Teltower Seite:
Vororte der Barnimer Seite:
Lichtenberg.22*04
ßchöneberg . . .
.11*61
Pankow .
18-81
Bixdorf . . . .
.18*01
Weißensee (mit Neu-Weißensee)
24*25
Wilmersdorf . .
.10*99
Boxhagen-Rummelsburg ....
23*89
Friedenau . . .
.12*37
Reinickendorf.
21*60
Steglitz.
.13*68
Friedrichsfelde.
20*58
hält. Es dürfte indessen der Inhalt der Tabelle eine unmittelbarere Be¬
ziehung zu unserem Hauptbesprechungsthema „Gesundheitlicher Einfluß
des gedrängten und des weiträumigen städtischen Anbaues u haben. Wir
können die Zahlen der Tabelle nicht kurzerhand als Beweis für die Über¬
legenheit des weiträumigen städtischen Anbaues (Vororte) über den ge¬
drängten Anbau (Berlin) ins Feld führen. Die Tabelle enthält eben nicht
die korrekten, sondern nur die gewöhnlichen Sterbeziffern; es ist darin also
nicht die Verschiedenheit der Altersgliederung zum Ausdrucke gekommen.
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250
Th. Oehmcke,
Zudem wird mannigfachen anderen Umständen, so dem verschiedenen Grade
der Wohlhabenheit, dem geringen Alter der Vororte usw., ein erheblicher
Einfluß auf die Sterbeziffern der Tabelle zuzusprechen sein.
Immerhin erscheint es beachtenswert, daß die westlichen und südwest¬
lichen Vororte mit ihrer vielfach landhausmäßigen Bebauung, trotzdem in
einzelnen derselben noch nicht einmal die Kanalisation durchgeführt ist, im
allgemeinen so viel niedrigere Sterbeziffern aufweisen l ) als Berlin und die
nördlichen und nordöstlichen Vororte mit der dort baupolizeilich gestatteten
erheblich dichteren Bebauung.
Daß die Sterbeziffern für die nördlichen und nordöstlichen Vororte
größer sind als die für Berlin selbst, dafür wird der Grund vornehmlich
darin zu suchen sein, daß in jenen Vororten die Arbeiterbevölkerung mehr
vorherrscht und daß dort die öffentlichen Gesundheitswerke noch hinter
denen Berlins zurückstehen.
Die Krankheitsstatistik ist im Gegensätze zur Sterblichkeitstatistik nur
in geringem Grade ausgebildet. Es dürfte daher hier von Wert sein, eine
Arbeit Dr. No de re 2 ) kurz zu berühren, in welcher Großstadt und Land
mit Hilfe einer Krankheitsstatistik verglichen sind.
Die Ärzte des bayerischen Regierungsbezirkes Schwaben beteiligen
sich zu 88 Proz. an einer Statistik der Ansteckungskrankheiten. Noder
stellt nun bezüglich derselben die Stadt Augsburg mit rund 82 000 Ein¬
wohnern der Bevölkerung der ländlichen Orte Schwabens gegenüber. In
Augsburg erkrankten in den vier Jahren 1895 bis 1898 jeder 8., auf dem
Lande jeder 14. Bewohner an ansteckenden Krankheiten. Die höhere Er¬
krankungsziffer für die Großstadt — fast die doppelte des Landes —
beruht nach Noder nicht auf außergewöhnlichen Schwankungen und beson¬
deren epidemischen Anschwellungen in einzelnen Krankheitsgruppen, sondern
entspricht einem zutreffenden Durchschnitt. Er führt als Hauptgründe für
diese bedeutende Rückständigkeit der Großstadt gegenüber dem Lande die
in ersterer so sehr vermehrte Berührung der Personen untereinander und
die ungünstigeren gesundheitlichen Allgemeinzustände der Großstadt an.
b) Statistik der Wehrfähigkeit in Stadt und Land.
Eine wertvolle Ergänzung des Bildes, welches wir durch die an der
Hand der Sterblichkeitsstatisik angestellten Vergleiche von dem Gegensätze
von Stadt bzw. Großstadt und Land erhalten, ergibt sich uns aus der Stati¬
stik über die Wehrfähigkeit in Stadt und Land.
Nach Notthaft 3 ) stand die Provinz Ostpreußen, welche vorzugsweise
eine ackerbautreibende Bevölkerung aufweist, mit 60 Proz. aller Ersatz¬
pflichtigen an Militärtauglichen an der Spitze der preußischen Provinzen;
die Provinz Brandenburg — wegen der darin liegenden Stadt Berlin —
l ) Schöneberg mit den niedrigen Sterbeziffern und der verhältnismäßig dichten
Bebauung macht hier eine Ausnahme.
*) Dr. A. Koder, Wodurch unterscheiden sich die Gesundheitsverhältnisse in
Großstädten von denen auf dem Lande? Deutsche Vierteljahrsschrift f. öffentliche
Gesundheitspflege 1902, S. 251.
®) A. a. O., S. 487. Notthaft entnimmt diese Angaben aus E. A. Schmidt’s
Jahrbuch., Jahrgang 1898.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
251
mit 41 Proz. an letzter Stelle. Schon 1870/71 hatte der vorherrschend
industrielle Kreis Waldenburg nur 20 Proz., der benachbarte Kreis Striegau,
mit vorherrschend landwirtschaftlicher Bevölkerung, 60 Proz. Taugliche.
Einer Tageszeitung entnimmt Notthaft, daß bei der Musterung von
1898 von den Gestellungspflichtigen im Mainzer Stadtbezirk 80 Proz.
zurückgestellt wurden; 15 bis 20 Proz. dieser Zurückgestellten hatten Herz¬
fehler. Von den Gestellungspflichtigen Nürnbergs waren 1897 33 Proz.
tauglich, 1898 nur noch 18 Proz.
Diesen allgemeineren Angaben lassen wir die eingehenden Vergleiche
Ballods 1 ) folgen. Um vor allem die Zahlen der Eingestellten nach ihren
Geburtsgebieten festzustellen, zieht er die seit langem vorhandene Statistik
über die Schulbildung der ins Heer Eingestellten heran. In Tabelle 7 stellt
Tabelle 7 (nach Ballod).
Relative Wehrfähigkeit industrieller und agrarischer Gebiete des
Deutschen Reiches.
Flächen¬
inhalt
qkm
1 Bevölke¬
rung in
Millionen
1895
i Eingestellte
1893/94
1894/95
1895/96
Auf
10 000 Be¬
wohner ein¬
gestellt (in
3 Jahren)
Deutsch es Reich . . .
540 657
52*28
759 986
145*3
a) Mehr industrielle Hälfte (der
Bevölkerung *).
174 469
2614
337 957
129*3
b) Mehr agrarische Hälfte (der
Bevölkerung).
366 078
I
26*14
422 029
161*5
«) Industriegebiete mit über
81‘4 Proz. industriell im
Handel und Verkehr Er¬
werbstätigen .
11*46
120 162 1
1
1 104-8
ß ) Agrargebiete mit über 65'5
Proz. landwirtschaftlich Er¬
werbstätigen .I
6*00
'
112 200
1
187*0
er Gruppen von Bewohnern aus Gebieten mit in verschiedenen Graden mehr
industrieller Bevölkerung und solche aus Gebieten mit mehr landwirtschaft¬
lich Erwerbstätigen zusammen. Er kommt auf Grund des Vergleiches zu
dem Ergebnis, daß beim Vorhandensein stärkerer Industrie die Verhältnis¬
zahl der Tauglichen einer Bevölkerung erheblich kleiner ist. So lieferten
nach Tabelle 7 die stärkst industriellen Gebiete des Deutschen Reiches
104*8, die stärkst landwirtschaftlichen 187 Eingestellte auf 10 000 der Be¬
völkerung; die letztere Verhältniszahl ist das 1*78 fache der ersteren.
Man hat sich die Frage vorgelegt, ob es bei Berechnung dieser Ver¬
hältniszahlen zulässig ist, die Zahl der Eingestellten mit der zur Zeit der
Einstellung vorhandenen Bevölkerungszahl in Beziehung zu setzen. In
Tabelle 8, welche die verschiedene Wehrfähigkeit einiger Provinzen
Preußens usw. anschaulich machen soll, sind zur Berechnung der Verhältnis-
1 ) A. a. O., S. 84.
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252
Th. Oehmcke,
Tabelle 8 (naoh Ballod).
Relative Wehrfähigkeit verschiedener Provinzen Preußens usw.
Eingestellte.
Es kommen Eingestellte
Mittel aus
auf 10 000 Bewohner der
1898/94, 1894/95
Gesamtbevölkerungszahl von
und 1895/96
1895
1875
Ostpreußen .
13 407
66*81
72*21
Westpreußen.
8 942
59*84
66*60
Brandenburg-Berlin.
17 801
39*57
56*94
Schlesien.
21 580
48*87
56*14
Rheinland.
23 432
45*89
61*60
Königreich Sachsen.
14 686
38*79
53*20
Reg.-Bez. Potsdam-Berlin . . .
10 952
32*90
52*99
Hamburg.
1 900
29*29
51*36
zahlen außerdem auch die zur Zeit des mittleren Geburtsjahres der Ein¬
gestellten vorhanden gewesenen Gesamtbevölkerungszahlen berücksichtigt.
Auch in dieser Tabelle zeigt sich eine Überlegenheit der agrarischen Pro¬
vinzen und Gebiete über die städtisch-industriellen und die Großstädte.
Bemerkenswerte Mitteilungen über die Militärtauglichkeit der Berliner
Bevölkerung macht Professor Sering-Berlin in den Verhandlungen der
XXX. Plenarversammlung des Deutschen Landwirtschaftsrates *). In seinem
ausgedehnten Berichte zu der Frage der Verschiedenheit der Wehrfähigkeit
der Bevölkerung des Deutschen Reiches äußert er sich auf Grund amtlicher
Statistik an einer Stelle wie folgt: „Verglichen mit Ost- und Westpreußen
liefert Berlin nur etwa halb so viele Taugliche auf das Hundert Abgefertigter,
und bei Hinzurechnung der zur Ersatzreserve Überwiesenen auf beiden
Seiten verschlechtert sich noch das Verhältnis. So wurden im Jahre 1900
— einschließlich der vor dem 20. Jahre Eingetretenen — für tauglich zum
Dienst in der Linie oder in der Ersatzreserve befunden in Berlin nicht ganz
40 auf das Hundert, in Ostpreußen mehr als 82. u
Sering fügt dieser Anführung hinzu, daß von 1893 und 1894 bis 1900
die Berliner Tauglichkeitsziffer Jahr für Jahr zurückgegangen sei, nämlich
von 45 und 39 Proz. in den Jahren 1893 und 1894 auf 32 Proz. in 1899
und 1900, und, wenn die der Ersatzreserve Überwiesenen eingerechnet
werden, von 59 und 53 auf 37 und 38 Proz.; erst das Jahr 1900 zeige einen
Stillstand gegen das Vorjahr.
Obwohl die Statistik der Wehrfähigkeit hiernach bedeutungsvolle und
unanfechtbare Tatsachen festgestellt hat, fehlten bisher unmittelbare Erhe¬
bungen über Herkunft und Beruf der Militärpflichtigen und Eingestellten.
Auf Anregung des Deutschen Landwirtschaftsrates hat der Herr Reichs¬
kanzler hierüber für das Jahr 1902 solche Erhebungen angeordnet. In der
Tabelle 8 a, welche sich auf jeüe Erhebungen bezieht, sind die Militärpflich¬
tigen in Gruppe I (auf dem Lande geboren) und in Gruppe II (in -der Stadt
geboren) getrennt. Jede Gruppe enthält, wie ersichtlich, je zwei Untergruppen.
*) Deutscher Landwirtschaftsrat: „Die Bedeutung der landwirtschaftlichen
Bevölkerung für die Wehrkraft des Deutschen Reiches.“ Berlin, Paul Parey, 1902.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
263
Tabelle 8 a
(nach der Denkschrift des Herrn Reichskanzlers betreffend die
Ermittelungen über die Herkunft und die Beschäftigung der beim
Heeresergänzungsgeschäfte des Jahres 1902 zur Gestellung gelangten
Militärpflichtigen)*).
Gruppen
Zahl
der
Taug¬
lichen
Von je 100
Tauglichen
kamen
auf jede
Gruppe
Von je 100
abgefertigten
Militärpflichtigen
jeder Gruppe
waren tauglich
L Auf dem I
Lande j
geboren !
( a) in Land- oder Forst¬
wirtschaft beschäftigt
[ b) anderweit beschäftigt
75 606
110 389
25*72
37*55
58*64
58*40
1. zusammen
185 995
63*27
58-50
II. In der |
Stadt
geboren 1
f a) in Land- oder Forst-1
Wirtschaft beschäftigt i
[ b) anderweit beschäftigt
!
10 697
97 263
3*64
33*09
5852
53-52
II. zusammen
1 107 960
36*73
53-97
I. und n. zusammen
293 955
100*00
56-75
Bemerkenswert ist es, daß nach der Tabelle zwei Drittel aller Ein«
gestellten vom Lande und nur ein Drittel aus der Stadt stammen. Die
Tauglichkeitsziffern von 58*50 Proz. (der auf dem Lande Geborenen) und
von 53*97 Proz. (der in der Stadt Geborenen) weichen nicht so stark von¬
einander ab, als man nach unseren bisherigen Betrachtungen erwarten
sollte. Die Ziffern würden erheblich mehr voneinander verschieden sein, wenn
die in den Land- und Kleinstädten Geborenen, deren Zahl etwa ein Viertel
der Zahl der Gesamtbevölkerung beträgt und welche den auf dem Lande
Geborenen an Militärtauglichkeit nur wenig nachstehen, nicht zur Gruppe II
gerechnet wären. Auch andere Verhältnisse (in ländlichen Industriegegenden
Geborene) sind hierbei zu berücksichtigen.
Für unsere Betrachtungen kommt in erster Linie der Gegensatz der
Tauglichkeitsziffern von Großstadt und Land in Frage. Dieser Gegensatz
tritt deutlicher in der ebenfalls durch die beregten Erhebungen für 1902
festgestellten Tatsache hervor, daß im III. preußischen Armeekorps, das die
Provinz Brandenburg mit Berlin umfaßt, die Tauglichkeit der in der Stadt
geborenen und anderweit beschäftigten Bevölkerung sich auf 41 Proz. gegen
61 Proz. der dort auf dem Lande geborenen und in Land- oder Forst¬
wirtschaft beschäftigten Bevölkerung ergibt.
Bei der erheblichen Überlegenheit der ländlichen und agrarischen Be¬
völkerung in bqsug auf Erstellung eines ausgiebigen Heeresersatzes erscheint
das schnelle und stetige Zurückgehen des Anteils der ländlichen Bevölke¬
rung an der Gesamtbevölkerung für die Machtstellung des Deutschen Reiches
nicht unbedenklich. Wenn auch, wie wir in Tabelle 5 gesehen haben, die
Sterblichkeit in den letzten Jahrzehnten in Stadt und Land erheblich ab-
l ) Reichstagsdrucksachen 1903/04.
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254
Th. Oehmcke,
genommen hat, so kann daraus, wie auch unsere Betrachtungen über die
Statistik der Wehrfähigkeit erkennen lassen, keineswegs gefolgert werden, daß
die körperliche Tüchtigkeit und die Militärdiensttauglichkeit zugenommen,
geschweige in demselben Maße zugenommen haben, denn die allerdings noch
wenig ausgebildete Krankheitsstatistik kann ganz andere Ergebnisse auf¬
weisen als die Sterblichkeitsstatistik.
Nachdem wir die Tatsache des Gegensatzes von Stadt und Land an
der Hand der Statistik erörtert haben, wollen wir in den beiden folgenden
Abschnitten versuchen, die Ursachen zu finden, welche diese Verschiedenheit
der körperlichen Gesundheit, sowie auch der geistigen Gesundheit und der
sittlichen Zustände in Stadt und Land hervorgebracht haben.
3. Abschnitt. Ursachen des Gegensatzes von Stadt und Land
in bezug auf die leibliche Gesundheit.
Wir werden mit der Behauptung kaum auf Widerspruch stoßen, daß
für das körperliche Wohlbefinden des Städters und insbesondere des Gro߬
städters ein etwas längerer Aufenthalt auf dem Lande meist von günstigen
Folgen begleitet ist. Unbewußt wohnt dem Stadtbewohner die Vorstellung
inne, daß er die in der dumpfen Luft der Straßen ermüdeten Sinne und die
in der Enge der Arbeitsstätte erschlafften Kräfte nur in der freien Natur,
im Sonnenschein und frischer Luft, in der Ausschau auf Wälder und Berge
zu erfrischen und zu heben vermag. Er sucht deshalb in seinen Feier¬
stunden auf Spaziergängen wenn irgend möglich außerhalb der Stadt Er¬
holung. An schönen Sonn- und Festtagen ergießen sich Scharen von
Erfrischungsuchenden, oft die Mehrheit der Einwohnerschaft, in die Um¬
gebung der Stadt. Zur Zeit der sommerlichen Ferien vollzieht sich die
Flucht aus der Großstadt in die mannigfaltigsten Sommerfrischen, in wald¬
reiche Orte, ans Meer, ins Gebirge, mit ähnlicher Naturgewalt, mit welcher
die steigende Industrie und der wachsende Verkehr die Flucht vom Lande
in die schnell anwachsenden Großstädte veranlassen.
In der Heilkunde gilt für die durch die Großstadt an ihrer Gesundheit
Geschädigten und für Genesende der Aufenthalt auf dem Lande als Allheil¬
mittel. Man schickt mit dem besten gesundheitlichen Erfolge Kinder mittel¬
loser städtischer Eltern zu vielen Tausenden in ländliche Ferienaufenthalte.
Man hält an dem Grundsätze fest, daß die neuerdings in so großer Zahl
errichteten Lungenheilstätten ihren Zweck nur dann erfüllen, wenn sie in
sorgfältig ausgewählter, ländlicher Lage sich befinden. Und trotz aller dieser
Tatsachen werden die gesundheitlichen Vorzüge des Landlebens von den
breiten Schichten der Bevölkerung doch noch lange nicht genug gewürdigt.
a) Klima.
Was zur Hochsommerzeit die Massenwanderung aufs Land veranlaßt,
ist die in der Stadt oft viel drückendere Hitze. Die Bewegung der Luft,
welche auf dem Lande die Hitze erheblich leichter ertragen läßt, wird in der
Stadt durch hohe Häuser, schachtartige Höfe und enge Straßen gehemmt und
eingeschränkt. Durch diesen Mangel an Luftbewegung wird die an sich schon
schwierigere Durchlüftung der Stadtwohnungen noch mehr erschwert, so
daß in heißen Zeiten auch in der Nacht in den Zimmern keine Kühlung
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
eintritt. Alle Umstände deuten nach Finkelnburg 1 ) und Wasserfuhr*)
darauf hin, daß die Überhitzung des kindlichen Organismus, wie sie in den
heißen Sommermonaten in den überfüllten, schlecht gelüfteten Wohnungen
der größeren Städte eintritt, neben der Ansteckung, eine Hauptursache der
daselbst dem Lande gegenüber so viel größeren Säuglingssterblichkeit bildet.
In größeren Städten ist die Temperatur im Winter höher; dafür ent¬
behrt man auf dem Lande auch in dieser Jahreszeit nicht des wohltätigen
Einflusses des Sonnenscheines, dessen Zutritt durch hohe Häuser in der
Stadt vielfach gehindert wird.
b) Luft.
Während wir die reine, geruchfreie Luft der Felder und die würzige
Waldluft angenehm empfinden, und durch sie unsere Atmung kräftig an¬
geregt wird, empfinden wir die Luft in den Städten öfter als unrein oder
gar mit widerlichen Gerüchen erfüllt, wodurch unser Wohlbehagen beein¬
trächtigt wird.
Man unterscheidet gasige Verunreinigungen der Luft und durch Staub
und Ruß veranlaßte. Die gasigen schädlichen Beimischungen der Stadtluft
im Freien und in den Wohnungen sind sehr vielfacher Art.
Durch die oft seit Jahrhunderten geübte, später noch zu besprechende
Verunreinigung des Untergrundes, und durch die Übersättigung des Stadt¬
bodens mit organischen Stoffen, werden der Luft sich mitteilende Fäulnis¬
gase, als Schwefelwasserstoff, Ammoniak und Grubengas, erzeugt. Ebenso
entstehen solche Gase in reicher Fülle durch die Fäkalstoffe der Hofgruben,
durch Abgänge des Haushaltes und durch gewerbliche Abgänge, wenn für
deren ordnungsmäßige Fortschaffung nicht genug gesorgt wird. Wie be¬
lästigend solche Luftverunreinigung werden kann, davon kann man sich u. a.
in den Hinterstraßen von Städten, in denen Kanalisation und Schlachthäuser
noch fehlen, unschwer überzeugen.
Werkstätten, Fabriken aller Art, darunter auch chemische Fabriken,
erzeugen in den Städten ebenfalls übelriechende und zudem noch ätzende
Gase. Die massenhaft verbrannte Steinkohle teilt der Luft beträchtliche
Mengen von schwefliger und Schwefelsäure, auch geringere Mengen von
Kohlenoxydgas mit. Nach Hüppe 3 ) enthielt die Luft in England in einer
Million Kubikmeter: auf dem Lande 474 g, in London 1670 g, in Manchester
2518 g und in der Nähe einer Fabrik daselbst 2668 g Schwefelsäure. Leucht¬
gas entweicht ebenfalls aus den nie ganz dichten Leitungen in nicht un¬
beträchtlicher Menge. Einer kräftigen Erneuerung und Reinigung der mit
allen diesen Gasen geschwängerten Stadtluft steht ihre durch die erwähnten
Umstände veranlaßte verhältnismäßige Bewegungslosigkeit im Wege.
Renk [nach Noder 4 )] sagt allerdings, daß trotz der kolossalen Mengen
von Gasen, welche unter Umständen der Luft übergeben werden, es nur in
den seltensten Fällen möglich sei, in der Luft der nächsten Umgebung des
Entstehnngsortes meßbare Mengen jener Gase aufzufinden. Renk will daher
l ) A. a. O., 8. 50.
•) A. a. O., 8. 195.
•) Handbuch, a. a. O., 8. 150.
4 ) A. a. O.
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256
Tb. Oehmoke,
die gesundheitsschädliche Wirkung der in der Luft im Freien enthaltenen
Fäulnis- und anderer Gase mehr dadurch erklären, daß durch die veran-
laßten schlechten Gerüche und durch Ekelerregung die Kraft und die Tiefe
des Atmens herabgesetzt und dadurch ungenügend werden.
Hüppe 1 ) (Handbuch, S. 149 ff.) nimmt aber an, daß die erwähnten
Gasbeimischungen neben der obigen Wirkung auch die Widerstandsfähigkeit
gegen Seuchen herabsetzen können. Sie griffen die Zellen des menschlichen
Körpers an, und ermöglichten oft erst einen wirksamen Angriff der An¬
steckungsbakterien. Es wäre, wie er sagt, die vielfach zu beobachtende
Vernichtung der Pflanzen durch Gehalt der Luft an schwefliger Säure ein
bemerkenswerter Fingerzeig für die Wirkung auf lebendes Protoplasma 3 ).
Was die durch die Atmungstätigkeit des Menschen in Innenräumen
veranlaßte Luftverschlechterung anbetriflt, so wird der zu messende Kohlen¬
säuregehalt der Luft dafür als Anzeiger angesehen. Nach Pettenkofer
gilt ein Kohlensäuregehalt von 1 Prom. als die für geschlossene Räume im
allgemeinen nicht zu überschreitende Grenze. Für gewöhnlich weist der
Kohlensäuregehalt der Luft im Freien in den Städten keine sehr merk¬
lichen Unterschiede gegenüber der auf dem Lande auf. Nach Rubner (bei
Noder) enthält die Stadtluft im Mittel 0*385, die Landluft 0*318 Prom.
Kohlensäure.
Nach dem Jahresberichte des Landesmedizinalkollegiums über das
Medizinalwesen im Königreiche Sachsen für das Jahr 1894 (Gesundheits-
Ingenieur 1896, S. 196) hatte die freie Luft in den Schulhöfen und Schul¬
gärten der Dresdener Volksschulen nicht 0*4 Prom., wie man gewöhnlich an¬
nimmt, sondern sie stieg nicht selten tfuf 0*7 bis 0*8 Prom. Nach sorgfältigen
Messungen schwankte der Kohlensäuregehalt in den Straßen und Plätzen
Dresdens zwischen 0*32 und 0*91 Prom. Nach Schneefall, bei ruhiger, kalter
Luft, ging er selbst in engen Straßen in den frühen Morgenstunden auf
0*32 Prom. herab. Im Sommer betrug er an milden Tagen mit ruhiger Luft
nur 0*38 bis 0*45 Prom. Bei stürmischer Witterung, welche das Aufsteigen
der Verbrennungsgase aus den Schornsteinen verhindert, nimmt er beträcht¬
lich zu und stieg er sowohl im Winter als im Sommer bis zu 0*91 Prom.
Als gesundheitlich viel bedenklicher wie die in der Stadtluft beob¬
achteten gasigen Verunreinigungen im Freien es sind, ist die durch Atmung
und Entwickelung schädlicher Gase herbeigeführte Luftverschlechterung der
geschlossenen Räume, insbesondere die der überfüllten städtischen Woh¬
nungen, anzusehen. Wenn ein Kohlensäuregehalt von 9 Prom. in der Luft
von Schulzimmern keine Seltenheit ist, wird man einen solchen in der Luft
überfüllter Privatwohnungen auch öfter antreffen. Sehr zur Luftverunreini¬
gung der Wohnungen trägt auch die durch Verschmutzung der Zwischen¬
deckenfüllstoffe erzeugte Entwickelung von Fäulnisgasen bei.
l ) Näheres darüber bringt Hüppe in „Bakteriologie und Biologie der Woh¬
nung“. Weyls Handbuch der Hygiene, 4. Bd., 8. 924 ff.
*) Nach Tagesblättern beabsichtigt die staatliche Forstverwaltung ihre in der
Nähe der südöstlichen Vororte Berlins belegenen Forsten zu verkaufen — oder hat
sie zum Teil schon verkauft —, da angeblich wegen der Bauch- und Gasentwicke¬
lung der dort befindlichen zahlreichen Fabriken, Eisenbahnen und des Dampf-
schiffsverkehres die Bäume dieser Forsten frühzeitigem Verderben ausgesetzt sind.
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267
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
Die Durchlüftung der Stadtwohnungen im Gegensätze zu der der Woh¬
nungen auf dem Lande ist durch den Umstand sehr beeinträchtigt, daß die
Räume der großen eingebauten städtischen Häuser durch die natürliche
Ventilation meist nur die bereits verdorbene Luft daranstoßender bewohnter
Räume erhalten. Auch die unbewegte Luft geschlossener Höfe ist zur Luft¬
versorgung für die daranliegenden Räume oft wenig geeignet. Ungünstig ist
es auch, daß in den großen Stadthäusern mit Massenwohnungen der für eine
ausgiebige Lüftung erforderliche Gegenzug meist nicht zu bewerkstelligen ist.
Man hat für die Gesundheitsgefährdung der Luft stark mit Menschen
besetzter Räume ein besonderes Atmungsgift verantwortlich gemacht. Wenn
es auch der Wissenschaft trotz sehr vieler Versuche bisher nicht gelungen
ist, dieses Gift aufzufinden, so dürfte dies doch wenig an der aus vielen
Erscheinungen und alten Erfahrungen hervorgehenden Tatsache der großen
Schädlichkeit solcher Luft ändern. Neben den bisher angenommenen, durch
Atmung und Ausdünstung erzeugten üblen Einwirkungen auf die Luft, hat
man neuerdings auch den Wasserdampfgehalt der Luft in Verbindung mit
der Erhöhung der Wärmegrade, welcher in mit Menschen besetzten Räumen
schnell ansteigt, hervorgehoben.
Die Schädlichkeit schlechter Luft für die Gesundheit wird von allen
Kulturvölkern, und meist schon seit geraumer Zeit, als feststehende Tat¬
sache angesehen.
Wir gehen nunmehr von den gasigen Verunreinigungen zu den im
Freien und in den Wohnungen vorkommenden Verunreinigungen der Stadt¬
luft durch den „Staub“ über.
Der Staub ist entweder grob (Teilchen vom Steinpflaster, von Baustoffen,
vom Straßenkehricht, von Lebensmittelresten, unverbrannte Kohlenteilchen
aus den Feuerungen usw.), so daß er mittels Besen zu entfernen ist, oder
er ist nur in der Form von Sonnenstäubchen sichtbar und ist organischer
Herkunft (Wolle, Baumwolle, Zusammenballungen von Mikroorganismen usw.).
Die kleinsten Formen der Mikroorganismen sind namentlich vereinzelt auch
als Sonnenstäubchen nicht mehr sichtbar, und sind nur durch ein Verfahren
als Sonnenstäubchen sichtbar zu machen. Unter den kleinsten Lebewesen
befinden sich auch die meist aus den mannigfachen Ausscheidungen des
Menschen herrührenden Ansteckungsträger der verschiedensten Krankheiten.
Diese Ansteckungsträger erfüllen die Stadtluft, wie schon im statistischen
Teil angedeutet wurde, in viel stärkerem Maße als die Landluft, welche in
gewissen Fällen sogar ganz frei von solchen Keimen sein kann.
Der diese Keime tragende Staub gelangt in die Wohnungen, indem er
durch die Fußbekleidungen, denen er anhaftet, oder durch Luftströmungen
oder Auf andere Weise in die Zimmer befördert wird. Er häuft sich auf
Fluren, Treppen und Laufgängen, namentlich der großstädtischen Riesen¬
häuser geringeren Ranges, deren Reinhaltung vielfach zu wünschen übrig
läßt, oft in großen Mengen an.
Vom Staube getragen, durch das Trinkwasser oder sonstwie finden die
Ansteckungskeime den Weg in den Menschen. Wie man annehmen kann,
wird für ihren dort oft verhängnisvollen Angriff der Boden durch die schä¬
digende Wirkung der auf die verschiedenste Weise entstehenden Fäulnisgase
und anderer Verunreinigungen der Atmungsluft erst vorbereitet.
Viertel jahrtBChrlft Ar Gesundheitspflege, 1904. iy
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258
Th. Oehmcke,
Die Ursachen, die wir für das Überwiegen der Ansteckungsgefahr in
der Stadt, dem Lande gegenüber, bereits erwähnt haben, nämlich die Ver¬
mehrung der Zahl der AnsteckungBkeime in Luft und Wasser durch das
Zusammendrängen der Menschen, sowie die vervielfachte gegenseitige Be¬
rührung der Menschen, machen sich in großstädtischen Riesenhäusern mit
ihrer zahlreichen Bewohnerschaft in sehr erhöht bedrohlicherWeise geltend.
Eine arge Verunreinigung erfährt die Stadtluft durch den Ruß und die
Aschenbestandteile der in größeren Städten massenhaft vorhandenen Kohlen¬
feuerungen. Zusammen mit den aus letzteren auch entstehenden, bereits
besprochenen gasigen Verunreinigungen, von deren Schädlichkeit allerdings
sehr die Schädlichkeit des Rußes übertroffen wird, bilden diese durch die
Feuerungen verursachten Verunreinigungen die Rauchplage der größeren
Städte.
Nähert man sich mit der Eisenbahn einer Groß- oder Industriestadt,
so wird man oft mit Beklemmung wahrnehmen, wie sich schon außerhalb
des Weichbildes der Stadt das Blau des Himmels in ein trübes Grau ver¬
wandelt, und wie das fahle Sonnenlicht kaum den mit mißfarbenen Wolken
der verschiedensten Töne erfüllten Luftkreis zu durchdringen vermag.
Aus einer vom Deutschen Verein für öffentliche Gesundheitspflege 1899
bei den Verwaltungen aller deutschen Städte von über 15 000 Einwohnern
veranstalteten Umfrage geht hervor 1 ), daß etwa ein Fünftel bis ein Viertel
dieser Städte unter Rauchbelästigungen in mehr oder minder hohem Grade
zu leiden haben. Da dies gerade bei den großen und größeren Städten der
Fall ist, darf schätzungsweise angenommen werden, daß etwa die Hälfte der
Städtebewohner im Deutschen Reiche und die weitaus bedeutendste Mehrzahl
der Großstädter unter Rauchbelästigung zu leiden haben, mit welcher, wie
vorher erwähnt, vielfach eine Belästigung durch den Gehalt der Luft an
schwefliger Säure und an anderen ätzenden oder giftig wirkenden Gasen
verbunden ist.
Der Grad der Belästigung hängt nach jener Umfrage von der Art der
verbrauchten Kohle ab. Von allen Gewerbebetrieben tragen die Klein¬
betriebswerkstätten (namentlich Bäckereien) zu den Klagen etwa viermal so
viel bei wie die Kesselfeuerungen. Ein recht bedeutender Anteil fällt auch
den häuslichen Feuerstätten dann zur Last, wenn an einem Orte Kohlen¬
beschickung die Regel bildet. In Berlin ist infolge der dort gebräuchlichen
Brennmaterialien die Rauchplage eine verhältnismäßig geringere als in ver¬
schiedenen anderen deutschen Großstädten.
Der Aufenthalt in Städten mit massenhaften Steinkohlenfeuerungen
vermehrt nach Finkelnburg 2 ) erheblich die Zahl der Erkrankungen an
Luftröhrenentzündung und an Lungenkatarrh. Die Sterblichkeit an diesen
Krankheiten war 1875 bis 1879 — sowohl im ganzen preußischen Staate
(siehe auch Tabelle 2) wie in der Rheinprovinz — in den Stadtgemeinden
um mehr als das Doppelte größer als in den Landgemeinden. In den
großen Industriestädten, z. B. Essen, Bochum, Duisburg, Dortmund, stieg sie
*) Nußbaum, „Die Rauch belästigung in deutschen Städten. 4 D. Viertel¬
jahrsschrift f. öffentliche Gesundheitspflege 1900, S. 562.
f ) A. a. O., S. 43
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259
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
zu der ganz außerordentlichen Höhe des 10- bis 13 fachen der bezüglichen
Durchschnittssterblichkeit der Landgemeinden der Rheinprovinz.
Jene große Zunahme der Sterblichkeit an Luftröhrenentzündung und
Lungenkatarrh in den Hauptstätten des industriellen Kohlenverbrauches
betrißt nun aber beide Geschlechter annähernd in gleichem Maße. Es han¬
delt sich daher nicht, wie bei der Lungentuberkulose, wesentlich um Ein¬
flüsse der Beschäftigung, sondern jedenfalls auch um solche des bloßen
Aufenthaltes in den betreffenden Städten.
c) Die Nebel.
Nicht zufällig ist es, daß mit einer Vermehrung der Rauchplage in den
Großstädten ein Häufigerwerden der Nebel einhergeht.
A. und H. Wolpert 1 ) äußern sich über Nebelbildung folgendermaßen:
„Nach den Untersuchungen, die Aitken und v. Helmholtz 1886 über
Nebelbildung angestellt haben, kann nur an festen oder flüssigen Körpern
und in der freien Atmosphäre nur dort, wo die Luft bereits mit festen oder
flüssigen Teilchen geschwängert ist, ein weiterer Niederschlag sich bilden.
Die Sättigung der Luft mit Wasserdampf ist weder die notwendige noch die
hinreichende Voraussetzung für die Nebelbildung; denn einerseits ist es
möglich, gesättigte Luft unter den Taupunkt abzukühlen, ohne daß sich
Feuchtigkeit niederschlüge, wenn ihr nämlich Staubkerne mangeln;
andererseits gibt es Nebel, die den Luftkreis auch dann noch erfüllen, wenn
dieser nicht mehr vollständig gesättigt ist. tf London hat jährlich mindestens
30 bis 50 Nebeltage; die meisten im Winter.
Nach Rubner gab es vom Dezember bis Februar in London: 1870 bis
1875 93, von 1875 bis 1880 119, von 1880 bis 1885 181 und von 1885
bis 1890 156 Nebel.
Nach demselben Schriftsteller erkennt man auch in Hamburg die Wir¬
kungen der Großstadt auf die Erzeugung von Nebeln; es hat jährlich 126
Nebeltage, Helgoland 39 und Sylt 43. Die Nebel sind in den Städten nach
Rubner viel häufiger als auf dem Lande, im Winter häufiger als im Sommer.
Sie werden namentlich Personen von zarter Gesundheit schädlich. Sie
machen die Kälte in erhöhtem Maße empfindlich.
d) Das Liebt.
Rauchentwickelung und Nebel vermindern die Wirkung des Sonnen¬
scheines in den Städten. Für das Land ist vielfach die mehrfache Zahl
von Sonnenscheinstunden im Jahr von der der Großstädte festgestellt worden.
Überdies wird in der Stadt der Zutritt von Licht und Sonnenschein durch
die Enge der Straßen und Höfe und die Höhe der Häuser beschränkt. Es
gibt in den Großstädten zahlreiche Wohnungen an Höfen, in Hintergebäuden
und Kellern, die ohne Sonnenschein sind.
Die unmittelbar wohltätige Wirkung des Sonnenscheines auf die Sinne
und das Gemüt ist bekannt. Die Sonnenstrahlen sind, vermöge ihrer keim¬
vernichtenden Kraft, für die Reinigung der Luft, des Wassers und des Bodens
von Ansteckungsbakterien unersetzbar. Sonnenschein und Wärme gehen in
l ) A. und H. Wolpert, »Theorie und Praxis der Ventilation und Heizung*.
4. Aufl., Bd. H, 8. 61.
17*
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260
Th. Oehmcke,
ihrem Auftreten miteinander einher. Sonnenbeschienene Wände sind trocken
und porig, befördern daher sowohl die natürliche Ventilation der Wohnräume,
als sie wegen dieser Trockenheit und Porigkeit schlechte Wärmeleiter sind
und einen besseren Kälteschutz gewähren als sonnenlose und feuchte Wände.
Der Italiener sagt daher mit rollern Rechte: Dove non va il sole, ya il
medico; wo die Sonne nicht hinkommt, kommt der Arzt hin.
Die häufige Lichtlosigkeit der städtischen Wohngelasse verursacht eine
Schwächung des Sehvermögens. Wasserfuhr äußert sich hierzu wie folgt:
„Dieser Schaden ist gerade für unsere Nation besonders hoch zu veran¬
schlagen, weil sich dieselbe ohnehin durch Schwachsichtigkeit in bedauer¬
licher Weise vor ihren Nachbarvölkern auszeichnet. Nirgends trifft man so
viele Personen jeden Alters, männliche und weibliche, welche Brillen und
Kneifer tragen, wie in Deutschland, und wenn man im Auslande einem Herrn
oder einer Dame mit dergleichen Instrumenten über der Nase begegnet,
spricht die Vermutung immer dafür, daß man es mit Deutschen zu tun habe. tf
e) Boden und Wasser.
Die Verunreinigung, des Bodens in den Städten haben wir bei Be¬
sprechung der gasigen und der staubförmigen Luftverunreinigungen bereits
berührt. Nach Blasius, erwähnt in Weyls Handbuch der Hygiene (Städte¬
reinigung), entfallen an menschlichen und tierischen Abfällen, an Haus- und
Straßenkehricht, sowie an festen gewerblichen Abfällen, was alles aus der
Stadt zu entfernen ist, ausschließlich Abwässer, auf jeden Bewohner Braun-
schweigs jährlich 890kg, in festem, wasserfreiem Zustande etwa 279kg.
Die Entfernung der Abfallstoffe geschah früher fast allgemein in allerunvoll¬
kommenster Weise. Wie man an der Einsenkung der Fußböden älterer
Kirchen in das umliegende Gelände sehen kann, hat sich durch die all¬
mähliche Anhäufung der Abfallstoffe dieses Gelände in den Städten meist
sehr erheblich erhöht.
Organische Stoffe, die den Hauptinhalt der städtischen Abfälle bilden,
gehen bei genügendem Zutritt von Sauerstoff in Verwesung über, ist aber
der Luftzutritt ungenügend, so geraten sie in Fäulnis. 1 ha Boden ist im
Stande, die Abfallstoffe von 80 Menschen in der oben pro Kopf angegebenen
Menge zur Verwesung zu bringen oder zu mineralisieren. Da aber in den
dichtbebauten Städten 800 und darüber Einwohner auf 1 ha kommen, wird
in den Städten meist nicht Verwesung, sondern Fäulnis der für die Verar¬
beitungskraft des Bodens zu großen Menge der organischen Stoffe eintreten.
Es bleibt nicht allein bei der, oft bis in größere Tiefen gehenden,
Durchsetzung des Bodens mit faulenden Stoffen. Durch Tageswässer be¬
wirkte Auslaugungen der faulenden Stoffe verunreinigen auch das Grund¬
wasser, die Flachbrunnen und die Wasserläufe. In diese finden aber auch
von den Bewohnern ausgestreute Ansteckungskeime ihren Weg und ist die
Verbreitung derselben durch das Wasser viel bedrohlicher als die durch
die Luft.
In den größeren Städten sind allerdings, im Vergleiche zu früher,
merkliche Fortschritte in der Beseitigung der Abfallstoffe gemacht worden.
Auch für die Reinigung des durch die frühere Nichtbeseitigung verunrei¬
nigten Untergrundes ist in zahlreichen größeren Städten namentlich durch
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261
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauuug.
Kanalisation löbliches erreicht worden. Wo Kanalisation durcbgeführt ist,
ist die Typhussterblichkeit außerordentlich eingeschränkt und nicht selten
schon geringer als anf dem Lande geworden.
Auch die Trinkwasserverhältnisse sind infolge Ausführung von Wasser¬
werken in zahlreichen Städten einwandsfreier geworden, als sie anf dem
Lande sind.
f) Städtische und ländliche Lebensweise.
Wir können die Verschiedenheit des vielfach ausschlaggebenden Ein¬
flusses der städtischen Berufe einerseits und der ländlichen andererseits als
außerhalb des Rahmens, den wir uns gestellt haben, liegend, nur flüchtig
andeuten. Der Stadtbewohner ist im allgemeinen, wie erwähnt, durch seinen
Beruf, im Gegensatz zum Landmann, auf geschlossene Arbeitsstätten mit oft
durch Menschenansammlung verdorbener Luft angewiesen. Es fehlt ihm
vielfach auch die für die Gesundheit unentbehrliche Muskelübung, sowie die
berufsmäßige Veranlassung, sich gegen Witterungsverhältnisse abzuhärten.
Nicht wenige städtische Berufe erzeugen ausschließlich eine Ermüdung des
Gehirnes und des Nervensystemes J ). Der Städter hat seinen Beruf meist in
genau einzuhaltenden Arbeitszeiten oft in fliegender Hast, oder mit spekula¬
tiver Tätigkeit verbunden, zu erledigen, während der Landmann seinem
allerdings schweren Berufe großenteils mit mehr Gemächlichkeit nachgeht.
Die nicht vom Berufe abhängige Lebensweise, wie sie allein durch das
Wohnen, den Aufenthalt in Stadt oder Land als solchem bedingt wird, haben
wir hier etwas näher zu betrachten. Es übt die Verschiedenheit dieser
durch das bloße „Wohnen“ in der Stadt oder auf dem Lande bedingten
Lebensweise ebenfalls eine gegensätzliche Wirkung auf unsere Gesundheit
aus. Das ländliche Wohnen veranlaßt uns allein schon zti einem vermehrten
Aufenthalte im Freien und zu einer ausgiebigen Betätigung im Freien.
Männer und Frauen setzen sich auf dem Lande mehr den Witterungs-
einflüssen aus und bleiben im Gegensätze zu den Stadtbewohnern, die leichter
der Verweichlichung anheimfallen, wetterhart. Wenn auch der Landbewohner,
z. B. der städtische Vorortbewohner, nicht zugleich Landbebauer ist, hat er
doch leichter als der Stadtbewohner Gelegenheit und Veranlassung, sich mit
Gartenarbeit zu beschäftigen und sich auch sonst abzuhärten. Abgehärtet¬
sein deckt sich nun aber in umfassender Weise mit Gesundbleiben.
Von erheblichem Einflüsse auf die Gesundheit sind bei den Angehörigen
der gebildeteren Klassen die gegensätzliche Lebensanschauung und Lebens¬
gewöhnung in Stadt und Land. Die Befriedigung ihrer mehr und mehr
verfeinerten und vergeistigten Lebensbedürfnisse verzärtelt die Stadt¬
bewohner, Männer wie Frauen, oft und läßt sie zur Entwickelung ihrer
körperlichen Leistungsfähigkeit im allgemeinen meist in geringerem Grade
kommen, als dies bei den Landbewohnern der Fall ist, welche vermöge der
Befriedigung ihrer vielfach derber gestalteten Lebensbedürfnisse doch mehr
auf die Übung und Stählung des Körpers hingewiesen werden.
Gesundheitlich nachteilig wirkt auch der städtische Lärm, der sich
namentlich in der Großstadt bei Gesunden und Kranken oft bis zur Uner¬
träglichkeit steigert. Der Stadtbewohner ist vorwiegend auf gesellige Zer-
l ) Vgl. Bubner, Hygienisches von Stadt und Land.
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262
Th. Oehmcke,
Streuungen angewiesen, die auf stärkere Nervenerregung hinauslaufen. Der
häufigere Wirtshausbesuch der Stadtbewohner, der zu diesen Zerstreuungen
gehört, ist für die Gesundheit schädlich.
Wie günstig Wohnungen mit freier Umgebung auf die Wahl einer
gesundheitsgemäßeren Art der Zerstreuung in den arbeitsfreien Stunden
und auf Gewöhnung des Volkes an Betätigung im Freien, an Bewegungs¬
spiele u. dgL einwirken, zeigt uns das Beispiel Englands. Dort wird z. B.
bei neueren, in freier Umgebung liegenden Arbeiterhausanlagen die Anlage
eines Fußballplatzes meist als festes Erfordernis angesehen, und wird ein
Fabrikherr die Herrichtung eines solchen Platzes beim Neubau solcher
Arbeiterhausanlagen in seinem eigensten Interesse kaum unterlassen.
Die gesundheitlichen Vorzüge ländlichen Wohnens machen sich für das
Kindesalter in besonders erhöhtem Maße geltend. Körper und Sinne bilden
sich kräftiger aus, und ist außerhalb der Stadt wohnenden Kindern viel eher
eine frische, fröhliche Jugendzeit gewährleistet als den Stadtkindern. Die
Kinder gedeihen in ländlichen Wohnungen meist von selbst, während dies
Gedeihen in den eng gebauten Teilen größerer Städte trotz vieler kost¬
spieliger Aufwendungen (Spazierenführen der Kinder u. dgl.) doch öfter zu
wünschen läßt.
Dihses bessere körperliche Gedeihen der Kinder ist auch als Haupt¬
beweggrund für den immerhin schon beachtenswerten Zuzug von Bewohnern
aus der Stadt anzunehmen, dessen sich z. B. die Vororte Berlins zu er¬
freuen haben.
4. Abschnitt. Wirkung des Gegensatzes von Stadt und Land
auf die geistige Gesundheit und die sittlichen Zustände.
Wir besprechen die geistige Gesundheit hier gesondert, obwohl sie zu
einem großen Teile auf der leiblichen Gesundheit ihre Grundlage hat. Mens
sana in corpore sano. Vieles, was unter dem landläufigen Ausdruck „geistige
Gesundheit“ verstanden wird, ist leibliche Gesundheit.
Das Leben in größeren Städten wird durch ein viel größeres Maß von
geistigen Eindrücken, denen wir durch deu äußeren Verkehr, durch die
Beziehungen zu einer großen Anzahl von Menschen ausgesetzt sind, gekenn¬
zeichnet. Namentlich in Großstädten wird dies Maß leicht zu einem Über¬
maß. Auf dem Lande kann, zumal in den breiteren Volksschichten, von
einem solchen Übermaß kaum gesprochen werden. Das ländliche Wohnen
bringt vielmehr den Menschen der Natur näher und gestattet eine gesunde
Betätigung der Sinne. Das Ansohauen und Verfolgen der Vorgänge in der
Natur sind unserem Gemüt wohltuend und fördern das Gleichgewicht unserer
Seelenkräfte.
Das Leben in ländlichen Orten, die Beschäftigung in Garten und Feld
begünstigen in uns die Verfolgung näher liegender, praktischer Lebensziele
und behüten unsere Einbildungskraft davor, sich in unerreichbaren Plänen
zu ergehen.
Dem Stadtbewohner bieten sich nach der Tagesarbeit Genüsse und
Anregungen in Fülle, als Konzerte, Theater usw., dar. Da aber schon die
Tagesbeschäftigung oft einseitig geistig ist, werden diese mit geistiger Er¬
regung verbundenen abendlichen Genüsse nicht selten die geistige Ermüdung
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Gesundheit und weiträumige St&dtbebauung. 263
in schädlichem Grade steigern und dem Städter dauernde Nervosität ein¬
tragen.
Nervenschwäche ist aber gleichbedeutend mit Herabsetzung der geistigen
Leistungsfähigkeit, und nähert sich stufenweise einer ernsten Krankheit.
Nach Tabelle 2 war 1877 die Sterblichkeit an Gehirnkrankheiten in Preußen,
wie bereits erwähnt, in den Städten bei Männern und bei Frauen mehr als
dreimal so groß als auf dem Lande. Wenn nun auch dies Überwiegen der
Geisteskrankheiten bei den Stadtbewohnern vielfach auf die Wirkung der
geistig aufreibenderen städtischen Berufe zurückzuführen sein mag, wird
auch ein guter Teil dieses Überwiegens der ungünstigeren Lebens- und
Wohnweise der Stadtbewohner zur Last zu legen sein. Zeigen doch für
diese Geisteskrankheiten die Sterbezahlen der städtischen Frauen, bei denen
die Einwirkung der Berufe zurücktritt, wie schon früher erwähnt, das gleich
ungünstige Bild wie die Sterbezahlen der städtischen Männer.
Von großem Einflüsse auf die geistige Gesundheit sind die zum Teil
voneinander verschiedene äußere Sitte und die sittlichen Zustände in
Stadt und Land. Das Verhältnis der Menschen zur äußeren Sitte und auch
zur Sittlichkeit wird merklich durch den Umstand beeinflußt werden, daß
die Bewohner auf dem Lande und in kleinen Städten in geschlossenen
Kreisen von geringem Umfange leben, innerhalb deren einer den anderen
genau kennt und einer sich von dem Urteil und Beifall des anderen auf
Schritt und Tritt bestimmen läßt, während dieser Umstand bei den Gro߬
stadtbewohnern viel mehr zurücktritt, die sich meist leicht der Beobachtung
und der Beeinflussung durch ihre Nachbarn usw. entziehen können.
Eine Bestätigung letzterer Ansicht finden wir bei Hansen 1 ), welcher
eine in lebhafter Darstellung gehaltene Auslassung Alexander v. Öt-
tingens aus dessen Moralstatistik wie folgt wiedergibt:
„Nach ihm (Alexander v. Öttingen) neigt zwar die ländliche Be¬
völkerung lange nicht in so hohem Grade, wie die städtische, zur Prosti¬
tution, zum Verbrechen und zum Selbstmord; sobald sie aber die Tore der
Stadt hinter sich hat, ändert sie ihren Charakter vollständig/ Alexander
v. öttingen kennt auch den Grund. „Wo kein bindendes Interesse der
Liebe vorhanden“, so sagt er, „da ist die Gefahr des Verbrechens eine
doppelte und dreifache. Der heiße Schmerz über die Verletzung der Nahe¬
stehenden ist selbst für den Gottlosen ein bewahrendes Moment. Daher
auch in den großen Städten die kolossale Kriminalbeteiligung solcher, die
an Ort und Stelle fremd, nicht ansässig sind. Das psychologische Motiv
ist ein ähnliches, wie bei der Prostitution. Niemand kümmert sich um
meine Ehre in dem wüsten Menschengetriebe: so gehe ich denn meinen
Weg ohne alle Rücksicht fort.“
Die sozialen Mißstände in den Großstädten nach einer der in vor¬
stehender Anführung angedeuteten Richtungen finden in den Zahlen der
Tabelle 9 einen sprechenden Ausdruck. Danach beträgt die Erkrankungs-
ziffer an Geschlechtskrankheiten für die Hauptstadt Kopenhagen das 47 fache
von der für das platte Land Dänemarks. Wenn diese Mißstände auch
Torwiegend das Gebiet der „leiblichen“ Gesundheit berühren, wird ihnen
*) A. a. O., 8. 196.
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264
Th. Oehmcke,
Tabelle 9.
Für Dänemark, wo Anzeigepflicht für Geschlechtskrankheiten
besteht, wird folgende Statistik in der Deutschen Vierteljahrsschrift
für öffentliche Gesundheitspflege 1898, 8. 530, von Dr. Martin Brasch
mitgeteilt:
ln den Jahren von 1874 bis 1885
erkrankten:
| pro Mille der Einwohnerzahl, jährlich
an Geschlechts¬
krankheiten
davon Syphilis
in Kopenhagen.
29*02
416
in den Provinzen.
1*36
0*24
in den größeren Provinzialstädten ....
5*16
0*80
auf dem platten Lande.
0-62
014
doch auch ein wesentlicher Einfluß auf die geistige Lebensluft einer Stadt
und auf die geistige Gesundheit ihrer Bewohnerschaft zuzusprechen sein.
Brasch hat die Zahl der in dem Jahre 1890 in Berlin vorgekommenen
Erkrankungen an Gonorrhoe auf 30 000 bis 36 000 (2 bis 2*4 Proz. der Be¬
völkerung) berechnet. Die Zahl der in einer bestimmten Reihe von Jahren
daran erkrankt Gewesenen ist sehr viel größer und ist sie ein großer
Bruchteil, namentlich der Zahl des lebenden männlichen Zeitgeschlechtes,
einer Großstadt. Nach Nöggerath werden die Erkrankungen an Gonorrhoe
vielfach nur scheinbar geheilt, und haben sie dann großenteils verhängnis¬
volle Folgen für das Familienleben und die Nachkommenschaft der hieran
erkrankt gewesenen 1 ). Nach Blaschko beträgt für Berlin die entsprechende
Zahl der Erkrankungen an Syphilis 5000 (4 pro Mille der Bevölkerung).
Das häufige Sichtbarwerden der durch diese Zahlen in ihrer großen
Ausbreitung gekennzeichneten Prostitution in der Öffentlichkeit und ihres
Treibens im öffentlichen Verkehr wird auch für die heranwachsende Jugend
der Großstädte nicht selten von bedenklichem Einfluß werden.
Man könnte fragen, welchen Zusammenhang unser Eingehen auf die
eben erwähnten sozialen Mißstände der Großstädte mit der Erörterung
unseres Themas: „Dichter und weiträumiger städtischer Anbau“ habe. Man
kann antworten, daß lichte, weiträumig gebaute, schlupfwinkelfreie Stadt¬
teile, namentlich locker und luftig angelegte Vororte mit gut geordnetem
Wohnungswesen, auch in bezug auf die Einschränkung der eben gekenn¬
zeichneten sozialen Übel eine entschiedene Überlegenheit über die dicht¬
bebauten Großstadtviertel mit ihren Riesenhäusern und Massenwohnungen
besitzen.
Wir können nicht umhin, noch eine soziale Erscheinung, die in den
Großstädten unvorteilhaft auffällt, nämlich das Überwiegen der Zahl der
unehelichen Geburten gegenüber dem platten Lande, zu berühren. Wir
tun dies allerdings weniger aus dem Grunde, weil dieser Mißstand gerade
besonders mit unserem Thema zusammenhinge, als vielmehr, um auch das
allgemeine Bild, das wir bisher von dem Gegensatz von Stadt und Land
gewonnen haben, an dieser Stelle wenigstens etwas zu vervollständigen.
l ) Dr. Löblowitz, „Frauenasyle“. Deutsche Vierteljahrsschrift f. öffentl.
Gesundheitspflege 1900, S. 567.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
265
Die Zahl der unehelichen Geburten wird von zahlreichen Schriftstellern
weniger als Gradmesser für die Sittlichkeit, als vielmehr als Kennzeichnung
gewisser, innerhalb einer Bevölkerung bestehender sozialer Verhältnisse
aufgefallt.
Tabelle 10.
Die Zahl der unehelichen Geburten
betrug l ):
im Jahre
Prozent
der ehelichen
Preußen.
1878
745
Westfalen.
1879
2*64
Deutsches Reich.
1878
8*58
Berlin .
| 1871?
15-40
Breslau.
1868 bis 1874
18*57
Hamburg.
1871?
13*85
Nach Tabelle 10 übertrifft der Vomhundertsatz der unehelichen Ge¬
burten deutscher Großstädte erheblich den Durchschnitt Preußens und des
Deutschen Reiches. Noch viel stärker zeigt sich dieser Gegensatz zwischen
Paris und ganz Frankreich. Nach Lagneau, erwähnt bei Ballod, a.a. 0.,
gab es im Jahre 1886 in Frankreich 91*5 Proz. eheliche und 8*5 Proz. un¬
eheliche Kinder, in Paris 72*4 Proz. eheliche und 27*6 Proz. uneheliche
Kinder.
Aus der vorstehenden Erörterung einiger unerfreulicher Erscheinungen
der Großstadtverhältnisse möge nicht selbst für die Großstädte gefolgert
werden, daß die allgemeine Sittlichkeit zurückgegangen sei. Sehr beachtens¬
werte Forscher (Hüppe, Handbuch. S. 654) führen an, daß für Mitteleuropa
im letzten Jahrhundert sogar ein durchschlagender Fortschritt in der all¬
gemeinen Sittlichkeit zu verzeichnen sei.
Was insbesondere das der Bevölkerung der Großstädte innewohnende
große Maß von geistigem Können, dessen sie zur Erfüllung ihrer erweiterten
Aufgaben so sehr bedarf, betrifft, so führen wir eine diesbezügliche Aus¬
lassung Professor Eulen bürg s an, worin er der geistigen Bedeutung der
Großstadtbevölkerung ein hervorragend hohes Maß zuweist, und worin er
unter anderem der Ansicht entgegentritt, als ob die Großstädte nur Orte
Bind, in denen eine große Zahl von Kleinstädtern wohnen 3 ). Er sagt:
„„Denn, indem eine Masse von Kleinstädtern in einer Großstadt zusammen¬
wohnt, wird aus ihnen durch Luft und Umgebung, durch den genius loci,
vor allem aber durch die gegenseitige Beeinflussung unmerklich etwas ganz
anderes, etwas — in gewissem Sinne wenigstens — intellektuell Über¬
legenes: eben die „Großstadtbevölkerung u mit ganz auderen Welt- und
Lebensanschauungen, mit viel weiteren Horizonten, weiter gesteckten Zwecken
und Zielen und vor allem mit weiter reichenden Mitteln zu ihrer erfolg¬
reichen Durchführung.““ Wir halten die Anführung dieser Worte Eulen-
burgs für eine notwendige Ergänzung zu unseren vorherigen Erörterungen
1 ) Nach Hanshofer, Lehrbuch und Handbuch der Statistik. Wien 1882.
*) „Nervenhygiene in der Großstadt“, Vortrag Prof. A. Eulenburgs, ge¬
halten auf Veranlassung des Deutschen Vereins für Volkehygiene. Zeitschr. »Die
Woche“, 1902, Nr. 9.
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266
Th. Oehmcke,
und behalten uns vor, auf die Bedeutung der Städte und Großstädte für den
menschlichen Fortschritt noch des näheren zurückzukommen.
Wie wir die Vorzüge ländlichen Wohnens für die körperliche Gesund¬
heit, besonders der Kinder, haben hervorheben können, so können wir dies
auch bezüglich der geistigen Gesundheit tun. Die Überfülle der geistigen
Eindrücke des Stadtlebens und die dauernde geistige Beanspruchung be¬
lasten wohl nicht selten die Tragkraft des noch nicht gefestigten Fassungs¬
vermögens des Kindes übermäßig, und beeinträchtigen manchmal durch
Überspannung die Schnellkraft des kindlichen Geistes für lange Zeit. Der
Geist des in stillerer, ländlicher Umgebung sich langsamer entwickelnden
Kindes wird eher ein festes Gefüge erhalten, und wird er den Angriffen des
späteren Lebens sich öfter als widerstandsfähiger erweisen, als der des Stadt-
und des Großstadtkindes.
Viele Dinge in der Natur, die dem Kinde und der heranwachsenden
Jugend auf dem Lande durch unmittelbare Anschauung früh geläufig werden,
lernt das Kind, namentlich das der unbemittelten Stände, der Großstädte
meist nur mangelhaft und in späteren Jahren kennen. Der Mangel der
Anschauungen von den Dingen der Natur, welche der unerläßliche Unterbau
für ein gesundes Fühlen und Denken sind, wird durchaus nicht ganz beim
Stadtkinde durch die im allgemeinen bessere Schulbildung, welche es emp¬
fängt, und durch die Vertrautheit mit den Verhältnissen des städtischen
Lebens, ausgeglichen.
Hansen spricht sich über diesen Mangel der Anschauung der Dinge
und der Vorgänge in der Natur und auch über die dem Stadtkinde minder
gebotene Gelegenheit, die Verhältnisse der menschlichen Gesellschaft zu¬
treffend kennen zu lernen, auch aus. Er sagt 1 ): „Sodann herrscht, trotz
der Gleichartigkeit der Beschäftigung, unter den Bauern keine Konkurrenz.
Der Gewinn des einen ist nicht der Verlust des anderen“ usw. . . . „Es ist
klar, daß ein Kind, das in solcher Umgebung aufwächst, vieles vor dem
Stadtkinde voraus hat. Statt der vier Wände des Kinderzimmers hat es
Wald und Feld; ihm brauchen nicht Spielwarenkästen und Bilderbücher eine
kümmerliche Vorstellung von den lebendigen Geschöpfen zu geben“ usw.. . .
„Dazu kommt das Leben im Dorfe. Die Einwohnerzahl ist nicht so groß,
daß nicht ein jeder alle Dorfgenossen kennen lernen könnte. Und nicht
bloß oberflächlich, sondern durch häufige Berührung in den verschiedensten
Beziehungen, in Freude und Trauer, in Liebe und Haß. Wer aber hundert
Menschen gründlich kennt, der kennt sie alle, der kennt die Menschen über¬
haupt. Das Stadtkind dagegen sieht zwar in einer Stunde vielleicht mehr
Menschen, als das Dorfkind im ganzen Jahr. Aber was sieht es von ihnen?
Eilig und gleichgültig hastet alles aneinander vorüber, ohne daß einer sich
um den andern kümmert.“
Was den Einfluß des Berufes auf die geistige Gesundheit betrifft, so
haben wir zur Ergänzung des schon im vorigen Abschnitte Angedeuteten
nur wenig hinzuzufügen.
In den städtischen Berufen gibt es, wie erwähnt, meist bestimmte,
genau einzuhaltende Arbeitszeiten; ohne solche wären die Aufgaben derVer-
l ) A. a. 0., 8. 162 ff.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
267
waltung und des Handels nicht zu lösen. Durch scharfe geistige Anspannung
sollen hier oft sogleich sichtbare Erfolge erzielt werden, während der Landmann
auf Erfolge hinarbeitet, die oft erst nach langen Fristen eintreten sollen.
Während die geistige Tätigkeit im ländlichen Berufe meist dem eigenen
Betriebe gilt, bei dem das Maß der Leistung sich von selbst nach dem
Maße der Leistungsfähigkeit regelt, handelt es sich in den städtischen Be¬
rufen viel öfter um eine Tätigkeit „nicht u im eigenen Betriebe, sondern als
„Angestellter“ 1 ). Bei letzterer Tätigkeit muß sich umgekehrt das Maß der
Leistung nach den von „anderen" festgesetzten Anforderungen eines meist
zahlreiche Menschen umfassenden, kunstreich zusammengesetzten Betriebes
richten. Hierbei können die Anforderungen nicht immer so abgewogen
werden, daß sie nicht oft dauernd den Einzelnen erheblich über seine natür¬
liche Leistungsfähigkeit hinaus belasten und diese vorzeitig untergraben.
Kapitel HL Stockwerkhaus und Einfamilienhaus.
1. Abschnitt. Allgemeines und Statistisches.
Wir haben den Gegensatz von dichtem und von weiträumigem städti¬
schem Anbau in bezug auf die Gesundheit an dem in die Augen springen¬
den Gegensätze des Wohnens in der Stadt und auf dem Lande deutlich
zu machen versucht. Der Gegensatz von Stockwerkhaus und Einfamilien¬
haus ist ebenfalls ein sehr ausgeprägter. Durch seine Erörterung hoffen
wir jene gegensätzliche Wirkung des dichten und des weiträumigen städti¬
schen Anbaues noch klarer hervortreten lassen zu können, wobei wir zudem
im großen und ganzen annehmen können, daß das Stockwerkhaus von der
dichten Bebauung bedingt wird, und daß die Vorbedingung für das Ein¬
familienhaus im allgemeinen die weiträumige Stadtbebauung ist
In Deutschland ist man sich des Gegensatzes von Stockwerkhaus und
Einfamilienhaus vor noch nicht langer Zeit, und zwar vornehmlich durch
Bekanntwerden englischer Wohnverhältnisse, auf welche maßgebende Schrift¬
steller immer von neuem hingewiesen haben, bewußt geworden. Die Zu¬
sammenstellung der auf je ein Haus in verschiedenen europäischen Haupt-
und Großstädten durchschnittlich entfallenden Bewohnerzahlen — wie sie
Tabelle 11 aufweist — zeigt, wie verschieden diese Zahlen sind, und wie
Tabelle 11.
Nach Stübben, „Der Städtebau“ (1890), im Handbuch der Architektur,
beträgt die Zahl der Einwohner durchschnittlich für jedes Haus in:
London ....
. . 7 Düsseldorf . .
. . 16*8
Paris.
36
Lüttich ....
. . 7*6 Aachen . . .
. . 17*5
Magdeburger Stadt-
Rotterdam . . .
. . 8*4 Dortmund . .
. . 18*5
erweiterung . . .
47’
Philadelphia . .
. . 9 Stuttgart . .
. . 22
Breslau.
50
Brüssel ....
. . 9 München . .
. . 28
St. Petersburg . . .
55
Köln.
. . 14 Chemnitz . .
. . 34
Wien.
63
Berlin.
63
l ) Nach Fr. Zahn (Conrads Jahrbücher 1901) gab es im Deutschen Reiche
nach der Berufszählung von 1895 selbständige (nicht angestellte bzw. nicht ge¬
löhnte) Erwerbstätige (nebst Familie): in der Landwirtschaft 83*02 Proz., in
Handel und Verkehr 50*84 Proz., in der Industrie 46*36 Proz. der Angehörigen
der einzelnen Berufe.
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266 Th. Oehmcke,
abweichend voneinander die in diesen einzelnen Städten herrschende Wohn-
weise ist.
In England ist das Wohnen im Einfamilien hause immer die festgehaltene
Art zu wohnen geblieben, und ist diese Sitte von dort nach Amerika ver¬
pflanzt. Erst in den letzten Jahrzehnten Anden sich in England unerheb¬
liche Ausnahmen von dieser Sitte. In Deutschland ist das Einfamilienhaus
bis ins 16. Jahrhundert hinein auch das gebräuchliche gewesen.
Die nebenstehende Tabelle 12 ist ein Auszug aus einer von Dr. Bleicher
zusammengestellten statistischen Übersicht, welche der Versammlung des
Deutschen Vereins für öffentliche Gesundheitspflege im Jahre 1864 bei der
Besprechung über ein demunserigen fast gleiches Thema unterbreitet worden
ist. Die Tabelle ergibt, wie sehr in Deutschland das Stockwerkhaus vor
dem Einzelhause — in scharfem Gegensätze zu England — vorwiegt.
In den Städten von über 100000 Einwohnern kommen in Deutschland
1890 nach dieser Tabelle im Gesamtdurchschnitte 23*6 Einwohner und
5*3 Haushaltungen auf ein bewohntes Gebäude, in England 1891 6*1 Ein¬
wohner und 1*31 Haushaltungen auf ein bewohntes Haus. Die entsprechen¬
den Zahlen für die Städte über 50 000 bis 100000 Einwohner sind für
Deutschland 18*5 Einwohner und 4*0 Haushaltungen, für England 5*5 Ein¬
wohner und 1*13 Haushaltungen. Mit Ausschluß von London entfallen in allen
Städten Englands von über 100000 Einwohner im Durchschnitt nur 1*08 Haus¬
haltungen auf ein bewohntes Haus, was nicht in Tabelle 12 enthalten ist.
Die Sitte des Wohnens im Einfamilienhause kann nach den angeführten
Zahlen selbst für den englischen Arbeiter der ungeheuer anwachsenden
Großstädte als eine gefestete, ja fast ausschließlich übliche angesehen werden.
Dies lehrt auch z. B. in London der Augenschein.
Für die bedeutendsten deutschen Großstädte kann man dagegen an¬
nehmen, daß der Arbeiter fast lediglich in Wohnkasernen wohnt. Unter den
deutschen Städten über 50000 Einwohner sind nur zwei, welche bezüglich
der auf je ein Gebäude entfallenden Kopfzahl mit den englischen Städten über¬
haupt verglichen werden können. Es sind dies Bremen mit 7*6 und Lübeck
mit 8*7 Einwohnern (1890). Die Kopfzahl für das Haus wird für London
für das Jahr 1866 zu 7*7 angegeben. Sie hat sich nach der Tabelle bis 1891,
wo sie 7*6 ist, also noch etwas verringert, während die Kopfzahl für Berlin
schon von 1880 bis 1890 erheblich gestiegen ist, nämlich von 44*9 auf 52*6.
Im Gesamtdurchschnitt der Teile A und B der Tabelle, also für alle
Städte über 50000 Einwohner, ist in Deutschland in dem zehnjährigen Ab¬
schnitte die auf ein bewohntes Gebäude entfallende Bewohnerzahl von 22*1
auf 22*5 gestiegen, in England ist die entsprechende Zahl von 6*2 auf 6*0
für ein bewohntes Haus gefallen.
Der englische Arbeiter ist bezüglich des Vorzugs des Wohnens im Ein¬
familienhause nicht allein dem deutschen Arbeiter, sondern auch den An¬
gehörigen der Mittelklassen und selbst meist den Angehörigen der oberen
städtischen Gesellschaftsklassen Deutschlands überlegen.
2. Abschnitt. Leibliche Gesundheit.
Der Gegensatz der Einwirkungen von Stockwerkhaus und Einfamilien¬
haus, oder von Wohnkaserne und Einzelhaus, auf die leibliche Gesundheit
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Nach^Dr. Bleicher. In der Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege 1895, S. 104.
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270
Th. Oehmcke,
berührt sich in vielen Beziehungen mit dem Gegensätze von Stadt und
Land. Luft, Licht und Sonne haben zu dem Einzelhause einen unbe¬
schränkteren Zutritt als zu den Räumen des Stockwerkhauses. Letztere
sind bezüglich ihrer Lüftung oft nur auf die meist bedenkliche Luft schacht¬
artiger Höfe oder auf die verbrauchte Luft der sie umschließenden Räume
der Nachbarwohnungen angewiesen x ).
Die Wohnungen in den festländischen Mietshäusern sind oft drei, vier,
in Großstädten manchmal sogar fünf Treppen hochgelegen. Dieser Umstand
erschwert, namentlich für kleine Kinder und Kranke, die des Genusses der
Außenluft am wenigsten entbehren können, das Insfreiegelangen außerordent¬
lich. Das tägliche Ersteigen so großer Höhen wirkt auf die Gesundheit von
schwächlichen Personen und Frauen oft bedenklich ein. Baumeister sagt
a. a. 0.: „Bei kinderreichen Familien ist das Spazierenführen der Kinder
bei Stockwerkswohnungen eine unbequeme und wenig ausreichende Sache."
Die in einem Mietshause bestehende größere Gefahr der Verbreitung
ansteckender Krankheiten ist schon berührt. In einem z. B. von 40 Per¬
sonen bewohnten Mietshause mit gemeinsamen Fluren, Treppen, Korridoren
und mit gemeinsamem Hofe sind viel mehr Personen der Ansteckung durch
einen mit einer ansteckenden Krankheit behafteten Bewohner des Hauses
ausgesetzt, als durch „einen" solchen Kranken in einem z. B. von sieben
Personen bewohnten Hause bedroht sind.
Es kommen für die durch das Haus verursachte Ansteckungsgefahr
besonders die Krankheiten mit einem flüchtigen Kontagium, namentlich die
hitzigen Hautausschläge, wie Pocken, Masern, Röteln und Scharlach, sodann
Keuchhusten und Diphtherie, welche besonders Kinder befallen, ferner auch
Flecktyphus in Betracht. Vor Ansteckung durch diese Krankheiten, ins¬
besondere durch Scharlach, Diphtherie und Flecktyphus schützt (vgl. auch
Wasserfuhr, a. a. 0.) selbst die größere Wohlhabenheit nicht. Wenn Kinder
armer Leute im Keller oder im vierten Stock von einer jener Krankheiten
befallen werden, sind die Kinder der in den zwischenliegenden Stockwerken
des Mietshauses wohnenden wohlhabenden Familien mehr oder weniger
ebenfalls gefährdet.
Beispiele für durch umfangreiche Mietskasernen verursachte bedenk¬
liche Ausbreitung ansteckender Krankheiten finden wir in folgender Mit¬
teilung Albrechts 3 ), die aus Berichten Albus vom Anfang der 70er Jahre,
einer Zeit, wo in Berlin Wohnungsnot und große Wohnungsüberfüllung be¬
stand, entnommen ist. Innerhalb des 61. Medizinalbezirks (Armenarztbezirke)
lieferte von 153 Flecktyphuskranken ein Haus allein deren 150. Aus dem
18. Medizinalbezirke kamen von 675 Armenkranken auf ein Haus allein
177 = 30*8 Proz.; alle sechs in diesem Bezirke unter den Armen vorge¬
kommenen Cholerafälle entstammten diesem Hause; ebenso 46 Proz. aller
Ruhr- und 80 Proz. aller Diphtheriefälle. Ein anderer Häuserkomplex, in
welchem über 1000 Menschen hausten, lieferte 53 Proz. aller in vier Monaten
l ) In England hält man sehr darauf, selbst Einzelhäuser nicht Rücken an
Rücken (back to back) zu stellen, um sich die Möglichkeit der Lüftung mittels
Gegenzuges zu erhalten.
*) H. Al brecht, „Die Wohnungsnot in den Großstädten und die Mittel zu
ihrer Abhilfe“ (1891), erwähnt bei Weyl-Oldendorff.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung. 271
im 13. Medizinalbezirke behandelten Kranken. Die Zahlen zeigen, wie groß
allem Anschein nach der Einfluß nur der Wohnung auf die Gesundheit war,
und wie sonstige Verhältnisse, als unregelmäßige Lebensweise, mangelhafte
Nahrung usw. in jenen Fällen dagegen zurücktraten.
Die Vorzüge der sogenannten Pavillonbauweise vor der geschlossenen
Bauweise und vor dem Stockwerksbau ist für den Bau von Krankenhäusern
allgemein anerkannt. Aber ebenso, wie dies Pavillonsystem für die Heilung
der Kranken unentbehrlich oder doch sehr förderlich ist, ebenso dürften in
nicht viel geringerem Maße, was aber noch nicht derart anerkannt wird,
die flache, lockere Bauweise, die dem Pavillonsystem doch nahe verwandt ist,
und die Vermeidung des Mietskasernenwesens im Städtebau für die mög¬
lichste Gesunderhaltung der noch nicht Erkrankten unentbehrlich sein.
3. Abschnitt. Geistige Gesundheit und sittliche Zustände.
Die meisten Schriftsteller beschäftigen sich bei Besprechung des Gegen¬
satzes von Einzelhaus und Zinshaus mit Vorliebe damit, wie dieser Gegensatz
sieb in bezug auf die geistige Gesundheit der Bewohner, auf volkswirtschaft¬
liche und sittliche Verhältnisse geltend macht — weniger, wie er auf die
leibliche Gesundheit einwirkt.
R. Baumeister sagt in seinen „Stadterweiterungen“ S. 19, wo er aller¬
dings außerdem die Folgen der Wohnungsnot bespricht: „Mit der leiblichen
steht die geistige Gesundheit in naher Beziehung, denn der Degeneration
des Leibes folgt die Entartung der Sitten auf dem Fuße und umgekehrt,
beide Übel steigern sich gegenseitig/ Bei Besprechung des Gegensatzes
von Eigentum und Miete, S. 26 ff., erwähnt er, daß Einfamilienhäuser im
Gegensatz zu Stockwerkhäusern sämtlich Eigentum ihrer Bewohner werden
könnten, und es sehr oft auch tatsächlich würden, weil sie kleinere Verkaufs¬
stücke darstellten.
Derselbe Gewährsmann sagt dort weiter: „Es ist überflüssig, den Reiz
der Seßhaftigkeit zu schildern, welcher schon den elendesten Wohnungen
armer Bauern anhaftet, und noch weit mehr in anständigen, gesunden
Familienhäusern empfunden wird. Die Neigung zum Grundbesitz ist eine
der stärksten im Menschen. Jeder wird in seinem bescheidenen Eigentum
mehr Freude und Vorteil finden, als in der schönsten gemieteten Wohnung.
Erfahrungsmäßig folgen aus dem Bewußtsein des Besitzes eine Reihe von
Tugenden, welche im Kontrast zur Unsicherheit desselben besonders bei den
unteren Klassen auffallen. Mit der Möglichkeit des Erwerbes, mit dem
Fortschritte des Erwerbes zu freiem Eigentum steigert sich dieser günstige
Einfluß, welcher sowohl haus wirtschaftlich als sozialpolitisch von höchster
Wichtigkeit ist.“
„Der Arbeiter wird Kapitalist/ „Das eigene Interesse führt
zur Sparsamkeit und Arbeitsamkeit, zunächst um die Wohnung schuldenfrei
zu machen und den Reiz der Unabhängigkeit zu steigern, sowie zur Er¬
haltung und Verteidigung der öffentlichen Ordnung/ . . . „Ähnliche günstige
Umwandlungen wären aber heutzutage auch bei den mittleren und höheren
Ständen vielfach zu wünschen, und sind gewiß in Familienhäusern zu er¬
warten/ .... „Die Mietswohnung wird zum steinernen Zelt, in welchem
die Nomadenfamilie auf unbestimmte Zeit ihr Lager aufschlägt/
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Th. Oehmcke,
Diese Worte Baumeisters, welche geeignet waren, seinerzeit bahn¬
brechend zu wirken, rühren aus dem Jahre 1876 her. Sie dürften nach
der seitherigen Entwickelung unserer sozialen Zustände ihren Wert auch
für die Jetztzeit durchaus noch nicht verloren haben.
In den 60 er Jahren des vorigen Jahrhunderts beginnt in der Literatur
und auf den volkswirtschaftlichen Kongressen in Deutschland eine Bewegung,
die Verständnis für die Vorzüge des Einfamilienhauses zu verbreiten sucht,
und dabei meist englische Wohn weise als Vorbild rühmt.
Der treffliche, leider zu früh verstorbene Kunst- und Architektur¬
forscher R. Dohme führt das englische Haus in seinem angeführten, 1888
erschienenen Buche durch Wort und Bild in zahlreichen schönen Beispielen
vor. Er führt S. 2 ff. aus, wie die Stadt auf dem Kontinent vom Städter
für sich als selbstverständlicher bzw. als einziger Aufenthalt betrachtet wird.
In England dagegen ist die Stadt für alle, die es ermöglichen können, nur
Arbeitsstätte. Auf dem Lande, im eigenen Heim findet der Engländer der
besseren Stände die Behaglichkeit („privacy“) des Lebens. Er schätzt diese
so hoch, daß er die täglichen, bisweilen mehrere Stunden vom Tage in An¬
spruch nehmenden Eisenbahnfahrten zur Stadt nicht scheut.
Aber nicht allein durch Wort und Schrift, sondern auch durch das
praktische Beispiel war Dohme vorher schon für das Einzelwohnhaus ein¬
getreten. Davon legt noch jetzt das durch ihn in den 70er Jahren in Berlin
für sich und seine Familie nach englischem Vorbilde erbaute Haus, das
durch die Enthaltsamkeit in bezug auf äußere Kunstformen seinerzeit von
sich reden machte, Zeugnis ab *).
J. Stübben führt in seinem Städtebau, a. a. 0., aus, wie das städtische
Einzelhaus meist für das Bedürfnis einer bestimmten Familie gebaut zu
werden pflegt, in deren Besitz es vielfach längere Zeit bleibt. Es bilden
sich zwischen ihm und seinen Bewohnern — im Gegensätze zu dem in dem
Mietshause gleichgültig bleibenden Verhältnisse — vertrauliche Beziehungen
heraus. Das Einzelhaus kennzeichnet den seßhaften Bürgerstand. Es ist
die Heimat im engsten, traulichsten Sinne des Wortes. „My house is my
castle“, heißt es in England. Der Bewohner des Zinshauses kann in
diesem Sinne nicht von seiner Burg sprechen; sein Kind bat kein Vaterhaus.
Julius Faucher verdanken wir eine erschöpfende und vorbildliche
Darstellung des Gegensatzes von Einzelhaus und Stockwerkhaus, in Be¬
ziehung auf die Gesundheit des Einzelnen und des Volkes. Er ist einer der
ersten in Deutschland gewesen, der auf die große Bedeutung dieses Gegen¬
satzes hingewiesen hat. Seine Schrift, „Die Bewegung für Wohnungsreform 1 * a ),
die sich außerdem auch mit den Ursachen der Wohnungsnot beschäftigt,
bildet bei wissenschaftlichen Erörterungen über diese Fragen sehr vielfach
die Grundlage. Auch bei den bedeutsamen Verhandlungen des Deutschen
Vereins für öffentliche Gesundheitspflege über die Notwendigkeit weit¬
räumiger Bebauung bei Stadterweiterungen usw. vom Jahre 1894 3 ) hat
*) Es ist das Haus Händelstraße Nr. 1. Es lag bei seiner Erbauung etwa
auf der damaligen Grenze der städtischen Bebauung. Eine bildliche Darstellung
ist in „Berlin und seine Bauten“, II, S. 150, enthalten.
*) A. a. 0., Jabrg. 1865, Bd. 4, S. 127, und 1866, Bd. 3, S. 86.
a ) Deutsche Vierteljahrsschrift f. öffentl. Gesundheitspflege 1895.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
273
Oberbürgermeister Adickes, der verdiente Vorkämpfer für Aus- und Um¬
gestaltung des Städtebaues, die genannte Schrift Fauchers besonders ge¬
würdigt und sie nach verschiedenen Richtungen hin in seinem Referate
zum Ausgangspunkte seiner Betrachtungen gemacht
Am längsten — so führt Fan eher aus — pflegt man die Erschei¬
nungen, die man am häufigsten sieht und die zugleich auf unser Wohl und
Wehe den größten Einfluß haben, ohne zu denken, unabänderlich hinzu¬
nehmen. Erst ein Stoß muß oft unsere von der Gewohnheit eingelullten
Gedanken wachrütteln. Erat ganz neuerdings ist man überhaupt erat auf
die Frage gekommen:
Wie kommt es, daß in einer Stadt die Wohnungsmiete schneller steigen
kann als das Einkommen, aus dem sie bezahlt wird, so daß sie unablässig
härter drückt?
Wie kommt es, daß wir die Stockwerke aufeinander türmen, und Hof
und Garten, Boden- und Kellerraum unserer Häuser uns verkümmern lassen,
sowie daß wir einen Teil der Einwohner sogar mit ihren Betten unter die
Erde verweisen?
Daß das Wohnen in hohen Stockwerkhäusern für die Großstädte keine
unabänderliche Notwendigkeit ist, sehen wir an englischen Städten. In dem
weiteren Gebiete von London mit Beinen 3 Vs Millionen Einwohnern —
Faucher schreibt dies 1865 — gibt es mit unerheblichen Ausnahmen nur
solche Privathäuser, welche nicht mehr als eine Wohnung enthalten *)>
Das englische Volk ist gewöhnt, das Beziehen eines Stockwerkhauses,
also das Aufgeben des Familienabschlusses auf gesondertem Grundstück,
als Übergang zum wirtschaftlichen Verfall der Familie anzusehen.
Das Aufgeben der Anstrengung, für seine Familie die gesonderte Haus¬
tür zu behaupten, wird als ein Hinabgleiten von der sozialen Stufenleiter
betrachtet.
Faucher stellt den allgemeinen Grundsatz auf: „Ein Aufgeben der
Anstrengung, die in einem Lande gewohnheitlicbe Form des Familienlebens
zu behaupten, ist ein sicheres Zeichen des Verfalles der Familie.“ Die
Wohnung ist von allen KulturbedürfnisBen das größeste und spielt für die
Form des Familienlebens die Hauptrolle. Daher findet der angeführte
Fauchersche Grundsatz in der englischen Anschauung betreffs Behauptens
der gesonderten Haustür eine Stütze.
Den Willen, sagt Faucher, beherrscht jener segensreiche Zwang, der
aus der gesellschaftlichen Natur des Menschen stammt, das Ehrgefühl. Es
hält den Willen beim Behaupten der einmal errungenen Lebensstufe und
Lebensform fest.
Im Mittelalter herrschte in ganz Nord- und Mitteleuropa das Einzel¬
haus vor. Wegen des Fehdewesens war dort für die Städtebewobner das
Wohnen nur innerhalb der Befestigungsmauern möglich. Beim Wachsen
der Städte mußten von diesen hohe Ausgaben für die Erweiterung der Be¬
festigungen aufgebracht werden. Als nun wegen der großen Belastung der
Gemeinwesen mit Ausgaben für neuauftretende anderweite Bedürfnisse die
Erweiterung der Befestigungen, die man auch nicht niederreißen wollte,
l ) Vgl. die Tabelle 12 und unsere bereits daran geknüpften Betrachtungen.
ViertaljahrMchrift fttr Qevondheitspflege, 1904. jg
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Th. Oehmcke,
unterlassen wurde, und die Bevölkerung in den Städten vielfach stark wuchs,
blieb, wenn freie Bauplätze innerhalb der Stadtmauern nicht mehr vor¬
handen waren, nur das Auskunftsmittel übrig, an Stelle der bisher gebräuch¬
lichen niedrigen Häuser solche mit mehreren Wohnschichten übereinander
zu bauen, und an Stelle des Eigenhauses das Mietshaus treten zu lassen.
Bei manchen Städten unterblieb die Erweiterung der Befestigungen auch
aus anderen Gründen.
Die angedeutete bedeutungsvolle Änderung in der Wohnweise in den
deutschen Städten vollzog sich vom Jahre 1500 bis etwa zum westfäli¬
schen Frieden. Nur in dem wohlhabenden Nordwesten Deutschlands fand
das Stockwerkhaus nur wenig Eingang.
Im allgemeinen waren selbst bei den wohlhabenderen Familien Luft,
Stille, Friede und privater Abschluß im Hause je länger je mehr unbekannte
Bedürfnisse geworden. Mit der Sitte und dem Zwange, im eigenen Hause
zu wohnen, war auch der Anreiz erheblich zurückgegangen, die Mittel für
ein solches zu sammeln. So übte das Sinken des Wohnbedürfnisses und
mit ihm der normalen Lebensform auch einen nachteiligen Einfluß auf das
Sinken des Volkswohlstandes aus.
Die Jahrhunderte alte Gewöhnung an das Übereinanderschichten der
Wohnungen war so groß geworden, daß man auch daran festhielt, als nach
den Erfahrungen der napoleonischen Kriege zahlreiche Städte von den sie
einschnürenden Befestigungen befreit werden konnten. Die auf der Stelle
dieser für die Bebauung freigewordenen Gürtel nahmen — infolge dieser
Gewöhnung und unter der zutreffenden Voraussetzung, daß sie mit denselben
hohen Häusern, wie Bie im Stadtinnern bestanden, bebaut werden könnten —
auch die hohen Bodenpreise des Stadtinnern an. Wo die Erkenntnis von
der Notwendigkeit weiträumigen städtischen Anbaues in der Stadtumgebung
später wirklich erwachte, wurde dieser letztere nun durch die Bodenver¬
teuerung ebenso unmöglich gemacht, wie eine weiträumige Bebauung im
Stadtinnern ehemals durch die Stadtumwallungen unmöglich gemacht worden
war. Nach Bebauung des Geländes der Befestigungen wiederholte sich
dieses Spiel der Bodenverteuerung wieder bei dem nächst zu bebauenden
Gürtel usw.
Die hohen Bodenpreise veranlaßten ein straffes Festhalten an der Stock¬
werkstürm ung bei neuen Stadtanlagen, ließen die Entwickelung des Eigen¬
hausbaues nicht aufkommen, und riefen zudem auch häufig empfindliche,
vielfach mit tiefgehender Volkserregung verbundene Wohnungsnot hervor.
Als Hauptmitte], die Verteuerung des Baulandes zu beseitigen und zu
verhindern, empfiehlt Faueher folgende Maßnahme: „Es sind entlegenere
Gelände der Stadtumgebnng, in denen der Bodenpreis erst wenig den land¬
wirtschaftlichen Wert übersteigt, in umfassendem Maße als städtisches Bau¬
land heranznziehen. Die niedrigen Preise dieser Gelände in ihrer großen
Flächenausdehnung treten mit den hohen Preisen des räumlich viel kleineren
Gürtels, welcher der Stadt zunächst liegt, in wirksamen Wettbewerb.**
Außer den bisher erörterten üblen Wirkungen des Mietskasernenwesens
treten mit demselben auch bedenkliche Erscheinungen bezüglich der Stellung
des Familienoberhauptes und bezüglich der Erziehungsaufgaben der
Familie auf.
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Gesundheit and weiträumige Stadtbebauung.
Im Bereiche der gemeinsamen Einrichtungen des geteilten Hauses, als
des Flures, der Treppe, des Hofes, des Waschkellers, Trockenbodens usw.,
muH der Hauswirt im Interesse der Gesamtheit der Mieter Herr bleiben.
Die Mieter und deren Gesinde werden Anordnungen und nicht selten auch
Zurechtweisungen des Hauswirtes sich gefallen lassen müssen, welche
manchmal auch wohl auf die private, nicht zu den gemeinsamen Teilen des
Hauses gehörende Hälfte der Wohnung übergreifen. Durch diese hauswirt-
liche Erziehungsberechtigung wird die hausherrliche Stellung des Mieters
oft empfindlich getroffen.
Die Hausgenossenschaft von Familien verschiedenen Ranges hat sodann
unerfreuliche Einwirkungen auf die Kinder. Kinder, welche ohne Aufsicht
miteinander verkehren — ein solcher unbeaufsichtigter Verkehr von Kindern
der verschiedenen Familien ist im Mietshause nicht zu vermeiden — lernen
meist nur Unarten voneinander. Das gut erzogene Kind verliert dabei; das
Kind von schlechter Familienerziehung gewinnt nicht dadurch. Im Einzel¬
hause ist ein solcher Verkehr leicht zu beaufsichtigen oder auBznschließen.
Mehrfacher Art sind die Einwirkungen des großen Mietshauses auf die
Haushaltungen mit Dienstboten. Bei dem regen Verkehr der Dienstboten
untereinander sind sie, wenn sie auch ganz verschiedenen Schlages, und
wenn sie auch bei Herrschaften verschiedenen Ranges bedienstet sind, nur
zu sehr geneigt, ihre Lage zu vergleichen und dadurch unzufrieden zu
werden. Oft wird die Erziehung der Dienstboten durch ihren Verkehr mit
im Hause wohnenden, nicht selten im wirtschaftlichen und auch im sittlichen
Rückgänge befindlichen Familien beeinträchtigt.
Die Erfahrung lehrt, daß bei Vorwiegen der Einzelhäuser die Liefe¬
rung der täglichen Wirtschaftsbedürfnisse durch den Versendungswagen zu
geschehen pflegt, während beim Vorwalten von Stockwerkhäusern solche
sich seltener einbürgern. Dies hat zur Folge, daß bei Stockwerkswohnungen
daa Einholen der WirtschaftsbedürfniBse den Dienstboten zufällt. Der un¬
beaufsichtigte Verkehr der Dienstboten mit den kleineren Geschäftsleuten
kann zu Verdruß für die Hausfrau Anlaß geben.
Die Ausbildung und Erziehung der Dienstboten ist im Einzelhause
viel mehr sichergestellt als in der Stockwerks wohnung. Fauch er nimmt
an, daß durch das Überhandnehmen der großen Mietshäuser in Berlin ein
Mangel geschulter Dienstboten daselbst eingetreten sei, und daß viele
Familien deshalb keine oder weniger Dienstboten hielten. Dies wird da¬
durch bestätigt, daß die Zahl der Haushaltungen mit Dienstboten sehr
zurückgegangen wäre.
In vorstehendem Auszuge konnten die eindringenden und umfassenden
Ausführungen Fauchers nur in sehr knapper Weise angedeutet werden.
Diesen Andeutungen und den angeführten Auslassungen der anderen
Schriftsteller haben wir bezüglich des Besprechungsgegenstandes dieses Ab¬
schnittes nur wenig hinzuzufügen. Der Wunsch, mit seiner Familie abge¬
schlossen zu wohnen, ist ein dem Menschen ureigener. Es ist auch in den
für diese Verhältnisse ungünstigsten Zeiten dem Volke das Gefühl nicht
ganz abhanden gekommen, daß nur das Einzelhaus den für die Erfüllung
der Bestimmung der Familie notwendigen Abschluß und den Schutz nach
außen biete und nicht ein Haus, das man mit vielen Familien teilen muß.
18 *
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Th. Oehmcke,
Diese Empfindung ist bei uns nur vorübergehend durch allerdings lange
andauernde Verhältnisse zurückgedrängt.
Nachdem der Wert des Einzelhauses von der Wissenschaft gewisser¬
maßen von neuem entdeckt ist, handelt es sich darum, jene Empfindung
durch Lehre und Beispiel wieder zu beleben und zu verbreiten. Für die
Ausbreitung des Einzelhauses ist es günstig, daß der Wohlstand auch in
Deutschland sehr zugenommen hat, und daß sogar Verhältnisse eingetreten
sind, die es vielen Bevorzugten gestatten, große Aufwendungen für glänzende
Wohnungen in Mietspalästen zu machen, die es diesen aber auch gestatten
würden, mit denselben Aufwendungen sich einen eigenen behaglichen Herd
auf eigener Scholle zu errichten, wenn der Sinn dafür in ihnen erweckt wäre.
Auch für die Angehörigen des Mittelstandes ist es schon in zahlreichen
Fällen möglich geworden, ein eigenes Heim in den Vororten der Großstädte
zu erwerben, wenn sie von den Vorzügen davon sich überzeugt hatten.
Eigener Herd ist GoldeB wert. Der Besitz der Wohnung im eigenen Hause
erhöht stets das Gefühl der Sicherheit des Daseins, daB Selbstbewußtsein
und die Lebensfreude. Er verknüpft den Besitzer auch enger mit dem Wohl
und Wehe des Gemeinwesens.
Daß die Verhältnisse alsbald sich so ändern werden, daß es dem städti¬
schen Arbeiter öfter möglich werden wird, und daß auch das Bedürfnis dazu
in ihm rege werden wird, ein eigenes Häuschen zu bewohnen, dafür sind
in Deutschland die Aussichten noch wenig bedeutend 1 ). In Großstädten
steht ja dem auch der vielfach häufige Wechsel der Arbeitsgelegenheit ent¬
gegen. Daß es dem Arbeiter aber bei unB möglich ist, im eigenen Hause
zu wohnen, dafür ist das vielerorts ausgebreitete Käthner- und Häuslertum
des ländlichen Arbeiters ein Beispiel. Niederhaltung der Bodenverteuerung
durch Förderung der Weiträumigkeit der Bebauung wird in besonders
hohem Maße für den städtischen Arbeiter die Möglichkeit des Wohnens
im Eigenhause mit seinen angedeuteten weittragenden erzieherischen Folgen
vermehren.
Fauch er führt aus, daß die Erhöhung des Wohnbedürfnisses auch
eine Erhöhung des Ebrbedürfnisses bedeute. Wir möchten dem bekräftigend
hinzufügen, daß dieses Ehrbedürfnis auch für den handarbeitenden Teil des
Volkes eine unersetzbare Triebkraft bildet und von ausschlaggebender Be¬
deutung für die sittliche Kraft des Gesamtvolkes ist.
Derselbe Forscher betont nachdrücklich den Zusammenhang von Einzel¬
haus und Dienstbotenerziehung. Wir können dazu bemerken, daß der Fall
jetzt schon nicht so selten eintreten dürfte, daß Familien lediglich mit Rück¬
sicht auf die Dienstbotenfrage eine reich ausgestattete Wohnung im gro߬
städtischen Mietshause mit einer viel bescheideneren, im Vorort gelegenen
Einzelhauswohnung vertauschen. Die Dienstbotenfrage verdient große Be¬
achtung. Wird diese Frage noch viel bedenklicher, als sie gegenwärtig
l ) Vgl. Dr. Eberstadt, „Rheinische Wohnverhältnisse und ihre Bedeutung
für das Wohnungswesen in Deutschland“. Nach einer Besprechung dieser ßchrift
in der Deutschen Bauzeitung 1903, Nr. 36, ist die arbeitende Bevölkerung in den
ßtädten Elberfeld, Barmen und Düsseldorf allerdings stark am Hausbesitz beteiligt.
In Elberfeld fallen 18 7, in Düsseldorf 20 Einwohner auf ein Haus. Dort wie hier
haben drei Viertel sämtlicher Hausbesitzer nur ein Grundstück.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
277
schon ist, so hört die Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Hauswirtschaft,
eine wesentliche Vorbedingung menschlichen Fortschritts überhaupt, allmäh¬
lich auf. Mangelhafte Dienstbotenerziehung trägt auch ihre bedenklichen,
später eintretenden Folgen in die Abertausende von denjenigen Familien
der Arbeiter und kleineren Handwerker hinein, deren Hausmütter aus dem
Stande der Dienstboten hervorgehen.
Welchen Vorteil es hat, wenn ein Volk an seiner angestammten Wohn-
weise festhält, sehen wir an dem Beispiel Englands. Die dort hoch¬
gehaltene Sitte, im Einzelhause zu wohnen, läßt in den englischen Städten
und Großstädten die Tätigkeit der Baupolizei zum großen Teil entbehrlich
erscheinen, deren Hauptaufgabe es bei uns ist, die zu dichte Bebauung und
das zu hohe Bauen zu hindern. Jene in England ohne Zutun yon oben her
festgehaltene Sitte möchte als eine erfreuliche Äußerung des in jenem Lande
gepflegten Seif government anzusehen sein.
Die Sitte des Wohnens hinter eigener Haustür dürfte übrigens vielleicht
nicht unwesentlich auch die Fähigkeit eines Volkes zu kolonisatorischer
Tätigkeit erhöhen, indem das Volk dadurch in der Lage bleibt, diese immer¬
hin von einer gewissen Überlegenheit über andere Kulturvölker zeugende
Sitte auch in die zu kolonisierenden Länder zu verpflanzen. Ein Beispiel
hierfür dürfte, wie angedeutet, das Verhältnis von England zu den Ver¬
einigten Staaten bieten, welche von England diese Sitte seinerzeit über¬
nommen haben.
4. Abschnitt. Bedingte Notwendigkeit des Stockwerkhauses
und Verbesserung desselben.
So sehr wir wünschen müssen, daß das Verständnis für die Vorzüge
des Einzelwohnhauses in immer weitere Kreise dringe, und daß das Eigen¬
baus in Deutschland immer mehr zum Bedürfnis werde, muß doch zugegeben
werden, daß seiner Verbreitung natürliche Grenzen gezogen sind.
Im allgemeinen werden die Herstellungskosten einer Wohnung im
Einzelhause größere sein, als einer solchen im Stockwerkhause. Funda¬
mente der Mauern, Flure, Treppenräume, Dach sind im Stockwerkhause
für eine Anzahl Wohnungen gemeinsam, und sind die für die einzelne
Wohnung in demselben dafür aufzuwendenden Kosten deshalb meist ge¬
ringere als beim Einzelhause. Bei den Kosten des Bauplatzes macht sich
dieser Umstand in gleicher Weise geltend, wenn der Bauplatz des Einzel¬
hauses nicht ganz besonders wohlfeil ist.
Das Einfamilienhaus, bei dessen Errichtung wohlfeiles Bauland Voraus¬
setzung ist, kann in der Großstadt gewöhnlich nur entfernt von der Ge¬
schäftsgegend errichtet werden, da in der Nähe der letzteren das Bauland
dafür zu kostbar ist. Bei zahlreichen Geschäftsleuten ist aber eine zu starke
räumliche Trennung von Berufstätigkeit und Wohnung ausgeschlossen.
Beamte, Militärs und Angestellte aller Art, die meist einem öfteren
Wobnortwechsel durch Versetzung ausgesetzt sind, können nur selten an
den Erwerb eines Einzelhauses denken. Selbst die Anmietung eines solchen
beeinträchtigt in der Regel schon zu sehr die für diese Klassen erforderliche
Beweglichkeit, zumal auch die Anmietung schon größere Anschaffungen für
Haus und Garten voraussetzt als die Anmietung einer Etagenwohnung im
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Th. Oehmoke,
Stockwerkhauee. Die Errichtung von Einzelhäusern zum Vermieten ist für
Unternehmer zudem im allgemeinen nicht besonders vorteilhaft.
Die Verwaltung des gemieteten Einzelhauses, die dem Mieter zuzufallen
pflegt, legt diesem auch eine erheblich größere äußere Mühewaltung auf, als
er sie als Mieter im geteilten Mietshause hat, wo der Hauswirt gemeinhin
diese Verwaltung besorgt. Die Vorteile der solchergestalt im geteilten
Hause stattfindenden Arbeitsteilung können oft nicht von stärker mit Berufs-
geschäften belasteten Mietern entbehrt werden.
Die Lage aller Zimmer der Wohnung in einem Stockwerk, auch das
horizontale Wohnsystem im Gegensätze zu dem vertikalen Wohnsystem, wie
es das Einzelhaus darstellt, so genannt, erscheint vielen als eine unentbehr¬
liche Bequemlichkeit und Annehmlichkeit und als ein ganz besonderer Vor¬
zug einer Wohnung. Mit Rücksicht auf die jahrhundertlange Gewöhnung
des Volkes hat diese Anschauung ihre bedingte Berechtigung, und muß mit
ihr gerechnet werden. Stübben führt in seinem „Städtebau" 1 ) an, daß
im östlichen Deutschland die städtische Bevölkerung zu 90 bis 96 Proz. zur
Miete wohnt. Aus dem Umstande, daß MietBWohnungen überwiegend im
geteilten Hause liegen, kann aus obigen Zahlen mittelbar geschlossen werden,
wie sehr das Einzelhaus dort in den Städten zurücktritt, und wie stark die
Gewöhnung an die Etagenwohnung noch sein muß.
Wenn wir auch anzustreben haben, daß das Einzelhaus in Deutschland
bald das bevorzugte Haus des seßhaften Bürgertums werde, gemahnen uns
die letztgenannten Zahlen doch daran, über den Bestrebungen für die Aus¬
breitung des Einzelhauses nicht die Bestrebungen für die Verbesserung des
für uns einstweilen noch erheblich wichtigeren Stockwerkhauses zu ver¬
nachlässigen. Mit Rücksicht auf die angeführten Zahlen wird als das
weitest mögliche Ziel auch für Neuanlagen von Stadtteilen für geraume Zeit
noch im allgemeinen meist nur das gemischte Wohnsystem, eine Durch¬
dringung der Systeme deB Vielfamilienhauses und des Einzelhauses ange¬
strebt werden können.
Unsere Betrachtungen über das Einzelhaus und den städtischen Anbau
in ländlicher Art haben sich zur Aufgabe gestellt, auch für die Bestrebungen
auf Verbesserung des Mehrfamilienhauses nutzbar zu sein. Die voran¬
gedeuteten Nachteile, die bei den Stockwerkhäusern sich vielfach zeigen,
lassen sich erheblich einschränken. Es wird das im allgemeinen in dem
Grade eintreten, als sich die Vielfamilienhäuser dem Einzelhause nähern,
und als bei deren Errichtung die Rücksicht auf verhältnismäßig weiträumigen
Anbau des Geländes festgehalten wird.
Kapitel 8. Die weiträumige Bebauung des Geländes beim Städtebau.
1. Abschnitt. Notwendigkeit der Weiträumigkeit.
Bezüglich der Nutzanwendung der in den vorstehenden Kapiteln ent¬
haltenen Erörterungen auf unseren eigentlichen, in der Überschrift dieses
Kapitels näher berührten Besprechungsgegenstand, haben wir anführen
können, daß ein größerer Teil der Vorzüge, die sich uns als Folgen des
Wohnens auf dem Lande ergeben haben, auch dem Wohnen in Vororten
l ) Handbuch der Architektur, T. 4, Halbband 9.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
und Vorstädten mit mehr oder weniger lockerer Bauweise zuzusprechen ist.
In allerdings vermindertem Grade werden diese Vorzüge auch bezüglich
der weiträumiger gestalteten Teile des Stadtinnern gegenüber den gedrängt
gebauten Teilen sich geltend machen.
Man wird sagen können, daß im allgemeinen die städtischen Wohn-
plätze die erwähnten Vorzüge des Landes in demselben Grade besitzen, in
welchem Grade der Weiträumigkeit sie angelangt sind.
Ähnlich verhält es sich, wie schon erwähnt, mit der Wohnweise im
Einzelhause und ihrer besprochenen Überlegenheit über die Wohnweise im
Vielfamilienhause, um so mehr, als die Vorbedingungen für die Verbrei¬
tung des Einzelhauses die Anlage weiträumiger Vororte und die weit¬
räumige Bebauung des Stadtgeländes sind.
Die Überlegenheit der Anlage der Wohnplätze auf dem Lande in be¬
treff der Weiträumigkeit gegenüber der gedrängten Anlage derselben in
den Städten und Großstädten hat sich uns als eine Hauptursache der an
der Hand der Statistik und sonst erkannten Überlegenheit der Gesundheits-
Verhältnisse des Landes über die der Städte und Großstädte ergeben. Es
wird daher die Durchführung der Weiträumigkeit bei neuen und bestehen¬
den städtischen Wohnstätten um so mehr als Notwendigkeit anzusehen
sein, als die Mehrzahl der Haupt Völker Europas, zumal das deutsche Volk, in
einem unaufhaltsamen schnellen Übergange von ländlichem zu städtischem
Leben und von ländlichen zu städtischen Berufen begriffen sind, und
als beispielsweise in Deutschland der Anteil der Städtebewohner an
der Gesamtbevölkerungszahl, wie erwähnt, den Anteil der Landbewohner
schon jetzt übertrifft und sehr bald noch viel ausschlaggebender über¬
treffen wird.
Die gesundheitliche Überlegenheit des Landes der Stadt gegenüber,
aus der wir vorstehend die Notwendigkeit des weiträumigen städtischen
Anbaues herleiteten, könnte vielleicht nicht schwerwiegend und zweifelsfrei
genug erscheinen, um diese Notwendigkeit weiträumiger Bauweise in den
Städten daraus folgern zu können, zumal die Gesundheitsverhältnisse sowohl
auf dem Lande als in den Städten in den letzten Jahrzehnten sehr erheblich
sich gebessert haben (vgl. Tabelle 5).
Demgegenüber können wir auf unsere bereits gemachten Andeutungen
uns beziehen, daß die gesundheitliche Überlegenheit des Landes vorhanden
war und weiter besteht, und daß die Gesundheitsverhältnisse in den Städten
sich langsamer gebessert haben als auf dem Lande, trotzdem für die Durch¬
führung der sogenannten Gesundheitswerke in den Städten in den letzten
Jahrzehnten außerordentlich große Aufwendungen gemacht worden sind,
während auf dem Lande dafür viel weniger geschehen konnte.
Was die Bedenklichkeit des geringeren Fortschrittes der Volksgesund¬
heit in den Städten im Vergleich zum Lande noch vergrößert, ist der Um¬
stand, daß in zahlreicheren größeren Städten die hauptsächlichsten bisher
bekannten Gesundheitswerke — wir nennen nur Wasserleitung und Kanali¬
sation — zum größten Teil durchgeführt worden sind, und daß von der
weiteren Durchführung dieser Gesundheitswerke keine so große fernere
Minderung der Sterblichkeit ingenen Städten, als bisher erzielt, möglicher¬
weise mehr zu erwarten ist.
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280
Th. Oehmcke,
Die angeführte Tatsache, daß die gewöhnlichen Sterbeziffern für die
Städte deshalb ein zn günstiges Bild der wirklichen Sterblichkeit geben, da
den Städten nnd namentlich den Großstädten die lebenskräftigsten Alters¬
klassen stetig Zuströmen, können wir vielleicht am deutlichsten an dem
Beispiele Berlins erläutern. Nach Böckh *) ist für Berlin für das Jahr 1895
die korrekte Sterbeziffer (26*66 pro Mille einschließlich Totgeborener) um
5*42 pro Mille höher als die gewöhnliche.
Diese korrekte Sterbeziffer Berlins, die also im wesentlichen sich
durch Aussonderung des Einflusses der Altersgliederung kennzeichnet,
dürfte sich übrigens ohne größeren Fehler mit der gewöhnlichen Sterbe¬
ziffer des ganzen Landes, wo der Einfluß der Wanderungen nahezu entfällt,
in Vergleich ziehen lassen. Die Sterbeziffer Preußens für 1895 einschlie߬
lich Totgeborener beträgt 23*15. Die Sterblichkeit Berlins von 26*66 pro
Mille übertriffk die Sterblichkeit Preußens demnach, wenigstens annähernd,
um 3*50 pro Mille.
Die GesundheitsVerhältnisse der Städte im Vergleich zu denen des
Landes erscheinen in der Beurteilung nach der Statistik der Wehrfähigkeit
und nach der eigentlichen Gesundheitsstatistik wohl gleich ungünstig, als
in der Beurteilung nach den Gesamtsterbeziffern.
Die Weiträumigkeit des Anbaues auf dem Lande sowie in Vororten
und Vorstädten — als Gesundheitswerk an sich betrachtet — wird nach
unseren Ausführungen in nicht seltenen Fällen eine Anzahl der anderen
Gesundheitswerke zusammengenommen allein aufzuwiegen bzw. zu er¬
setzen vermögen, was auch für # die Notwendigkeit der Weiträumigkeit
spricht.
Schließlich kann auch die allgemeine Bedeutung der Städte für das
Volksdasein als Beweggrund angesehen werden, welcher es notwendig er¬
scheinen läßt, die Gesundheit in den Städten mit allen Mitteln, und nicht
zuletzt mit dem Mittel weiträumigen Anbaues, zu fördern. Wir haben
schon erwähnt, daß den Großstädten die Verfolgung erweiterter Kulturziele
obliegt, und daß ihnen viel reichere Mittel zu deren Erreichung zur Ver¬
fügung stehen. Die Verhältnisse der Großstädte sind in geistigen, geschäft¬
lichen und gewerblichen Dingen meist für das ganze Land vorbildlich und
ausschlaggebend, und wirkt ihr Gedeihen in hohem Maße auf das allgemeine
Gedeihen zurück. Die Großstädte sind in der Regel auch der Sitz der
Landesregierungen, welche die Geschicke des Landes selbstredend sehr
beeinflussen; es ist ihnen auch aus diesem Grunde eine erhöhte Bedeutung
beizumessen.
Auch abgesehen von den Großstädten ist der Einfluß der Städte im
allgemeinen ein für das Volk vielfach bestimmender. Sie sind in besonderem
Maße die Heimstätten des Gewerbefleißes sowie des Handels, und der Hort
des Landeswohlstandes. Die Blüte der Städte ist die Vorbedingung für die
Entfaltung der edlen, schöne Sittlichkeit fördernden Kunst und für die
Entwickelung der Wissenschaft, nach Goethe „des Menschen allerhöchster
Kraft“.
*) B. Böckh, Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin, Jahrg. 1900, 8. 77.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
281
2. Abschnitt. Mittel zur Durchführung der Weiträumigkeit
und Stand der Durchführung in Berlin,
a) Allgemeine« über die Mittel.
Die im Städtebau angewandten Maßnahmen beziehen sich erstens auf
die angemessene Bebauung der außerhalb des bebauten Stadtinnern liegen¬
den Gelände (Stadterweiterungen) und zweitens auf die Bauten in dem vor-
handenen Stadtinnern, sowie auf die Verbesserung des letzteren.
Die einzelnen Mittel zur Durchführung weiträumigen Anbaues sind im
wesentlichen folgende:
Baupolizeiliche Vorschriften, welche das Maß der Bebauung der
Fläche des Baugrundstücks sowie die Höhe der Gebäude einschränken;
Förderung des Anbaues außerhalb des Stadtinnern, in Vorstädten
und namentlich in entfernter gelegenen Vororten;
Herstellung yon Verkehrsmitteln zur Entlastung des übervölkerten
Stadtinnern und zur leichteren Erreichung weiträumig gebauter
Wohnplatze;
angemessene Gestaltung des Bebauungsplanes der Stadtumgebung,
namentlich mit Rücksicht auf Belassung freier Plätze und Schaffung
von Garten- und Parkanlagen, sowie mit Rücksicht auf vorteilhafte
Bemessung der Tiefe der Baublocks und der Straßenbreiten (Schaffung
von Verkehrs- und Wohnstraßen, Verhinderung großer Baukomplexe);
Ausschließung der Herstellung von Anlagen, die Rauch und schäd¬
liche Gase entwickeln oder ungewöhnliches Geräusch verursachen
(Fabriken usw.) für bestimmte Gegenden, namentlich für die landhaus-
mäßig zu bebauenden Bezirke, um den Landhausbau hier nicht zu
hindern;
Umgestaltung des Stadtplanes des Stadtkerns, wo erforderlich, Durch-
legung yon Straßen, Beseitigung zu enger Viertel, nachträgliche Anlage
öffentlicher Gärten und Parks im Stadtinnern;
schließlich Verhinderung unverhältnismäßiger Preissteigerung des
Baugeländes in der näheren und weiteren Umgebung der Stadt durch
andere als in obigen Maßnahmen schon enthaltene — namentlich durch
steuertechnische — Maßnahmen.
Wir wollen versuchen, ein Bild von dem Stande der Durchführung
einiger dieser hauptsächlichsten Mittel und Maßnahmen für Berlin und seine
Umgebung zu gewinnen, welches ja auch für andere deutsche größere und
Großstädte von Wert sich erweisen dürfte.
b) Bevölkerungsdichtigkeit Berlins.
Nach Tabelle 11 (s.S. 267) weisen von allen dort aufgeführten europäi¬
schen Hauptstädten Berlin und Wien die größte auf je ein Haus entfallende
Bewohnerzahl auf, nämlich 63 (die Tabelle ist wohl etwa im Jahre 1890
zusammengestellt).
ln Berlin stieg in der östlichen Luisenstadt, einem Arbeiterviertel, von
1880 bis 1890 die je auf ein Grundstück kommende Personenzahl von 96
auf 127. Wie sehr die Höhe der Häuser Berlins die Höhe der Häuser
anderer deutscher Großstädte hinter sich läßt, ist leicht aus den Zahlen der
Tabelle 13 abzuleiten.
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282 Th. Oehmeke,
Tabelle 13.
Stadt
Zahl der auf
1 ha Hausfläche
entfallenden
Bewohnerzahl
Stadt
Zahl der auf
1 ha Hausfläche
entfallenden
Bewohnerzahl
Berlin.
745
Köln.
305
Hamburg ....;.
292
Dresden.
318
München.
248
Magdeburg.
293
Breslau.
443
Frankfurt a. M. . . .
173
Die auf je einen Einwohner entfallende Bodenfläche, die nach Tabelle 14
im Jahre 1880 für ganz Berlin 56*01 qm betrug, ging bis 1890 *) nm 16 qm
nnd dann bis 1895 noch um rund 2'5 qm zurück. Die Fläche betrug nach
unserer Berechnung 1901 bei rund 1880000 Einwohnern Berlins nur noch
33*37 qm. Wenn auf weite Stadtgebiete, wie in der Luisenstadt jenseits
des Kanals und im Spandauer Viertel, diese Zahl in der Tabelle 14 auf 16
und 18 qm sinkt, so kann man in der Tat von einer Zusammenpferchung
der Bevölkerung daselbst sprechen. Wenn in derselben Tabelle das Königs-
viertel mit 83 qm und der Wedding mit 77 qm günstig erscheinen, so ist
dabei zu berücksichtigen, daß größere Flächen dieser Stadtteile überhaupt
noch nicht bebaut sind.
Auf 1 ha Stadtfläche kamen:
in der Luisenstadt jenseits des Kanals in 1890 .... 604 Bewohner 8 )
in einzelnen Arbeitervierteln Berlins in 1890 . . bis 822 „
in London (nicht dem Outer London) durchschnittl. in 1891 138 „
Wien verdankt seine günstige Bevölkerungsdichtigkeit (auf die ganze
Stadtfläche bezogen, Tabelle 14) meist dem Umstande, daß die Stadt so große
Parks und öffentliche Gärten, wie den Prater (1712 ha) 8 ), den Augarten,
den Stadtpark (145 ha) und zahlreiche große fürstliche Parks besitzt, und
*) In London kamen 1891 bei 4211056 Einwohnern und bei 304 qkm Flächen¬
inhalt 72 qm Stadtfläche auf je einen Bewohner. Die Fläche für Berlin von
39*83 qm (1890) auf einen Bewohner erscheint der Fläche für London von 72 qm
(1891) gegenüber recht ungünstig. Für 1901 stellt sich die Fläche für London
bei 4 537 000 Einwohnern und 302 qkm Stadtfläche auf 66*6 qm auf den Einwohner.
In London finden sich an den Bändern der bebauten Stadtfläche innerhalb
des Stadtgebietes weniger unbebaute Flächen als in Berlin, wo der Band der
Stadtbebauung an mehreren Stellen noch ziemlich weit von der Weichbildgrenze
entfernt ist. Die Zunahme der Bevölkerung von Berlin (ohne Vororte) beträgt für
das Jahrzehnt 1890 bis 1900 19*3 Proz. (also 1*9 Proz. für das Jahr), von London
für das Jahrzehnt 1891 bis 1901 7*3 Proz. (für das Jahr 0*7 Proz.). Mithin wird
sich für die nächste Zeit die auf jeden Einwohner entfallende Stadtfläche für
Berlin von 33.37 qm erheblich mehr vermindern bis die für London von 66*6 qm
(beide Zahlen für 1901).
Die Flächenzahl für Paris der Tabelle von 31*87 qm auf einen Einwohner
(1890) würde sich erheblich höher stellen, wenn das tatsächlich zur Stadt gehörige,
aber nicht dazu gerechnete Bois de Boulogne mit 873 ha freier Fläche in das
Stadtgebiet eingerechnet wäre, wie dies mit der Fläche des Tiergartens für Berlin
geschehen ist.
*) „Berlin und seine Eisenbahnen“, a. a O., Tabelle S. 110 und Tafel 5.
•) Nach einem Stadtplan von Umlauft hat der Prater auch schon vor 1891
zum Stadtgebiet gehört.
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288
Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
Tabelle 14.
Bevölkerungsdiohtigkeit Berlins nach Stadtteilen 1 ).
ü
fc
©
2
8 tftndesamts bezirke
Auf einen Einwohner
kommen Quadratmeter Gesamtfläche
des Stadtteiles bzw. der Stadt
1880
1885
1890
1895
1
I. Berlin, Kölln, Dorotheenstadt,
Friedrichs werder.
3226
33 71
36*12
42 28
2
H. Friedrichstadt.
30*58
SO’96
31-36
34*44
3
HI. Untere Friedrich- und Schöne¬
berger Vorstadt (früher) . .
46*58
35*23
30*54
31*30
4
IV. Obere Friedrich- und Tempel¬
hofer Vorstadt.
58*87
44*42
32*95
30*80
5
V. a und b Luisenstadt jenseits
des Kanals.
23*76
20*55
1655
16-27
6
VL a und b Luisenstadt diesseits
des Kanals und Neukölln
20*09
21-15
21*17
2297
7
VH. a und b Stralauer Viertel . .
44*91
38*05
33*05
31*52
8
Vm. Königsviertel.
124*87
103-12
86*13
82-77
9
IX. Spandauer Viertel.
20*02
18*45
17-09
18-10
10
X. a und b Bosenthaler Vorstadt
58*28
47*36
37-60
30*96
11
XL Oranienburger Vorstadt . . .
37*09
32*07
27*08
25*69
12
XU. Friedrich Wilhelmstadt, Moa¬
bit, Tiergarten (früher) . .
149*86
104*89
61*89
53*32
13
XIH. Wedding.
161*96
126*02
91*86
76*71
Zusammen Berlin (ohne die
Wasserbevölkerung) ....
56*01
47-78
39*83
37*48
Wien (1880, 1890, 1895) . . .
160*32
135*04
117*87
Paris (1881, 1886, 1891) . . .
34*38
33*28
31-87
v
daß bei Niederlegung der Festungswerke ein breiter Gürtel von der Be¬
bauung freigehalten worden ist«
c) Baupolizei-Ordnung von 1887.
Für die Durchführung größerer Weiträumigkeit im Stadtinnern durch
baupolizeiliche Einwirkung bedeutet der Erlaß der Baupolizeiordnung für
den Stadtkreis Berlin vom 15. Januar 1887 den Anfang durchgreifender
Maßnahmen. Durch diese Bauordnung wurde das Maß der Bebauungsfläche
der Grundstücke und die Höhe der auszuführenden Bauten erheblich gegen
früher eingeschränkt. Die bebaubare Fläche der Grundstücke, für die bisher,
abgesehen von der vorgeschriebenen Hofgröße, keine Einschränkung be¬
standen hatte, wurde im wesentlichen bei vorher nicht bebaut gewesenen
Grundstücken durch die neue Bauordnung auf zwei Drittel der Grundstück¬
fläche festgestellt. Das Mindestmaß für die Fläche des bei Bebauung der
l ) Die Tabellen 13 und 14 sind dem Werke „Berlin und seine Eisenbahnen*,
Bd. 1, 8. 111 u. 112, entnommen. Die im Jahre 1880 erfolgte Eingemeindung
des Tiergartens (rund 250 ha) ist darin nur bei dem Gesamtergebnis für Berlin
berücksichtigt. Für Wien ist die Fläche des Stadtgebietes vor 1891 (5540 ha) zu¬
grunde gelegt.
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284
Th. Oehmcke,
Grundstücke freizulassenden Hofes wurde erheblich erhöht, nämlich von
5*34 m X 5*34 m = 28*5 qm der früheren Festsetzung auf 60 qm.
Die nach Erlaß der neuen Baupolizei - Ordnung entstandenen neuen
Stadtteile weisen, wie es namentlich der Anblick der größeren Höfe in den¬
selben erkennen läßt, auch nach dem Augenschein eine merkbar größere
Weiträumigkeit auf als die älteren Stadtteile. Zu Ungunsten dieser letzteren
haben diese neuen Stadtteile vielfach eine starke Anziehungskraft auf die
Wohnungsuchenden ausgeübt. So dankbar die Wirkungen der Baupolizei-
Ordnung von 1887 anzuerkennen sind, kann doch nicht verkannt werden,
daß die Gefahren des Zusammendrängens der Bevölkerung durch sie nicht
beseitigt sind, worauf wir später noch zurückkommen, auch nicht beseitigt
werden konnten, wollte man nicht durch die Bauvorschriften in gewaltsamer
Weise in die bestehenden privaten Besitzverhältnisse eingreifen.
An die Stelle der Baupolizei - Ordnung von 1887 trat später die vom
15. August 1897, welche indessen keine sehr einschneidenden Änderungen
herbeiführte.
d) Wachstum der Vororte Berlins.
Wohl zeitlich die erste umfassende Gegenwirkung, welche die Zusammen-
drängung der Bevölkerung der einzelnen Stadtviertel Berlins hervorrief,
war die Entstehung seiner Vororte. Die eigentlichen Vorort-Gründungen
beginnen mit der zunächst nicht geglückten von Westend. Fau eher führt
an, daß die bald nach 1865 erfolgte Gründung dieses Vorortes anscheinend
auf Anregung des im Jahre 1865 erschienenen ersten Teiles seiner mehr¬
erwähnten Schrift erfolgt wäre.
Die zeitlich etwa an zweiter Stelle stehenden, zur Bekämpfung der Be¬
völkerungsüberlastung des Berliner Stadtbezirks dienenden bzw. zu diesem
Zwecke ergriffenen Mittel waren: die von den Stadtbehörden begünstigte
Ausbreitung der Straßenbahnen und der von der staatlichen Verwaltung
gepflegte Bau der Eisenbahnen für den Nahverkehr.
Tabelle 15.
Es betrug die Bevölkerung von Berlin bzw. diejenige der im
vormaligen weiteren Polizeibezirke gelegenen Vororte 1 ):
Datum
Bevölkerung
von Berlin
Zunahme
Prozent
Bevölkerung
der Vororte
Zunahme
Prozent
3.
Dezember 1858 .
458 637
—
30 450
—
1 .
1871.1
826 341
80
57 676
90
1 .
„
1875 .
966 858
17-1
103 949
80*2
1 .
1880 .
1 122 330
16*2
123 333
1 18*6
1.
1885 .
1 315 287
17-5
163 546
32*5
1 .
r
1890 .
| 1 578 794
20*0
268 507
64-3
2.
1895 .
1 677 135
6*2
| 434 588
i 61*7
l ) Die Tabelle ist entnommen aus dem genannten Werk: „Berlin und seine
Eisenbahnen“. Zum vormaligen weiteren Polizeibezirk gehörten; Oharlottenburg,
Wilmersdorf, Sohmargendorf, Schöneberg, Friedenau, Steglitz, Tempelhof, Rixdorf,
Britz, Treptow, Niederschön weide, Ostende, Stralau, Rummelsburg, Friedriohsfelde,
Biesdorf, Lichtenberg, Hohen- und Niederschönhausen, Weißensee, Heinersdorf,
Pankow, Reinickendorf und Tegel.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
Wie lebhaft
die Entwickelung
der V ororte, welche
ja auch aufs engste
mit der Entwicke¬
lung der eben er-
wähnten Verkehrs¬
mittel zusammen¬
hängt, war, dürfte
aus Tabelle 15 er¬
sichtlich sein. Bei
den Zahlen dieser
Tabelle,welche das
schnelle Wachs¬
tum der Vororte
darstellen, ist
allerdings zu be¬
rücksichtigen, daß
die volkreichsten
Teile der größe-
sten dieser Vororte
wegen ihres tren¬
nungslosen Zu¬
sammenhangs mit ^
Berlin, und da sie ^
bezüglich der Höhe
der Häuser u. dgl.
dasselbe Gepräge
wie Berlin haben,
jetzt mit diesem
ein einheitliches
Ganzes bilden,
wenn sie auch dem
Namen nach nicht
dem Stadtbezirk
Berlin angehören,
ln diesem Sinne
ist ein großer Teil
des durch jene
Zahlen dargestell¬
ten bedeutenden
Wachstums der
Vororte auch als
Wachstum Berlins
anzusehen.
Unter den an¬
gegebenen Um¬
ständen erfreuen
285
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Teile der Berliner Vororte Steglitz und Südende, von Süden gesehen,
Erbaut im wesentlichen nach der Baupolizei-Ordnung von 1892.
286
Th. Oehmcke,
sich diese Vororte durchaus nicht in überwiegendem Maße einer wirklich
weiträumigen oder gar landhausmäßigen Erscheinung ihrer Straßen und
Häuser — wir erwähnen nur die in die Hauptstadt aufgehenden Teile von
Charlottenburg und Schöneberg. Für die Arbeiterstadt Rixdorf konnte unter
den obwaltenden Verhältnissen eine lockere Bauweise überhaupt nicht in
Frage kommen. Wesentlichen Eintrag hat es der Festhaltung weiträumiger
Bebauung für größere Gebiete der Vororte getan, daß die offene Bauweise
erst etwas verspätet den Schutz der behördlichen Vorschriften erfuhr. Durch
die im Jahre 1887 für einen größeren Teil der Vororte getroffenen Ma߬
nahmen und durch die Bestimmung, daß daselbst entweder an der Nachbar¬
grenze oder mit einem Wich von 6 m (statt früher 2*5 m) gebaut werden
müsse, wurde, entgegen der Absicht des Gesetzgebers, bis zum Erlaß der
Vororte-Bauordnung von 1892 die offene Bauweise mehr gehemmt als be¬
fördert.
Für 1895 entfallen von den 434 588 Vorortbewohnern der Tabelle zu¬
sammen rund 255 000 auf Charlotten bürg, Schöneberg und Rixdorf, deren
Bauart in ihren größten Teilen nur noch wenig von der gedrängten Bauart
Berlins abweicht 1 ).
Eine weitere Anzahl von Vororten weisen ein unerfreuliches Gemenge
von Mietshäusern mit hoben Brandgiebeln und von Landhäusern auf (vgl.
Abb. 2 a. v. 8.).
ln einem Teile der Vororte wurde allerdings von vornherein in ganz
überwiegendem Maße an der landhausmäßigen Bebauung festgehalten, und
zwar vornehmlich dank der von den betreffenden Gründungs-Baugesell¬
schaften den einzelnen Grundstückskäufern auferlegten und im Grundhuche
eingetragenen bezüglichen Baubeschränkungen.
e) Verkehrsmittel.
Ermöglicht worden ist die bedeutende Entwickelung der Vororte nur
durch die Entwickelung eines umfassenden Netzes von Straßenbahnen und
besonders von Eisenbahnen für den Nahverkehr. Im Jahre 1872 wurden die
Ringbahn, am 7. Februar 1882 die den Osten mit dem Westen Berlins ver¬
bindende Stadtbahn dem Verkehr übergeben. An letzterem Zeitpunkt wurde
auf dieser und auf der Ringbahn ein Nahverkehr mit häufiger Zugfolge
eröffnet.
Nicht für die Vororte allein ist das Jahr der Eröffnung des Verkehrs
auf der Stadtbahn, deren Bau als Privatunternehmen begonnen, dann aber
vom Staate übernommen und durchgeführt wurde, von grundlegender Be¬
deutung gewesen. Auch für die Umgestaltung der Hauptstadt in ihrer
äußeren Erscheinung bedeutet dies Jahr nach vielen Richtungen hin einen
l ) Nach einer Zeitungsnachricht ist es in einem neueren Hefte der Charlotten¬
burger Statistik ausgeführt, wie das Ergebnis einer kürzlichen Grundstücksauf¬
nahme in den westlichen Vororten den Übergang vom Landhaus zur Mietskaserne
erkennen lasse. Im Jahre 1885 kamen danach in Charlottenburg nur 29 Ein¬
wohner auf ein Grundstück. 1890 bereits 41, 1900 sogar 90. Günstigere Verhält¬
nisse zeigen die anderen westlichen Vororte: In Wilmersdorf kamen Ende 1900
43 Einwohner auf ein Grundstück, in Friedenau 29, in Schmargendorf 23, in der
Villenkolonie Grünewald 11.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
287
Merkstein. Indem die Stadtbahn nach umfassenden Teilen der Stadt einen
bis dahin nicht gekannten Verkehr leitete, bot sie der Stadtverwaltung zur
Verbesserung des Stadtplanes und zur Beseitigung unzeitgemäßer Stadt¬
viertel vielfach den Anlaß.
Von den zahlreichen damals eingeleiteten bzw. durchgeführten Straßen-
durchlegungen seien nur genannt: das mit einem Kostenaufwande von
11 Millionen Mark in den Jahren 1877 bis 1887 durchgeführte, einer Bau-
gesellschaft übertragene Straßenunternehmen der Kaiser Wilhelmstraße,
sodann die Parallelstraße „An der Stadtbahn u , die Verbreiterung des Mühlen¬
damms, sowie die Durchlegung der Zimmerstraße nach der Königgrätzer-
straße. In den nächsten fünf Jahren, d. h. bis 1908, sollen nach einem
von den staatlichen Aufsichtsbehörden bereits genehmigten Beschluß der
städtischen Körperschaften von einer zur Erweiterung der städtischen Be¬
triebsanlagen und zu sonstigen baulichen Zwecken aufzunehmende Anleihe
von 228 Millionen Mk. 36 301000 Mk. für Straßendurchlegungen und Ver¬
breiterungen verwandt werden, darunter 11*3 Millionen für die Beseitigung
des sogenannten „Scheunenviertels“ und 9’9 Millionen für die Verbreiterung
der Landsberger Straße.
Von wesentlicher Bedeutung für die Entwickelung der Vororte und
Berlins war sodann die 1891 eröffnete neuere Wannseebahn, welche der alten
Stammbahn hinzugefügt wurde. Sie verbindet die bedeutenden südwest¬
lichen Vororte und Potsdam mit Berlin und wurde gleich in der Anlage
nur für den Nahverkehr gebaut. Außer Ring-, Stadt- und Wannseebahn
wurden eine Anzahl kleinerer Linien für den Nahverkehr, teils unter Be¬
nutzung der vorhandenen Fernbahnen, eingerichtet, teils neu gebaut (vgl.
den ÜberBichtsplan Abb. 3 a. f, S.).
Die staatliche Verwaltung schuf alle diese Schnellverkehrsmittel in der
— wie in dem Werke „Berlin und seine Eisenbahnen“ betont ist — be¬
stimmten Absicht, durch Förderung des Emporblühens der Vororte die Stadt
selbst baulich zu entlasten, und in ihr der Wohnungsnot sowie dem Zu¬
sammendrängen der Menschen und Häuser Einhalt zu tun.
Die Art der Entwickelung der Vororte, deren Wachstum in hohem
Grade von ihrer Lage zu den Vororteisenbahnen bedingt ist, hatte bald er¬
kennen lassen, daß unter den Verhältnissen einer Stadt von der Größe
Berlins, Schnellverkehrsmittel, wie nur die Eisenbahnen es sind, für die
Entwickelung von Vororten, die zur Entlastung der Stadt mit Erfolg bei¬
tragen sollen, die wesentlichste Vorbedingung seien 1 ).
Weitere vollspurige Eisenbahnen außer der Stadtbahn durch das überall
l ) Dem Vernehmen nach beschäftigt die Eisenbahnverwaltung zur Zeit die
Erwägung über die Einführung von Vorort-Schnellzügen, die von den Interessen¬
vertretungen einzelner Vororte neuerdings angestrebt werden. Auf dem Stadt¬
eisenbahnnetz von London und seiner Umgebung verkehren schon seit geraumer
Zeit zwischen den bedeutenderen Vororten und den Hauptbahnhöfen der Stadt in
größerer Anzahl Vorortzüge ohne Aufenthalt auf den Zwischenstationen. In dem
Vorortverkehre Berlins sind bisher nur vereinzelte derartige Verbindungen ein¬
gerichtet.
Einen erheblichen Fortschritt würde die Einführung des elektrischen Betriebes
für die dem Nahverkehr dienenden Volleisenbahnen Berlins bedeuten, welcher
Betrieb für zwei Strecken schon probeweise eingerichtet ist.
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Abb. 3
Th. Oehmcke,
dichtbebaute Stadtinnere zu führen, ist wegen der Höhe der Granderwerbs¬
kosten nicht möglich. Um weitere Schnellverkehrsmittel, wie sie für die
bauliche Entlastung der Stadt ebenso unerläßlich geworden sind, wie für
die Bewältigung des außerordentlich starken Verkehrs zu schaffen, wird
man auf den Bau von Untergrund- und Hochbahnen, wie eine solche in
der elektrischen Hoch- und Untergrundbahn schon entstanden ist, oder
ähnlicher Bahnen, angewiesen sein.
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Gesundheit und weiträumige Stadtbebauung.
289
f) Wirkung der ergriffenen Maßnahmen zur Entlastung des Stadtinnern
im einzelneu.
An der Hand der Tabelle 14 haben wir feststellen müssen, daß die
Bevölkerungsdichtigkeit des Stadtbezirks von Berlin im Gesamtdurchschnitt
noch stetig zunimmt. Vergleichen wir diese Zunahmen indessen von
Jahrfünft zu Jahrfünft, so sehen wir, daß sie geringer werden. Bei den
Zahlen der Bevölkerungsdichtigkeit für die einzelnen Stadtteile sehen wir
sogar, daß diese Zahlen für einige Stadtteile abnehmen. Es betrifft dieses
die Bezirke des Kernes des Stadtinnern, während die Zahlen der Bevölke¬
rungsdichtigkeit der Außenteile des Stadtbezirks durchweg zunehmen. Diese
Abwanderung der Bevölkerung aus dem eigentlichen Berlin — dem Berlin
innerhalb der früheren Stadtmauer — nach den Weichbildgrenzen hin hat
sich schon 1895 bestimmt bemerkbar gemacht.
Diese Wendung zum Besseren in den Wohnverhältnissen der Stadt, die
außer der Einwirkung der erlassenen Baupolizei-Verordnungen eine Anzahl
von Ursachen hat, dürfte in der Hauptsache auf die Verbesserung der Ver¬
kehrsmittel, auf das Emporblühen der Vororte und auf die größere An¬
ziehungskraft der Wohnungen in den neueren Außenteilen des Stadtbezirkes,
welche, der Bauordnung von 1887 gemäß, weiträumiger gebaut sind, zurück¬
zuführen sein.
Abb. 4.
Hinteransicht einer Mietshäuserreihe in Moabit.
Erbaut im Jahre 1895.
Sind die Bevölkerungs- und Wohnverhältnisse Berlins also in der Ge¬
sundung begriffen — wozu ja auch die erwähnte rege Tätigkeit auf dem
Gebiete der Straßendurchlegungen beiträgt — so sind sie allerdings noch
weit davon entfernt, befriedigende zu sein. Dem Mietskasernentum als
solchem wurde durch die Baupolizei - Ordnung von 1887 Abbruch nicht
getan. Als Bestätigung hierfür diene die dem Werke „Berlin und seine
Eisenbahnen“, S. 106, entnommene Abb. 4, welche einen Begriff von der
nicht seltenen Ausschlachtung von Baugeländen in Berlin gibt.
Vierteljahrsschrift für Gesundheitspflege, 1904. 29
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Th. Oehmcke,
g) Gestaltung der Vororte im einzelnen und Baupolizei - Ordnung für die
Vororte von Berlin von 1892.
Auf die bauliche Gestaltung der Vororte, die wir bei Gelegenheit des
Wachstums derselben schon berührt haben, haben die Baupolizeivorschriften
einen weitgehenden Einfluß ausgeübt. Hatte die Übertragung der Bau¬
polizei-Ordnung für Berlin selbst von 1887 auf eine